Der ganze Schlamassel begann am 6. Oktober 1945.
An diesem Tag kam ein gewisser William "Billy Goat" Sianis an die Tore des Wrigley Fields. Es stand das vierte Spiel der World Series zwischen den Cubbies und den Detroit Tigers an, das Heimteam führte 2-1, und Sianis, Besitzer der "Billy Goat Tavern", hatte sein Kneipenmaskottchen als Glücksbringer mitgebracht - einen etwas streng riechenden Ziegenbock.
Dummerweise waren Tiere in Wrigley nicht erlaubt. Selbst Proteste von Sianis in Richtung Cubs-Eigentümer P.K. Wrigley halfen nicht, weil "der Bock stinkt". Der Legende nach stieß der wütende Grieche mit hoch erhobenen Händen daraufhin die Worte aus: "Die Cubs werden nicht mehr gewinnen. Sie werden nie mehr die World Series gewinnen, so lange der Bock Wrigley Field nicht betreten darf." Der Fluch des Ziegenbocks war geboren. Und das nur, weil sich ein etwas unliebsam müffelnder Hennes-Vorläufer nicht unter die 38.396 Fans mischen durfte.
Wie wirksam ein solcher Fluch ist, zeigt sich bekanntlich erst hinterher. Der Hinweis, dass der "Curse of the Billy Goat" bis heute seinen Platz in der Chicaco-Cubs-Folklore sicher hat - und mit einer Reihe aufwendiger Zeremonien mehrfach erfolglos aufgehoben wurde - sollte Aufschluss darüber geben, wie gut William Sianis sein Handwerk verstand. Denn mittlerweile warten die Chicago Cubs seit sage und schreibe 106 Jahren auf einen Titel.
"Lovable Losers"
Ob nun "Billy Goat" oder nicht: Die Cubs verloren die World Series 1945 noch mit 2-4 und verwandelten sich über die folgenden Jahrzehnte in die bemitleidete Lachnummer der MLB. Das älteste noch aktive Team aller großen US-Sportarten blickt auf mittlerweile 144 Jahre Geschichte und zwei Meisterschaften zurück - doch die letzte ist eben auch schon ein bisschen her. Es ist die längste Titelflaute überhaupt, und in den 69 Jahren nach dem Billy-Goat-Desaster war man nicht ein einziges Mal das beste Team der NL.
So verwandelte sich die stolze Franchise, die mit Wrigley einen majestätischen, fast ebenso traditionsreichen Ballpark im Herzen der Windy City ihr Zuhause nennt, über die Jahre in die "Lovable Losers", liebenswerte Verlierer. Bemitleidet statt gefürchtet. Für Erfolg sind andere Teams verantwortlich - und sogar die White Sox, der verhasste Stadtrivale aus dem Süden, hatte seine Titelflaute 2005 nach 88 Jahren endlich beendet.
An Herzschmerz mangelte es den Cubs nie - man denke nur an das Steve-Bartman-Fiasko 2003, als gerade einmal fünf Outs zur World Series fehlten -, dafür jedoch lange an kompetentem Führungspersonal und einem klaren, langfristigen Plan. Das änderte sich erst, als die Franchise 2009 von der Chicago Tribune für 900 Millionen Dollar an den Investmentbanker Tom Ricketts verkauft wurde. Und der zwei Jahre später einen neuen starken Mann präsentierte.
Moneyball gegen den Fluch
Theo Epstein sollte der neue President of Baseball Operations in Chi-Town heißen. Nicht nur ein brillianter Analyst und Baseball-Experte, sondern auch eine Verpflichtung mit Symbolcharakter. Schließlich war es Epstein, der 2002 im Alter von gerade einmal 28 Jahren General Manager der Boston Red Sox geworden war. Ein Team, welches bis dato seinerseits an Flüchen und Dekaden ohne Titel gelitten hatte.
