Er entschied Spiele. Er entschied Playoff-Serien. Er entschied Meisterschaften. Kaum ein Spieler prägte die NBA so wie Michael Jordan. MJ führte die Chicago Bulls zu sechs Meisterschaften, seine letzte gewann er standesgemäß. Mit seinem finalen Wurf. Am 17. Februar feiert Jordan seinen 59. Geburtstag.
Dieser Artikel erschien erstmals am 26. September 2014. Alle weiteren Artikel zu den größten Legenden der NBA gibt es in unserem Archiv.
Salt Lake City, 14. Juni 1998. Er ist angekommen. Beiger Anzug. Krawatte. Selbstsicherer Gesichtsausdruck - wie immer. Der Gang leicht wippend - wie immer. Im Grunde ist alles wie immer - und irgendwie doch nicht. Vielleicht zweifelt Michael Jordan sogar ein wenig. Immerhin wirken seine Bulls mittlerweile bei weitem nicht mehr so unbezwingbar wie noch vor ein, zwei Jahren.
Die Indiana Pacers zwangen sie in den Conference Finals ins entscheidende Spiel 7, gegen Utah steht nun das sechste Duell an. Dabei hätte man die Meisterschaft doch so schön im heimischen United Center, vor den eigenen Fans, klar machen können. Einerseits war Chicago während der Regular Season jedoch bereits nicht mehr das beste Team der Liga. Andererseits hatten sich die Jazz erfolgreich ein weiteres Spiel im Tollhaus Delta Center verdient.
Pippen? Der Rücken! Harper? Die Grippe!
Jerry Sloan zauberte in Spiel 5 Antoine Carr aufs Parkett, der sichere Jumper des Forwards den Bulls viel, aber kein Lächeln aufs Gesicht. Zudem war Karl Malone soeben brachial explodiert. 39 Punkte. 17/25 aus dem Feld. Der Mailman wollte die Chance auf seinen ersten Titel mit aller Gewalt aufrechterhalten. Nun ist sie so groß wie vielleicht noch nie - trotz eines 2:3-Rückstands.
Denn als Michael Jordan die Kabine der Bulls betritt, muss sich beinahe zwangsweise ein mulmiges Gefühl breitmachen. Auf der einen Seite sieht er Scottie Pippen, dessen Rücken derart schmerzt, dass Pip in einem normalen Playoff-Spiel wohl nicht mal aufgelaufen wäre. Auf der anderen Ron Harper, Chicagos Starting Point Guard, den die Grippe erwischt hat.
Michael Jordan und das Flu Game
Die Grippe. Da war doch was. Ganz genau: vor exakt 368 Tagen. Ebenfalls in Salt Lake City. Ebenfalls im Delta Center. Damals hatte es His Airness höchstpersönlich erwischt. Ein Magenvirus. Jordan konnte nichts bei sich behalten - abgesehen von seinem geliebten Gatorade, versteht sich. Es kam zum inneren Duell. Siegeswille gegen Virus. Welch ungleiches Duell. Geht es um etwas, ließ sich Michael Jeffrey Jordan nie aufhalten, auch nicht von einem Virus. Und schon gar nicht in Spiel 5 der NBA Finals.
Also schleppt er sich irgendwie ins Innere des Delta Centers, nur um mit dem Tipoff plötzlich so zu tun, als habe er eine absolut geruhsame Nacht hinter sich, als wäre er kerngesund. 38 Punkte sammelt MJ, führt die Bulls schlussendlich zum knappen 90:88 und in Spiel 6 zu Titel Nummer 5. Dass Scottie Pippen Jordan nach getaner Arbeit vom Feld führen muss, trägt nur zu Legendenbildung bei. Das Flu Game ist geboren.
Vielleicht kommen an jenem 14. Juni 1998 tatsächlich Erinnerungen hoch. Vielleicht denkt Jordan an all die Hindernisse, die er in 15 Jahren NBA überwand. Vielleicht denkt er an das Flu Game. Vielleicht aber auch an die Bad Boys aus Detroit, die zwei harte Jahre lang seinem ersten Titel im Weg gestanden waren, die ihm körperliche und seelische Schmerzen zufügten, bis er sie 1991 erstmals in den Playoffs besiegte und gegen die Lakers schlussendlich seine erste Meisterschaft sicherte. Fest steht, dass die Bulls Jordan in Spiel 6 brauchen. Womöglich so sehr wie lange nicht.
