In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch verlor die University of Miami im Champs Sports Bowl mit 14:20 gegen Wisconsin. College Football, ziemlich große Bühne. Mit dabei ist auch Chris Hayes. Es ist sein letztes Spiel für Miami. Obwohl der Receiver in vier Jahren keinen einzigen Pass fing, ist er ein wichtiger Bestandteil der Hurricanes. Selbst "ESPN" berichtete bereits über den unscheinbaren Jungen aus Florida.
Chris Hayes hat einen Traum. Er will Football spielen. Am liebsten für die University of Miami. Das wollte er schon immer. "Seit meinem ersten Jahr an der High School habe ich davon geredet", so Hayes zu "ESPN". "Doch meine Freunde hielten mich alle für verrückt."
Kein Wunder. Denn Hayes hat noch nie in seinem Leben gespielt. Seine High School hat nicht einmal ein Football-Team. Jedenfalls so lange nicht, bis er die Verantwortlichen persönlich dazu überredet. Gegründet wird es allerdings erst nach seinem Abschluss. Zu spät, um sich den College-Scouts zu empfehlen. Hinzu kommt, das Hayes mit 1,75 Metern und knapp 70 Kilogramm auch nicht gerade eine klassische Football-Statur hat.
Fußball, Baseball, Leichtathletik: da passt er rein. Und da ist er sogar ziemlich gut. Legt als Pitcher den ersten No-Hitter der Schulgeschichte hin. Aber College Football? In Miami? Dort, wo normalerweise nur die besten High-School-Spieler des Landes unterkommen?
Mehr als nur unwahrscheinlich.
"Die bringen ihn doch um"
Doch Hayes, der die ersten sechs Jahre seines Lebens in London verbrachte, lässt sich nicht entmutigen. Im Herbst 2006 schreibt er sich an der University of Miami ein. Um Filmwissenschaften zu studieren. Und, um einfach so zum Probetraining der Hurricanes gehen zu können. "Wir haben nur gedacht 'mach ruhig'", sagt seine Mutter Kathie.
Wie jeder andere rechnet auch sie nicht damit, dass Hayes auch nur den Hauch einer Chance hat. Doch er hat. Mehr als das. Er schafft es auf Anhieb ins Team. Nur sechs Spieler werden pro Jahr nach einem Probetraining aufgenommen. Er ist einer von ihnen. Er ist jetzt ein Receiver. Ohne auch nur ein einziges echtes Football-Spiel bestritten zu haben.
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Seine Mutter ist schockiert: "So etwas kann einfach nicht passieren. Die bringen ihn doch um", sagt sie und braucht einen Therapeuten. Chris ist begeistert. Er lebt seinen Traum.
Fast. Denn er ist lediglich ein Walk-On. Ein lebendiger Trainings-Dummy. Einer, der Studiengebühren dafür bezahlen muss, sich von den Stars im Training ausspielen zu lassen. Bälle aufzusammeln. Trainingspläne zu kopieren. "Das Leben als Walk-On ist brutal", sagt Hurricanes-Head-Coach Randy Shannon. "Da muss man Football sehr lieben."
Hayes wird zur Seele des Teams
Genau das tut Hayes. Er verpasst kein Training, kein Team-Meeting, nichts. Ganz im Gegenteil. Er ist immer einer der ersten auf dem Platz - und einer der letzten, der geht. "In meiner gesamten Zeit hier habe ich nie einen Spieler härter arbeiten sehen", sagt Hurricanes-Punter Matt Bosher, der seit zwei Jahren mit Hayes trainiert.
Trainiert. Nicht spielt. Denn an Samstagen darf Hayes oft nicht einmal mitfahren.
Doch das interessiert den rotblonden Jungen aus Sarasota, Florida nicht. Er arbeitet unbeirrt weiter und verdient sich den Respekt von Teamkollegen und Trainern. Wird vom Nobody zum Team-Liebling. "Chris ist ein harter Hund. Er gibt alles. Immer. Vielleicht sogar mehr als unsere anderen Spieler", lobt Special-Teams-Coordinator Joe Pannunzio.
Kurz: Chris Hayes wird zur Seele des Teams. Er sorgt für Stimmung. Erinnert seine Mitspieler daran, wie wichtig es ist, in jedem Training alles zu geben. Ist Teil der Football-Familie. Und er arbeitet an seiner Chance, will bald als Holder bei den Kicks aufs Feld.