Mit dem "Moneyball"-hörigen Epstein brachte man frischen Wind in die Organisation - und schaffte es, ein ohnehin starkes Team innerhalb von zwei Jahren zur ersten Meisterschaft seit 86 Jahren zu führen. Würde er dieses Wunder auch für die sympathischen Loser am Lake Michigan vollbringen können? Am Geld sollte es nicht scheitern: Mit einem Fünfjahresvertrag über insgesamt 18,5 Millionen Dollar wurde Epstein aus Boston gelockt.
Für den neuen Team-Architekten war es vor allem die persönliche Herausforderung, die ihn dazu bewog, das Angebot anzunehmen. "Dass die Cubs die World Series jetzt schon 104 Jahre nicht mehr gewonnen haben, macht es zu einem ganz besonderen Ziel", erklärte er nach seiner Verpflichtung im Herbst 2011. "Die Möglichkeit, ein Teil dieser Organisation zu sein und die Geschichte umzuschreiben, hat mich gereizt."
Erst einmal von vorn anfangen
Damit war der Heilsbringer gefunden - doch der bereitete sein Volk erst einmal auf eine sportliche Hungersnot vor. Wo in Boston noch die sportliche Infrastruktur, die nötigen Talente und auch die Superstars vorhanden waren, bot sich 1.400 Kilometer westlich ein trostloses Bild: Alte, überbezahlte Stars, kein Unterbau, schlechtes Scouting. "Deshalb wird es unsere erste Aufgabe sein, einen Kern junger Spieler zu bilden, um den wir ein Team aufbauen können, welches dann über Jahre gewinnen kann" erklärte er. "Und das alles beginnt mit effektivem Scouting und Development."
Deshalb wurde ausgemistet. Aramis Ramirez? Carlos Zambrano? Weg. An ihrer Stelle wurden junge Talente verpflichtet, Draft Picks geholt, das Farm System aufgestockt, die Payroll entschlackt. Der Weg ins gelobte Land musste durch die Wüste führen. "Das war nicht schwer vorauszusagen. Wir haben uns das Team angeschaut und gesehen, dass wir uns in einer schwierigen Lage befinden. Wir mussten von vorn anfangen", erklärte Epstein im Juli 2014 gegenüber NBCSports.
"Tanking"?
Also ein paar Jahre "Tanking", wie es in der NBA gang und gäbe ist und mittlerweile von Franchises wie den Philadelphia 76ers auf die Spitze getrieben wird? Nicht ganz. Durch die fehlende Salary Cap ergibt sich in der Major League Baseball eine andere Dynamik - jeder GM kann theoretisch so viel Geld für Superstars in die Hand nehmen, wie er möchte. Außerdem sind die Draft Prospects schwerer vorherzusagen - und die Struktur des Sports ist nicht dafür geschaffen, mit einem oder zwei Superstars von der Lachnummer zum Contender aufzusteigen.
Dennoch lässt sich mit guten Picks, einem gut geführtem Farm Team und stark herangeführten Prospects eine Menge bewegen - gerade die gedrafteten Spieler stehen in der MLB länger unter Vertrag, sind dafür aber billiger. Das Problem: Es braucht Zeit. Gerade wenn man sich wie Epstein auf dem Free Agent Market zurückhält, und bei Superstars wie Prince Fielder oder Albert Pujols nicht mitbietet.
Bis es soweit ist, lässt das Produkt auf dem Diamond und im Outfield natürlich zu wünschen übrig. 2012 wurden 101 der 162 Saisonspiele verloren, 2013 noch 96. 2014 "immerhin" nur noch 89. Von den Playoffs war natürlich immer noch nicht zu träumen - und die Fans wurden unruhig. "Sie haben das Gefühl - und zwar zurecht - dass sie schon genug erduldet haben", wusste Epstein. "Also fragen sie: 'Warum bürdest du uns davon noch mehr auf?' Und darauf habe ich keine Antwort, bis auf: Es ist der einzige Weg, mit dem wir einmal gewinnen werden."