Bühne frei
Also begrüßt MJ seine Kontrahenten aus Utah, schüttelt den Refs Dick Bavetta und Dan Crawford die Hand, blickt sich ein letztes Mal um. Tipoff. Bühne frei für eine der legendärsten Performances in der Geschichte der NBA Finals.
Spiel 6 beginnt eigentlich ganz nach Chicagos Gusto. Ein Pass und Pippen ist frei. Dunk. Statement. Doch dann: Schmerzen. "Nach dem Dunk wurden die Schmerzen immer schlimmer", sollte Pippen später erklären. "Sobald ich zu laufen begann, bekam ich Krämpfe." Mit nur einer Aktion, der ersten Aktion sind die Bulls ihres zweitbesten Spielers, Jordans kongenialen Partners, nahezu beraubt.
Pippen sind die Schmerzen bei jedem Schritt anzusehen. Ständig verzieht er sein Gesicht, schleicht nur noch über den Court. Den Aufbau kann er nicht mehr übernehmen wie gewohnt. Und da auch Harper alles andere als in Vollbesitz seiner Kräfte ist, muss Jordan ran. Keine optimale Situation.
Schließlich widerstrebt das Playmaking MJ. Nicht, weil er seinen Teamkollegen nicht vertraut, wie es zu Beginn seiner Karriere der Fall war. His Airness lässt beim Ballvortrag zusätzliche Energie, was angesichts eines alternden, angeschlagenen Bulls-Teams verheerende Folgen haben kann. Zumal Jordan selbst mittlerweile 35 Jahre hinter sich gebracht hat.
Doch es geht nicht anders. Also dribbelt die Nummer 23 den Ball nach vorne. Immer wieder eröffnet Jordan Chicagos Angriffe - und schließt sie ab. Wie gewohnt läuft die Offense der Bulls über ihren Besten. Triangle hin oder her. Doch es funktioniert. 19 Würfe nimmt Jordan allein in der ersten Hälfte, 9 trifft er und sammelt 23 Punkte.
Tollhaus Delta Center
Jordan und die Bulls stemmen sich gegen unerbittlich anrennende Jazz. Die haben 19.911 Kehlen hinter sich, die das Delta Center zur Tinitus-gefährdenden Zone umfunktionieren. Dazu scheint Utah ein Mittel gegen Chicagos Defense gefunden zu haben. Karl Malone attackiert immer wieder den Korb und hängt speziell dem langsameren Luc Longley schnelle Fouls an. Auch Dennis Rodman bekommt den einen oder anderen Pfiff zu hören.
Vorne ist Jordan nahezu auf sich allein gestellt. Ohne Pippen, der sich immer wieder im Locker Room am maladen Rücken behandeln lassen muss, fehlt die zweite Option. Toni Kukoc springt ein, so gut es geht, im Gesamtbild wirkt Chicagos Offense allerdings alles andere als respekteinflößend. Steht Jordan nicht auf dem Parkett, geht nahezu nichts.
gettyJordan, immer wieder Jordan
Deshalb hat MJ Ende des dritten Viertels bereits 34 Minuten abgerissen - 36 wären möglich gewesen. Crossover. Drives. Pull-up Jumper. MJ versucht auf alle nur erdenklichen Wege, seine Bewacher stehen zu lassen. Allen voran Bryon Russell. Noch vor den Final-Duellen trafen Jordan und Utahs Swingman nämlich schon einmal aufeinander. Damals, 1994, hatte sich MJ gerade eine Auszeit vom Basketball genommen, was Russell allerdings nicht davon abhielt, den Meister ein wenig zu reizen.
"Zu jener Zeit habe ich überhaupt keinen Gedanken daran verschwendet, zurückzukommen", sollte Jordan während seiner Hall-of-Fame-Rede später erklären. "Dann kam Bryon Russell zu mir und sagte: 'Wieso bist du zurückgetreten? Du weißt, dass ich dich verteidigen könnte'. Seit diesem Tag gehe ich Bryon Russell immer voll an, sobald ich ihn in Shorts sehe."