Ein tragischer Anruf
Doch plötzlich ist alles anders. Durch diesen einen Anruf im Oktober 2008. Es ist ein Montag. Am anderen Ende ist seine Mutter. Mit einer Nachricht, die er nicht begreifen kann. Sein Vater ist tot. Selbstmord. Weitere Details sollen nie bekannt werden, so Hayes.
Sein Team bereitet sich da gerade auf das Spiel gegen Wake Forest vor. Doch das ist unwichtig. Hayes lässt sich freistellen, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Die Hurricanes unterstützen ihn. Trösten. Sorgen dafür, dass er sicher zu Hause ankommt.
Und sie tun alles, damit er diesen Schicksalsschlag so schnell wie möglich überwindet. Sie bieten ihm an, beim Wake-Forest-Spiel im Dolphin Stadium dabei zu sein. In kompletter Ausrüstung und bereit für den Einsatz. "Genau das habe ich gebraucht", sagt Hayes heute. "Eine Möglichkeit, aus dem Tief zu entkommen. Eine willkommene Flucht."
"Verdammt, ich habe geweint"
Am Morgen des Spiels lässt er sich von einigen Freunden die drei Stunden von seinem Heimatort nach Miami fahren. Direkt zum Stadion. Jedenfalls fast. Denn sie verfahren sich. Erst eine Stunde vor dem Kickoff ist Hayes beim Team.
Seine Mitspieler erwarten ihn bereits. "Sie legten die Arme um ihn, drückten ihn", sagt Pannunzio. "Chris hat geweint. Einige unserer besten Spieler haben geweint. Verdammt, selbst ich habe geweint."
Das Video zur Chris-Hayes-Story bei ESPN
"Wenn einem Spieler, einem Mitglied unserer Familie, so etwas zustößt, dann musst du ihm die Hand reichen", sagt Left Tackle Jason Fox. "Wir hätten alles für ihn getan."
Chris Hayes will aber nur das Eine. Spielen.
Der große Auftritt des Chris Hayes
Der große Moment kommt wenige Sekunden vor dem Abpfiff. Miami führt 16:10 - und hat noch einen letzten Spielzug. Pannunzio schnappt sich Hayes und schickt ihn aufs Feld. Als Tight End. Es ist sein erstes echtes Football-Spiel in seinem gesamten Leben.
Sein Gegenspieler: Wake Forests Star-Linebacker Aaron Curry, der später von den Seattle Seahawks als vierter Spieler des 2009er Drafts in die NFL geholt wird. "Ich dachte nur: Wenn der mit voller Wucht kommt, habe ich ein Problem", so Hayes. Vor lauter Aufregung vergisst er sogar seinen Mundschutz anzulegen. "Verdammt", denkt Pannunzio. "Ich werde Schlagzeilen machen - als der Mann, der diesen armen Jungen umgebracht hat."
Doch niemand bringt Chris Hayes um. Als Quarterback Robert Marve den Ball bekommt, geht er auf die Knie. Das Spiel ist vorbei. Und die Miami Hurricanes feiern ihren Helden.
Sie tragen Hayes auf den Schultern durchs Stadion. Später klettert er auf die Tribüne zu seiner Mutter. Beide liegen sich in den Armen. In der Kabine schenkt ihm Head Coach Randy Shannon den Spielball. Den, den der Spieler des Spiels behalten darf.
"Das Team hat mich da durchgebracht"
"Das hat uns über die schlimmste Zeit in unserem Leben hinweggebracht", sagt Kathie Hayes. Chris meint: "Ich habe mich immer gefragt, warum ich ins Team gekommen bin. Jetzt weiß ich es. Sicher nicht wegen meiner sportlichen Fähigkeiten. Ich bin hier, um dem Team zu helfen. Und sie mir. Ich war ein Wrack. Sie haben mich da durchgebracht."
Mittlerweile hat sich Hayes als Holder der Hurricanes etabliert. Und selbst wenn er als Receiver noch immer nicht regelmäßig auf dem Platz steht, ist er ein wichtiger Teil der University of Miami. Er ist der dortige Vorsitzende der größten Studentenverbindung der USA und außerdem für den Rudy-Award nominiert. Mit ihm werden Spieler mit besonderen Geschichten ausgezeichnet.
Geschichten wie die von Chris Hayes.