Das Ende einer Reise

Max Marbeiter
29. Mai 201517:53
Tom Thibodeau (l.) übernahm die Chicago Bulls vor der Saison 2010/11getty
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Nach dem enttäuschenden Playoff-Aus entließen die Chicago Bulls Tom Thibodeau vorzeitig. Die Differenzen mit dem Front Office waren am Ende schlicht unüberbrückbar. Trotz aller Verdienste gibt es jedoch auch sportliche Gründe für die Entscheidung.

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Jerry Reinsdorf sprach von einer speziellen Kultur. Von Kommunikation und Meinungsaustausch. Von Vertrauen und gegenseitigem Respekt. All das habe die Chicago Bulls ausgezeichnet, ihnen die großen Erfolge der Vergangenheit überhaupt erst ermöglicht. "Leider gab es zuletzt eine Abkehr von dieser Kultur", fuhr der Besitzer fort. Deshalb sei man zu dem Entschluss gelangt, dass Veränderungen dringend notwendig seien.

Bulls entlassen Tom Thibodeau

Reinsdorf wählt klare Worte. Scharfe Worte. Worte, die sogar noch an Schärfe gewinnen, betrachtet man sie im Gesamtkontext. Denn Reinsdorfs Aussagen sind nicht etwa Instrument, um die Situation zwischen Advocate- und United Center im Allgemeinen zu beschreiben, sie sind ganz bewusst an eine einzige Person gerichtet. An Coach - sorry, Ex-Coach - Tom Thibodeau. Es sind Aussagen, die der Eigner seinem ehemals obersten, sportlichen Angestellten mit auf den Weg gab, als die Bulls Thibs' Entlassung öffentlich machten.

Man sparte sich einfach das klassische, gegenseitige Bauchpinseln, das überschwängliche Lob an einen obsolet gewordenen Angestellten. Chicagos Verantwortliche kamen ohne Umwege auf den Punkt. Spätestens jetzt darf also guten Gewissens davon ausgegangen werden, dass man sich in den vergangenen Tagen, Wochen - ach - Monaten nicht einfach irgendwelchen Spekulationen hingab. Das Verhältnis zwischen Coach Thibodeau auf der einen und dem Front Office um Gar Forman, John Paxson und Besitzer Reinsdorf auf der anderen Seite war offensichtlich tatsächlich nicht das Beste.

Am Ende war es sogar so schlecht, dass über ein wahrscheinliches Ende der Zusammenarbeit diskutiert wurde, noch bevor die Bulls überhaupt an ihr erstes Playoffspiel gegen Milwaukee gedacht hatten.

Eine Ära ist zuende

Nun hat Ära Thibodeautatsächlich ihr Ende gefunden. Nach fünf Jahren. Nach fünf erfolgreichen Jahren, um ganz genau zu sein. Das wird angesichts der Enttäuschungen der diesjährigen Playoffs, der Streitigkeiten mit dem Front Office häufig vergessen. Immerhin hatten es die Bulls in den beiden Jahren vor Thibodeau zwar gerade noch in die Postseason geschafft, die Rolle des Mitfavoriten, eines Contenders hätte Chicago aber sicherlich niemand zugesprochen.

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Aus den Bulls war irgendein Team geworden. Ein sechsfacher Champion, klar, aber eben ein sechsfacher Champion, dessen Erfolge mit Michael Jordan bereits einige Jährchen zurücklagen. Also drafteten die Bulls 2008 zunächst Derrick Rose und holten 2010 schließlich Tom Thibodeau, der als Assistent von Doc Rivers zuvor bereits Vater der zu Big-Three-Zeiten gefürchteten Defense der Boston Celtics gewesen war.

Vielleicht barg die Entscheidung ein gewisses Risiko, immerhin hatte Thibs zuvor noch kein NBA-Team als Headcoach betreut. Tat sie es wirklich, gingen die Bulls dieses Risiko ein - und wurden belohnt. Denn Thibodeau brachte der Franchise exakt das, was sie seit Jordans zweitem Rücktritt 1999 so sehr vermisst hatte. Der neue Coach schuf eine neue Identität. Plötzlich standen die Bulls für harte Arbeit, für unbändigen Einsatz und Willen, vor allem aber für Defense.

Thibodeau bringt neue Identität

Bis zu dieser Saison stand Chicago unter Thibodeau in Sachen defensiver Effizienz stets unter den besten Teams der Association. Während Thibs' ersten beiden Jahren führte man die Liga sogar an. So gilt der Coach mittlerweile als Vorreiter des heute gemeinhin praktizierten Defensivkonzepts, er prägte die gesamte Liga.

Plötzlich waren die Bulls also nicht mehr nur irgendein Team. Sie waren wieder relevant. Die erste Regular Season unter Thibodeau schlossen sie an der Spitze der Eastern Conference ab, holten ihren ersten Division-Titel seit Michael Jordan und Thibs, der Rookie Coach, wurde zum Coach of the Year ernannt.