Natürlich erhält Jordan auch diesmal wieder genügend Gelegenheiten dazu. Allerdings nehmen die Jazz MJ den Drive, zwingen ihn zum Jumper. Zudem machen sich die Minuten langsam bemerkbar. Jumper um Jumper landet vorne auf dem Ring. Im Schlussviertel angekommen wirkt Jordan müde. Angeschlagen vom steten Anrennen, von Utahs ungeteilter Aufmerksamkeit.
Doch die Bulls brauchen Jordan. Selbst die eigentlich obligatorische Pause zu Beginn des finalen Abschnitts ist diesmal nicht drin. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Ein Game 7 möchte rund um Chicago niemand riskieren. Also beißen sich die Bulls durch. Immer angeführt von Michael Jordan. Nach einem - mittlerweile mal wieder - vergebenen Dreier sprintet MJ zurück und fängt Jeff Hornaceks Outlet-Pass ab. Big Play! Jordan geht voran und der Rest des Teams folgt.
Pünktlich zur entscheidenden Phase nimmt die Unterstützung für His Airness etwas zu. Pippen quält sich zurück aufs Parkett und nutzt seine Größenvorteile gegenüber Hornacek zu Punkten in der Zone. Dennis Rodman bearbeitet Karl Malone, mal mehr mal weniger legal, und trifft sogar den Jumper aus der Mitteldistanz. Es folgt ein Achselzucken, das verdächtig an jenes erinnert, das Michael Jordan anno 1992 in Richtung Kommentatorenpult schickte.
Dort saß Magic Johnson, der zuvor behauptet hatte, MJ wäre kein allzu gefährlicher Schütze von jenseits der Dreierlinie. Nun ja. Allein in der ersten Hälfte von Spiel 1 der Finals trifft Jordan gegen Portland 6 Dreier. Immer und immer wieder fliegt der Ball von draußen durch die Reuse. Und MJ? Der zuckt nur mit den Schultern. "Was soll ich tun?"
Nun also wieder dieses Achselzucken. Diesmal von Rodman. Dennoch macht es irgendwie den Anschein, als zögen die Jazz jeden Moment davon, als habe Utah das Momentum der Serie endgültig in die eigene Richtung gedreht. Die Uhr tickt unerbittlich gen Null, Chicago kann sich einfach keinen Vorteil erspielen. Punkten die Bulls, antworten die Jazz.
"Noch fünf Minuten, Scottie"
Pippen quält sich derweil weiter über den Court. Beim Einwurf redet Coach Phil Jackson auf ihn ein. "Nur noch fünf Minuten." Durchhalten, Scottie. Pippen hält durch, Jordan ebenfalls. Zwar ist der Jumper mittlerweile kaum noch ein Mittel - MJ trifft nur 4 seiner 10 Würfe im Schlussviertel - dafür marschiert His Airness immer wieder an die Linie, um dort mal wieder seine Clutch-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen (8/8 FT im letzten Viertel).
Allerdings ist Jordan nicht der einzige in der Halle, der in großen Momenten durchaus die Ruhe zu bewahren weiß. Da wäre zum Beispiel John Stockton, den zwar wie Pippen Rückenschmerzen plagen, der die Jazz gut ein Jahr zuvor per Dreier mit der Schlusssirene aber in die Finals gebracht hatte. Diesmal steigt Stockton erneut von draußen hoch. Diesmal sind allerdings noch 42 Sekunden zu spielen. Der Dreier sitzt dennoch, die Jazz führen mit drei. Auszeit Chicago. Ausnahmezustand Utah!
Michael Jordan: Buzzerbeater 1997
Das Delta Center ist der Ekstase ähnlich nah wie das United Center ein Jahr zuvor, als MJ Spiel eins der 97er Finals mit seinem Buzzerbeater über Bryon Russell entschied. Nur einer bleibt ganz ruhig: Michael Jeffrey Jordan. Kurz nach dem Einwurf schwebt His Airness auch schon ein und trifft den Layup. Ein Punkt Führung, Utah! Noch 37 Sekunden zu spielen.
