Legenden-Serie: Reggie Miller - Der Staatsfeind Nr. 1

Martin Klotz
24. August 201812:38
Die Definition von Clutch: Reggie Miller und sein Dreiergetty
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Madison Square Garden, New York, 26. Februar 2005: "Re Geee! Re Geee! Re Geee!" Das Spiel zwischen den Knicks und den Pacers ist noch nicht vorbei, da wird Reggie Miller bereits gefeiert. Und zwar nicht von den Pacers-Fans in der Arena, sondern von den Anhängern aus New York. Dass Indianas Shooting Guard bei seinem letzten Auftritt im MSG diese Ehre verdient, ist allen Zuschauern klar. Trotzdem ist der Applaus nicht selbstverständlich - nach all dem, was Uncle Reg den Knicks angetan hat. Miller wird heute 53 Jahre alt.

Millers individuelle Erfolge zeichnen den Weg eines außergewöhnlichen Spielers nach: Fünfmal wird der heute 53-Jährige ins All-Star-Team berufen, 1994 gewinnt er als zweitbester Scorer hinter Shaquille O'Neal mit dem Team USA die Weltmeisterschaft. Zwei Jahre später folgt Gold bei Olympia in Atlanta. In der All-Time-Scoring-List der NBA belegt Miller mit 25.279 Punkten den 20. Rang.

Als einer von nur sieben Spielern in der Geschichte der Liga steigt er in den elitären 50-40-90 Klub auf. Das Kunststück, eine Wurfquote von 50 Prozent, eine Dreierquote von 40 Prozent und eine Freiwurfquote von 90 Prozent zu erzielen, gelingt Miller in der Saison 93/94.

Vor Beginn seiner langen Karriere sah es aber nicht danach aus, als würde aus Reginald Wayne Miller überhaupt ein Sportler werden. Aufgrund einer angeborenen Hüft-Fehlstellung musste er als Kind fünf Jahre lang Beinschienen tragen. Seine Ärzte prognostizierten, dass er nie ohne Hilfe werde gehen können. Aber Miller war schon damals ein Kämpfer und konnte bald mehr als das.

Die Schwester als Gegnerin

In einer sportlichen Familie half ihm der Wettbewerb mit seinen älteren Geschwistern, die verlorenen Jahre aufzuholen. Das tägliche Eins-gegen-eins mit Cheryl, die zu einer der besten Basketballerinnen der US-Geschichte wurde, hatte auch Auswirkungen auf Reggies Spiel. So trainierte er sich beim Wurf eine ungewöhnlich hohe Flugkurve an, um den Blocks der großen Schwester zu entgehen.

Nach dem Besuch der Riverside High School in seinem Geburtsort im kalifornischen Süden, schaffte Miller den Sprung an die UCLA. In seinem letzten Jahr bei den Bruins wurde in der NCAA die Dreierlinie eingeführt - Miller lernte sie von Anfang an lieben und traf zum Einstand 44 Prozent von Downtown.

Als zweitbester Scorer der College-Historie hinter einem gewissen Kareem Abdul-Jabbar und mit einem Abschluss in Geschichte in der Tasche machte sich der 22-jährige Miller 1987 auf den Weg in die NBA. Die Pacers wählten den schmächtigen Shooting Guard an elfter Position im Draft und gleich in seiner ersten Saison knüpfte Miller dort an, wo er am College aufgehört hatte - er versenkte Dreier. 61 Stück um genau zu sein: Rekord für einen Rookie und der Beginn einer großen Shooter-Karriere.

Der Dreier war Millers Wurf. Insgesamt 2560-mal rauschte der Spalding in der NBA durch die Reuse, nachdem er seine Hand von Downtown verlassen hatte. Bis 2011 hielt sein Rekord, dann musste er den Spitzenplatz in den Geschichtsbüchern an Ray Allen abtreten.

Mr. Four-Point-Play

Eindrucksvoll war vor allem, die Art und Weise, wie Miller punktete: Immer wieder gelang es ihm, seine Gegenspieler an Blöcken abzustreifen und den langen Jumper über den heranstürmenden Verteidiger eiskalt zu verwandeln. Nicht selten wurde er dabei zusätzlich gefoult, wobei der Leg-Kick nicht ohne Grund untrennbar mit Miller verbunden ist.