Thibodeau hatte aus den Bulls ein Team gemacht, das sich wieder Hoffnungen auf den Titel machen durfte - und damit sicherlich auch seinen Anteil am individuellen Erfolg des Derrick Rose. Der wurde im erst dritten Jahr seiner NBA-Karriere 2011 nämlich zum MVP gewählt und war damit der erste in einer Reihe von Spielern, die sicherlich auch dank Tom Thibodeau individuell glänzten, die individuelle Auszeichnungen abstaubten.

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Auf MVP folgt DPOY und MIP

Vergangene Saison folgte Defensive Player of the Year und MVP-Kandidat Joakim Noah, erst kürzlich wurde Jimmy Butler zum Most Improved Player ernannt. Thibs besitzt also durchaus ein Händchen, wenn es darum geht, seine Spieler besser zu machen. "Wir haben wirklich eine enge Verbundenheit", gab Rose dann auch nach dem enttäuschenden Playoff-Aus gegen die Cavaliers zum Besten. "Ich mochte ihn immer als Coach."

Irgendwie war es Chicagos Erfolgsformel. Thibodeau gab den (harten) Weg vor, die Spieler folgten. So gewannen die Bulls unter Thibs 64,7 Prozent ihrer Regular-Season-Spiele, was den Coach zum sechsterfolgreichsten der Geschichte macht. Mitunter ging es sogar so weit, dass er ein eigentlich unterlegenes Team, das in den vergangenen fünf Jahren in 213 von 394 Spielen auf Rose verzichten musste, zu einer durchaus respektablen Bilanz führte. Die Bulls galten als Overachiever, als Team das alles und noch mehr aus den gegebenen Möglichkeiten herausholt.

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Jedenfalls in der Regular Season. Denn ein Blick auf die Playoffs zeichnet ein anderes Bild. Dort liegt Thibodeaus Bilanz bei 23 Siegen und 28 Niederlagen. Dort gewannen er und seine Bulls in fünf Jahren lediglich vier Serien.

Wie so häufig genügt der Blick auf die nackten Zahlen jedoch auch diesmal nicht. Der Kontext ist entscheidend. Denn selbstverständlich stand Rose seinen Bulls auch in den Playoffs eher unregelmäßig zur Verfügung. Genauer gesagt: in zwei der fünf Postseasons unter Thibodeau. In diesem Jahr kam der Playmaker nach langer Pause zwar rechtzeitig zu den Playoffs zurück, ein Problem blieb jedoch bestehen. Das Team hatte nie wirklich Zeit sich zu finden - und trat entsprechend auf.

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Nun führte es sicherlich zu weit, Thibodeau allein für die Verletztenmisere der vergangenen Jahre verantwortlich zu machen. Die Blutgrätsche wird der Coach schließlich nicht ausgepackt haben. Sein Minutenmanagement legt jedoch mindestens die Vermutung nahe, dass Thibodeau tendenziell wenig davon hält, seine Besten zu schonen. Von ausgedehnten Ruhepausen will und wollte Thibs nie etwas wissen.

Die gute alte Zeit

Darauf angesprochen bemühte er immer wieder den Blick in die Vergangenheit, schließlich sei auch Tim Duncan während seiner ersten Jahre in der Liga exzessiv auf dem Court gestanden. Früher sei all das normal gewesen. Richtig: früher. Mittlerweile achtet ein Großteil der Coaches jedoch penibel darauf, seinen Besten - so es denn möglich ist - hin und wieder Pausen zu gönnen. Verzichtet ein Kollege darauf, ergibt sich ein Nachteil, der so früher nicht bestand.

Auch deshalb soll General Manager Gar Forman im April 2014 der Kragen geplatzt sein, als Thibodeau seine Starter in einem belanglosen Spiel gegen die Charlotte Bobcats bis weit in die in die Overtime hinein auf dem Court ließ, um die Partie irgendwie noch für sich zu entscheiden. Dieses Spiel steht am Ende sinnbildlich für vieles, was Thibodeau ist und alles, was dem Front Office an ihrem Coach missfiel.

Thibs will gewinnen. Immer. Egal, ob in den Playoffs oder im 67. Spiel der Regular Season. Hineinreden möchte er sich nicht lassen. Von niemandem. Das Management dagegen nimmt für sich in Anspruch, das große Ganze im Blick zu behalten und erließ vor Saisonbeginn deshalb ein Minutenlimit für die von Knieverletzungen genesenen Rose und Noah. Thibodeau nahm es murrend hin, die Spannungen aber blieben, wurde noch intensiver.

"Dann säßen wir nicht hier..."

Zur Trennung hätten sie allerdings nicht zwingend führen müssen, wäre den Bulls der ganz große Erfolg geglückt. "Wahrscheinlich säßen wir nicht hier, hätten wir die Meisterschaft gewonnen", sagte Vice President of Basketball Operations John Paxson während der Pressekonferenz zu Thibodeaus Entlassaung. "Das ist die Wahrheit. Wir haben es aber nicht geschafft."

