Pünktlich zur entscheidenden Phase nimmt die Unterstützung für His Airness etwas zu. Pippen quält sich zurück aufs Parkett und nutzt seine Größenvorteile gegenüber Hornacek zu Punkten in der Zone. Dennis Rodman bearbeitet Karl Malone, mal mehr mal weniger legal, und trifft sogar den Jumper aus der Mitteldistanz. Es folgt ein Achselzucken, das verdächtig an jenes erinnert, das Michael Jordan anno 1992 in Richtung Kommentatorenpult schickte.
Dort saß Magic Johnson, der zuvor behauptet hatte, MJ wäre kein allzu gefährlicher Schütze von jenseits der Dreierlinie. Nun ja. Allein in der ersten Hälfte von Spiel 1 der Finals trifft Jordan gegen Portland 6 Dreier. Immer und immer wieder fliegt der Ball von draußen durch die Reuse. Und MJ? Der zuckt nur mit den Schultern. "Was soll ich tun?"
Nun also wieder dieses Achselzucken. Diesmal von Rodman. Dennoch macht es irgendwie den Anschein, als zögen die Jazz jeden Moment davon, als habe Utah das Momentum der Serie endgültig in die eigene Richtung gedreht. Die Uhr tickt unerbittlich gen Null, Chicago kann sich einfach keinen Vorteil erspielen. Punkten die Bulls, antworten die Jazz.
"Noch fünf Minuten, Scottie"
Pippen quält sich derweil weiter über den Court. Beim Einwurf redet Coach Phil Jackson auf ihn ein. "Nur noch fünf Minuten." Durchhalten, Scottie. Pippen hält durch, Jordan ebenfalls. Zwar ist der Jumper mittlerweile kaum noch ein Mittel - MJ trifft nur 4 seiner 10 Würfe im Schlussviertel - dafür marschiert His Airness immer wieder an die Linie, um dort mal wieder seine Clutch-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen (8/8 FT im letzten Viertel).
Allerdings ist Jordan nicht der einzige in der Halle, der in großen Momenten durchaus die Ruhe zu bewahren weiß. Da wäre zum Beispiel John Stockton, den zwar wie Pippen Rückenschmerzen plagen, der die Jazz gut ein Jahr zuvor per Dreier mit der Schlusssirene aber in die Finals gebracht hatte. Diesmal steigt Stockton erneut von draußen hoch. Diesmal sind allerdings noch 42 Sekunden zu spielen. Der Dreier sitzt dennoch, die Jazz führen mit drei. Auszeit Chicago. Ausnahmezustand Utah!
Michael Jordan: Buzzerbeater 1997
Das Delta Center ist der Ekstase ähnlich nah wie das United Center ein Jahr zuvor, als MJ Spiel eins der 97er Finals mit seinem Buzzerbeater über Bryon Russell entschied. Nur einer bleibt ganz ruhig: Michael Jeffrey Jordan. Kurz nach dem Einwurf schwebt His Airness auch schon ein und trifft den Layup. Ein Punkt Führung, Utah! Noch 37 Sekunden zu spielen.
Noch haben die Jazz alles in der Hand. Der Ball wandert zu Karl Malone in den Lowpost. Dennis Rodman klebt am Mailman, bearbeitet ihn nach Kräften - und lenkt ihn ab. Denn an der Baseline schleicht sich Jordan heran. Er schlägt auf den Ball, schnappt kurz darauf zu. Ballbesitz Chicago. Noch 20 Sekunden zu spielen.
Jordan dribbelt Richtung Mittellinie. Macht er es etwa schon wieder? 24 Gamewinner hat MJ während seiner Karriere bis dahin getroffen, allerdings auch mehr vergeben als verwandelt, wie er selbst einst zugab.
Lakers, Drexler und der Vatertag
Was Jordan nun wohl denkt? Erinnert er sich an seine unzähligen Heldentaten? An den Gamewinner, mit dem er 1982 die NCAA-Meisterschaft zugunsten North Carolinas Entschied? An "The Shot", der die Bulls 1989 in die zweite Playoff-Runde brachte, den Cavaliers und Craig Ehlo das Herz brach und gleichzeitig Jordans allererster Playoff-Gamewinner war?
Vielleicht denkt die Nummer 23 jedoch auch an das, was ihn am Ende seiner Reise erwarten würde. An die Larry O'Brien Trophy. Daran, wie er und die Bulls 1991 Magics Lakers besiegten, wie er die Trophäe hinterher festhielt, als wolle er sie nie wieder hergeben. Möglicherweise schoss ihm auch durch den Kopf, wie er 1992 Clyde Drexler und die Blazers dominierte.
Auch die Meisterschaft gegen Phoenix, Chicagos erster Threepeat, könnte Jordan einfallen. Oder die Tränen nach dem Titel 1996, den Chicago ausgerechnet am Vatertag sicherstellte, jenem Tag, an dem Jordan besonders an seinen drei Jahre zuvor ermordeten Vater James dachte und nach dem Triumph tränenüberströmt auf dem Boden des United Centers, später im Locker Room zusammenbrach.
Vielleicht überlegt MJ auch, wieder einen Teamkollegen ins Spiel zu bringen. Wie ein Jahr zuvor, als er Steve Kerr den entscheidenden Gamewinner zur Meisterschaft servierte. Vielleicht denkt Jordan aber auch gar nichts. Vielleicht dribbelt er einfach nur seinem finalen Wurf entgegen.
"Oh my goodness!"
Wie dem auch sei: Nun könnte man versuchen, die folgenden Sekunden halbwegs passend zu beschreiben - und fände doch keine treffenderen Worte als Bulls-Kommentator Neil Funk. "Michael against Russell. 12 seconds... 11... 10. Jordan, Jordan, a drive, hangs... fires... SCORES! HE SCORES! The Bulls lead 87:86 with five and two-tenths left, and now they are one stop away! Oh my goodness... oh, my goodness!"
He did it again! Michael Jordan hatte ein Spiel, eine Finalserie entschieden. Natürlich auch, weil John Stockton im Anschluss den Dreier zum möglichen Sieg der Jazz vergab. Natürlich auch, weil er Bryon Russell kurz vor dem entscheidenden Wurf einen kleinen Schubser mitgab. Die einen sprechen von Offensiv-Foul, die anderen von der Cleverness des G.O.A.T.
Egal, Jordan steht erneut ganz oben. Fünf Finger seiner linken Hand zeigen gen Himmel, einer seiner rechten. 6! Sechs Titel haben Michael Jeffrey Jordan und die Chicago Bulls in den letzten acht Jahren gewonnen. Sechsmal hat MJ sein Team dabei angeführt, wurde sechsmal zum Finals MVP gekürt.
Auch 1998. Natürlich. Schließlich hatte Jordan 45 Punkte erzielt und diesen einen letzten Wurf getroffen. Diesen letzten Wurf, der das perfekte Ende einer herausragenden Karriere markiert. Diesen allerletzten Wurf im Trikot der Chicago Bulls, der Jordans Legende nur noch eindrucksvoller erscheinen lässt. Was basketballerisch danach noch gekommen sein mag, spielt da eigentlich keine Rolle.