Noch haben die Jazz alles in der Hand. Der Ball wandert zu Karl Malone in den Lowpost. Dennis Rodman klebt am Mailman, bearbeitet ihn nach Kräften - und lenkt ihn ab. Denn an der Baseline schleicht sich Jordan heran. Er schlägt auf den Ball, schnappt kurz darauf zu. Ballbesitz Chicago. Noch 20 Sekunden zu spielen.
Jordan dribbelt Richtung Mittellinie. Macht er es etwa schon wieder? 24 Gamewinner hat MJ während seiner Karriere bis dahin getroffen, allerdings auch mehr vergeben als verwandelt, wie er selbst einst zugab.
Lakers, Drexler und der Vatertag
Was Jordan nun wohl denkt? Erinnert er sich an seine unzähligen Heldentaten? An den Gamewinner, mit dem er 1982 die NCAA-Meisterschaft zugunsten North Carolinas Entschied? An "The Shot", der die Bulls 1989 in die zweite Playoff-Runde brachte, den Cavaliers und Craig Ehlo das Herz brach und gleichzeitig Jordans allererster Playoff-Gamewinner war?
Vielleicht denkt die Nummer 23 jedoch auch an das, was ihn am Ende seiner Reise erwarten würde. An die Larry O'Brien Trophy. Daran, wie er und die Bulls 1991 Magics Lakers besiegten, wie er die Trophäe hinterher festhielt, als wolle er sie nie wieder hergeben. Möglicherweise schoss ihm auch durch den Kopf, wie er 1992 Clyde Drexler und die Blazers dominierte.
Auch die Meisterschaft gegen Phoenix, Chicagos erster Threepeat, könnte Jordan einfallen. Oder die Tränen nach dem Titel 1996, den Chicago ausgerechnet am Vatertag sicherstellte, jenem Tag, an dem Jordan besonders an seinen drei Jahre zuvor ermordeten Vater James dachte und nach dem Triumph tränenüberströmt auf dem Boden des United Centers, später im Locker Room zusammenbrach.
Vielleicht überlegt MJ auch, wieder einen Teamkollegen ins Spiel zu bringen. Wie ein Jahr zuvor, als er Steve Kerr den entscheidenden Gamewinner zur Meisterschaft servierte. Vielleicht denkt Jordan aber auch gar nichts. Vielleicht dribbelt er einfach nur seinem finalen Wurf entgegen.
"Oh my goodness!"
Wie dem auch sei: Nun könnte man versuchen, die folgenden Sekunden halbwegs passend zu beschreiben - und fände doch keine treffenderen Worte als Bulls-Kommentator Neil Funk. "Michael against Russell. 12 seconds... 11... 10. Jordan, Jordan, a drive, hangs... fires... SCORES! HE SCORES! The Bulls lead 87:86 with five and two-tenths left, and now they are one stop away! Oh my goodness... oh, my goodness!"
He did it again! Michael Jordan hatte ein Spiel, eine Finalserie entschieden. Natürlich auch, weil John Stockton im Anschluss den Dreier zum möglichen Sieg der Jazz vergab. Natürlich auch, weil er Bryon Russell kurz vor dem entscheidenden Wurf einen kleinen Schubser mitgab. Die einen sprechen von Offensiv-Foul, die anderen von der Cleverness des G.O.A.T.
Egal, Jordan steht erneut ganz oben. Fünf Finger seiner linken Hand zeigen gen Himmel, einer seiner rechten. 6! Sechs Titel haben Michael Jeffrey Jordan und die Chicago Bulls in den letzten acht Jahren gewonnen. Sechsmal hat MJ sein Team dabei angeführt, wurde sechsmal zum Finals MVP gekürt.
Auch 1998. Natürlich. Schließlich hatte Jordan 45 Punkte erzielt und diesen einen letzten Wurf getroffen. Diesen letzten Wurf, der das perfekte Ende einer herausragenden Karriere markiert. Diesen allerletzten Wurf im Trikot der Chicago Bulls, der Jordans Legende nur noch eindrucksvoller erscheinen lässt. Was basketballerisch danach noch gekommen sein mag, spielt da eigentlich keine Rolle.