Aber Reggie Miller versenkte nicht einfach nur Würfe - er zelebrierte sie. Eine Verbeugung für das Publikum hier, ein Luft-Küsschen für die Gegner da. Miller war ein Showman. Nicht nur in seinem eigenen Talk-Format, in dem der Pacers-Star Anfang der Neunziger in viel zu großen Anzügen über die Bildschirme flimmerte, sondern auch auf dem Parkett.

Ein Schnacker vor dem Herrn

"Reggie war einer der besten Entertainer und Darsteller der Sportwelt", so Journalist Ahmad Rashad: "Aber er war auch einer der besten Trash-Talker in der Geschichte der NBA. Und er war so gut darin, dass die gegnerischen Spieler schon eine Woche vor der Partie gegen die Pacers zueinander sagten: 'Lass Reggie nicht in deinen Kopf'. Und was passierte? Er war schon drin, als er nur 'Hallo' sagte und fragte, wie es dir heute geht."

Miller selbst beschrieb seine Aktionen so: "70 Prozent von dem Gerede auf dem Parkett war ausschließlich dafür da, um mich anzufeuern. Mit den anderen 30 Prozent versuchte ich, in die Köpfe der Gegner zu kommen." Diese Meinung über das Verhältnis von Motivation und psychologischer Kriegsführung vertrat Miller mit Sicherheit exklusiv.

Aber die Reaktionen der anderen Spieler zeigten, dass es funktionierte. Selbst Michael Jordan ließ sich von Miller aus der Fassung bringen und 1993 zu einem Faustschlag hinreißen, der His Airness die zweite Sperre seiner Kariere einbrachte.

Lasst die Spiele beginnen

Uncle Reg lebte für diese Momente. Er genoss es, seine Kontrahenten zur Weißglut zu bringen. Nicht bösartig. Eher schlitzohrig, clever, gerissen. In den Spielen gegen die Pacers wurde vielen Akteuren erst bewusst, welchen Einfluss mentale Stärke und Präsenz auf das Spiel nehmen können - spätestens, wenn ihnen Reggies ständiges Geschwätz die Konzentration raubte.

So ging es auch New Yorks Heißsporn John Starks. Der Shooting Guard der Knicks verlor 1993 in Spiel drei der ersten Playoff-Runde nach einem von Millers unzähligen Sprüchen die Kontrolle, gab seinem Gegenspieler eine Kopfnuss und flog aus der Arena. Indiana gewann die Partie, nicht aber die Serie, die den Beginn der intensiven Pacers-Knicks-Rivalität markierte. Zwischen 1993 und 2000 trafen die beiden Franchises in der Postseason sechsmal aufeinander: der Nährboden für außergewöhnliche Spiele und einige der bedeutendsten Clutch-Performances der NBA-Geschichte.

Der "Knick-Killer"

In den Conference Finals 1994 kam es beim Stand von 2:2 zum wichtigen Spiel fünf in New York. Mit zwölf Punkten Vorsprung gingen die Knicks ins vierte Viertel, dann war Miller-Time. 25 seiner insgesamt 39 Zähler erzielte Reggie in den letzten zwölf Minuten und führte die Pacers in beeindruckender Manier nahezu im Alleingang zum Sieg.

Während er einen Dreier nach dem anderen reinnagelte, entstand eine ganz persönliche Fehde zwischen Miller und Spike Lee. Nach jedem Korberfolg textete er den Edel-Fan der Knicks in der ersten Reihe zu. Aber auch Lee geizte nicht mit Worten und pöbelte kräftig zurück. Nachdem Miller zwei Freiwürfe getroffen hatte, starrte er zu Lee und legte beide Hände um den Hals zum Zeichen, dass er New York soeben das Genick gebrochen hatte. Seit diesem Spiel hatte Miller einen neuen Beinamen: "Knick-Killer".

Der Tragödie zweiter Teil

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ein Jahr später in den Conference Semifinals legte Miller im Madison Square Garden eine Performance hin, die zu Recht zu den absoluten Highlights der Historie zählt.

