Jeder kennt sie. Diese kleinen Begegnungen, die einen von seinen Plänen abbringen. Der alte Schulfreund, mit dem man spontan etwas trinken geht, anstatt seine Steuererklärung zu machen. Oder die interessante Kollegin, mit der man sich verquatscht und daher die Bahn verpasst.
Und dann gibt es da noch die großen Begegnungen. Die Zufälle, die einen nicht nur von seinen Plänen abbringen, sondern das ganze Leben für immer verändern. Zum Beispiel der Tourist aus Deutschland, der in seinem Urlaub auf dich zukommt und fragt, ob du schon einmal Basketball gespielt hast.
Nein, Walter Tavares hatte noch nie einen Basketball in der Hand gehabt, geschweige denn Turnschuhe getragen. Er verkaufte Milch und Fisch im Geschäft seiner Mutter. Auf Maio. Einer winzigen Kapverdischen Insel mitten im Atlantik. 450 Kilometer vor der Westküste Afrikas.
Spielervermittlung mal anders
Das war 2010. Schon damals, im Alter von 17 Jahren, hatte Tavares eine so beeindruckende Statur, dass die ernüchternde Antwort dem Urlauber herzlich egal war. Sofort rief er einen Bekannten auf Gran Canaria an, der für den ortsansässigen spanischen Erstliga-Klub arbeitete - es war der Anfang eines ungewöhnlichen Abenteuers für einen ungewöhnlichen Jungen.
Die Verantwortlichen in Las Palmas waren verständlicherweise skeptisch. Auch ein Foto reichte nicht, das mussten sie mit eigenen Augen sehen. Und als sie wenige Tage später auf Maio wieder ins Flugzeug stiegen, um die 1500 km lange Strecke in ihre Heimat zurückzulegen, war Walter Tavares mit an Bord. Größe: 2,21 m, Spannweite: 2,36 m.
Größe trifft Talent trifft Eifer
Edy packte die sich ihm gebotene Chance beim Schopf und begann direkt nach der Ankunft auf Gran Canaria seine Ausbildung in dem für ihn gänzlich neuen Sport. Jeden Tag schuftete er mit unermüdlichem Einsatz unter Aufsicht von Coach Pedro Martinez, der bereits Marc Gasol in dessen frühen Jahren trainiert hatte.
Nachdem sich Tavares durch untere Spielklassen gearbeitet hatte, wurde er an U.B. La Palma verliehen, um Zweitliga-Erfahrung zu sammeln. Dort war er zu Beginn der letzte Spieler in der Rotation, wurde nicht einmal eingesetzt.Aber Big Edy kämpfte sich weiter nach oben, bis er in der Saison 12/13 das erste Mal für Gran Canaria aufs Parkett durfte. Er absolvierte acht Spiele in der besten Liga Europas. Allein das wäre schon eine Erfolgsstory, wenn die Geschichte nicht noch weiter ginge.
Aufstieg in der ACB
Die Saison 13/14 war der Durchbruch. Tavares bestritt alle 32 Saisonspiele und erzielte pro Partie in 21 Minuten 6 Punkte und 6,6 Rebounds. Er verbesserte sich stetig und wurde im Laufe der Spielzeit zum Starting Center.
Seine Wichtigkeit für das Spiel der Canarios spiegelte sich auch in den Statistiken wider: Big Edy war sowohl bei Rebounds als auch bei Blocks in den Top 5 der der Liga angekommen. Als Belohnung erntete er die Berufung in das Team der besten Nachwuchsspieler.
Sein Coming-Out-Game hatte er im spanischen Pokal gegen den erlesenen Frontcourt von Real Madrid, als er vor 17 anwesenden NBA-Scouts 16 Punkte, 12 Rebounds und 4 Blocks auflegte. Er traf effizient und blieb von der Freiwurflinie fehlerfrei - die prominenten Besucher aus den USA waren beeindruckt. Aber das war immer noch nicht das Ende der Fahnenstange.
Der große Schritt
Die vergangene Saison beseitigte dann endgültig die letzten noch verbliebenen Zweifel. Tavares stieg zum besten Rebounder und bester Shotblocker der ACB auf und hatte großen Anteil daran, dass Gran Canaria im Eurocup bis zum Finale kein einziges Spiel verlor.
Wettbewerbsübergreifend gelangen Big Edy in 22 Minuten Spielzeit 8,3 Punkte, 7,9 Rebounds und 1,8 Blocks. Und wieder gab es eine Auszeichnung: die Wahl ins All-Eurocup First Team. Unter anderem dank einer überragenden Feldwurfquote von 71 Prozent.
Mike Budenholzer hatte genug gesehen. Nachdem sich die Hawks bereits mit dem 43. Pick des Drafts 2014 die Rechte an Tavares gesichert hatten, holten sie ihn diesen Sommer über den großen Teich und machten ihn zum ersten Kapverdianer in der NBA.
Mit jordanesker Leichtigkeit
Hinter Al Horford und Tiago Splitter wird Big Edy viel Zeit haben, um an seinem Spiel zu arbeiten und sich zu entwickeln. Die wird er auch brauchen. Einen Wurf hat der Hüne nämlich nicht. In seinem offensiven Repertoire findet man lediglich Layups und Dunks - diese verwandelt er aber dank seiner Größe mit einer fast jordanesken Leichtigkeit.
Schon jetzt besser als DeAndre trifft Tavares von der Freiwurflinie. Der Kapverdianer hat seine Karriere-Quote inzwischen auf 67 Prozent hochgeschraubt. Der nächste Beweis für Lernfähigkeit und Talent, insbesondere vor dem Hintergrund seiner enormen Handgröße.
Dritter Center - oder mehr?
Die Rolle des Rim Protectors war in Atlanta lange vakant, Big Edy scheint dafür wie geschaffen. Weder Horford noch der in die Türkei abgewanderte Pero Antic konnten ihren Gegnern unter dem eigenen Korb Furcht einflößen, auch Splitter ist kein Defensiv-Anker.
Der Neuzugang von den Spurs zählt zudem zu den verletzungsanfälligeren Big Men der Liga - in den beiden letzten Saisons musste er jeweils mehr als ein Viertel der Spiele im Anzug verfolgen. Unter Umständen müsste Tavares also schon dieses Jahr regelmäßig Backup-Minuten übernehmen.
Die Gesundheit scheint für Tavares im Gegensatz zu vielen anderen Spielern seiner Größe kein Problem zu sein. Für Gran Canaria verpasste er in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht ein einziges Spiel.
Langer Atem gefragt
In der Summer League ist zu sehen, dass Big Edy noch Schwierigkeiten mit dem Tempo der NBA hat. Assistant Coach Kenny Atkinson sieht das aber nicht als Problem: "Wir spielen einfach viel schneller als in Europa und er ist gerade dabei, sich daran zu gewöhnen", so Atkinson: "Außerdem hat er bei seinem Team eine völlig andere Pick'n'Roll-Verteidigung gespielt als wir es tun. Aber wir arbeiten daran. Und was kann es Besseres für ihn geben, als zu lernen?". Recht hat er.
Bei den Hawks bekommt Tavares die Chance, einer unglaublichen Geschichte ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Bei seinem Talent und der Arbeitseinstellung könnte in Atlanta ein neuer DeAndre Jordan heranwachsen. Hoffentlich ohne das Drama.