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Die Reibereien, die Sturheit des Coaches, das fragwürdige Minutenmanagement - all das wäre vergessen gewesen, hätten die Bulls doch nur die erste Meisterschaft seit Michael Jordan an den Lake Michigan geholt. Es gelang nicht. Mal wieder scheiterte Chicago an LeBron James, der die Bulls bereits 2011 und 2013 - damals noch in Miami - nach Hause geschickt hatte. Allerdings bildet das Eastern-Conference-Halbfinale gegen Cleveland auch einen Mikrokosmos all dessen, was es an Coach Thibodeau zu kritisieren gibt.

Grausame Offense

Einerseits wäre da die Offense, die mitunter schlicht grausam anzusehen war. Viel zu häufig verließen sich die Bulls auf Isolation-Plays von Derrick Rose oder Jimmy Butler. Sowohl mit als auch abseits des Balls mangelte es größtenteils an Bewegung, vorne regierte Statik. Dabei böte ein Team mit Rose, Butler, Noah und Pau Gasol genügend Optionen, eine zumindest halbwegs flüssige Offense laufen zu lassen. SPOX

Irgendwie versteifte sich Thibodeau aber zu sehr darauf, Noah als zweiten Playmaker am Highpost zu verwenden. Da der Center während der gesamten Playoffs beim Abschluss nie einen Rhythmus fand, konnten die Gegner dort jedoch absinken, die Zone dicht machen und den Herren Rose und Gasol das Leben so erschweren. Thibs hielt dennoch daran fest, schließlich hatte es auch vergangene Saison funktioniert.

Noch so ein Problem. Zu häufig versteifte sich der Coach auf alte Mustern, zu selten vertraute er neuen Ideen oder Spielern. So stand Kirk Hinrich gegen die Cavs beispielsweise länger auf dem Feld als Tony Snell oder Nikola Mirotic. Zwar hatte gerade letzterer in den Playoffs deutliche Probleme, andererseits ist Captain Kirk mittlerweile über seinem Zenit und deshalb nur noch selten die gewohnte Unterstützung von der Bank. Zumal gerade Snell regelmäßig bewies, dass er ein durchaus wertvoller Rotationsspieler sein kann.

Kein Händchen für die Rotation

Alles in allem gelang es Thibodeau nie, eine Rotation zu entwickeln, die einerseits die Stärken seiner tiefen Bank zu nutzen wusste und andererseits den Startern wichtige Pause verschafft hätte. Dabei hätten die Bulls gerade gegen dezimierte Cavs ihre Vorteile in Sachen Tiefe ausspielen können. Sie taten es nicht. Sie wirkten am Ende sogar ausgelaugter als Cleveland, das im Grunde mit einer 7er-Rotation spielte.

Am Ende waren die Chancen, die Nemesis LeBron James endlich einmal hinter sich zu lassen, wohl so groß wie selten. Dass es den Bulls dennoch nicht gelang, dürfte nicht unwesentlich zur Entlassung Thibodeaus beigetragen haben.

Doch was jetzt? Jetzt müssen sich die Bulls nach einem neuen Coach umsehen. Und ein Favorit scheint bereits gefunden zu sein. Bereits seit Monaten geistert der Name Fred Hoiberg durch die Straßen Chicagos. Ein ehemaliger Bull, der mittlerweile Iowa State coacht und nahezu als Gegenentwurf zu Thibodeau zu verstehen ist.

Wo der ehemalige Coach sein Hauptaugenmerk auf die Defense legt, steht sein Nachfolgekandidat für Offense. Dazu gilt Hoiberg als Players' Coach, als einer, der mit seinen Spielern pfleglich umgeht, ihnen Pausen gönnt und sie nicht während der Saison durch diverse, harte Trainingseinheiten schleift.

Thibodeau sei "teilweise schon ein harter Hund", gestand Joakim Noah vergangene Saison im SPOX-Interview. "Er fordert immer 100 Prozent. Da gerät man natürlich teilweise aneinander, aber ich weiß, dass es ihm immer darum geht, uns eine Siegchance zu geben, und dass ihm viel an uns liegt."

Mehr Respekt

Nun schwingt in Noahs Aussage unüberhörbar großer Respekt mit, gleichzeitig offenbart sie jedoch ein Dilemma. Bei einigen Spielern soll sich Thibodeaus harte Gangart in dieser Saison abgenutzt haben - und tatsächlich wirkten die Bulls gegen die Cavs nicht mehr wie jenes Team, das alles für den Sieg tun würde, das immer härter arbeitet als der Gegner. In Spiel 6 ergab sich Chicago sogar in sein Schicksal.

Vielleicht ist Thibs' Arbeit einfach getan. Er hat die Bulls wieder nach oben geführt, der letzte, der entscheidende Sprung gelang jedoch nicht. Vielleicht muss nun tatsächlich ein anderer übernehmen, um das Werk fortzuführen - ähnlich wie es Steve Kerr bei den Warriors als Nachfolger von Mark Jackson tat. Vielleicht benötigen die Bulls einfach neue Impulse. Ganz sicher hätte Tom Thibodeau am Ende jedoch freundlichere Worte verdient als jene, die Jerry Reinsdorf in seinem Abschiedsstatement wählte.

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