Beim Stand von 99:105 aus Pacers-Sicht und noch 18,7 Sekunden auf der Uhr riss Miller das Spiel an sich und erzielte in weniger als neun Sekunden acht Punkte. Dreier, Steal, Dreier und zwei Freiwürfe bescherten Indiana einen nicht für möglich gehaltenen 107:105-Erfolg. New York war geschockt, die Zuschauer im Madison Square Garden weigerten sich zu glauben, was sie gerade gesehen hatten. Reggie Miller - schon wieder!

Die Leistung von Uncle Reg in Spiel vier der Conference Semifinals 1998 wirkt gegen den Monster-Auftritt drei Jahre zuvor fast ein bisschen mickrig. Und doch machte Miller gegen die Knicks ein grandioses Spiel, erzielte 38 Punkte und traf einen wichtigen Dreier 5,1 Sekunden vor dem Ende. Der rettete Indiana in die Overtime und ermöglichte den vorentscheidenden 3:1-Sieg in der Serie.

Weitere zwei Jahre später zogen die Pacers das erste Mal in ihrer Geschichte in die NBA Finals ein - natürlich dank Miller. In Spiel sechs lief Reggie einmal mehr zu Höchstform auf: 34 Punkte, davon 17 im vierten Viertel besiegelten das Aus der Knicks. New Yorks Patrick Ewing gestand nach seiner Karriere mit einem Schmunzeln: "Ich habe Reggie gehasst."

Kontroverse um die Hall of Fame

2012 wurde Miller in die Hall of Fame aufgenommen, im zweiten Jahr seiner Verfügbarkeit. Der Status in Indiana, seine Persönlichkeit sowie seine Playoff-Leistungen gaben am Ende den Ausschlag, aber über seine spielerische Klasse für den Einzug in die Ruhmeshalle wurde kontrovers diskutiert. Denn, so sehr Miller auch in manchen Momenten glänzte, so viele Dreier er auch verwandelte, ein Superstar war er nicht. Das zeigen auch die Statistiken: In seiner Karriere kommt Miller auf ein Player Efficiency Rating von 18,4 - nicht gerade überragend.

Dennoch: Fast 20 Jahre lang war Reggie Franchise-Player sowie das Gesicht der Pacers. Seine Fähigkeit, in wichtigen Spielsituationen herausragende Leistungen zu bringen, ist unbestritten - auch wenn er nie einen Meisterschaftsring an seinen Finger stecken konnte.

"Zusammen mit Michael Jordan ist er der beste Clutch-Spieler, den die Welt je gesehen hat. Er ist ein wahrer Sportler mit einem großen Herzen, unbändigem Willen und aufopferungsvollem Einsatz", so Mark Jackson, von 1994 bis 1996 Millers Teamkollege in Indiana.

Dort ist Reggie für alle Ewigkeit ein Held. 1389-mal stand er für die Pacers auf dem Parkett. So oft haben nur zwei andere Spieler jemals das Trikot einer einzigen Franchise getragen: John Stockton (Utah) und Dirk Nowitzki.

Ein würdiger Abschied

Die letzten Punkte seiner Karriere erzielt Miller in den Playoffs 2005 gegen Detroit - natürlich per Dreier nach einem Downscreen und natürlich in der Miller-Time: 15,7 Sekunden vor dem Ende. Das Spiel und die Serie waren zu diesem Zeitpunkt bereits zugunsten der Pistons entschieden. Als Miller das Parkett direkt nach seinem Wurf und den Zählern 25, 26 und 27 verließ, feierte ihn jeder Fan, jeder Ordner, jeder Hot-Dog-Verkäufer und jeder Gegenspieler in der Arena. Minutenlang. Zu Recht.

Die Verabschiedung in Indianapolis war äußerst emotional und ein würdiges Karriereende für einen der besten Shooter aller Zeiten. Trotzdem hat der letzte Auftritt im Madison Square Garden wohl noch einen höheren Stellenwert für Miller: Als Staatsfeind Nr. 1 in der Höhle des Löwen den eigenen Namen zu hören, muss ihn mit dem allergrößten Stolz erfüllt haben. Diese große Geste der Knicks-Fans war ein Zeichen von Respekt, Anerkennung und Ehrfurcht: "Re Geee! Re Geee! Re Geee!"