Es war vor gut einem Jahr, 10 Monate vor der Bekanntgabe seines Karriereendes, als sich Kobe Bryant mit NBA TV und Ahmad Rashad zu einem ausgiebigen Gespräch traf. Gemeinsam warfen sie einen Blick zurück auf die letzten 20 Jahre der Black Mamba. Unter dem Titel 'Kobe: The Interview' wurde über alte Weggefährten und tiefgreifende Episoden philosophiert.
Es ging um Michael Jordan, den Sprung von der High School in die NBA, Shaquille O'Neal und die zahlreichen Erfolge, die Bryant im Laufe seiner Karriere gesammelt hatte. Über das gesamte Gespräch hinweg fielen immer wieder die gleichen Begriffe: Drive, Engagement, Hingabe, Motivation, Hartnäckigkeit, Disziplin, Leidenschaft. Begriffe, die seit jeher im Zusammenhang mit dem Lakers-Star genannt werden.
"Westbrook spielt richtig fies"
Diese Ausdrücke führten den ehemaligen NFL-Pro-Bowler und heutigen Journalisten Rashad unweigerlich zu der Frage, welcher Spieler in Zukunft mit denselben Vokabeln assoziiert werden sollte. Welcher Spieler das gleiche Feuer zeige, das Bryant seit jeher ausgezeichnet hatte.
Ohne zu zögern fiel Bryant sofort ein Name ein: "Russell Westbrook spielt richtig fies und gemein, genauso wie ich es getan habe. Mit viel Aggressivität; er spielt wie ich."
Ein verbaler Ritterschlag für den Thunder-Guard, den Bryant schon zu College-Zeiten an der UCLA aus der Nähe beobachten konnte.
Zu dieser Zeit galt Westbrook vor allem in der Defense als großes Versprechen für die Zukunft. Doch genau jenes Feuer, das Bryant beschrieb, machte aus RW0 mehr als nur einen ekelhaften Kettenhund. Der ehemalige No.4-Pick ist Spielmacher und Scoring-Maschine in einer Person und hat seit dem Kobe-Interview noch mal einen gehörigen Sprung gemacht. Dabei scheint das innere Feuer heißer denn je.
Verletzung verändert Wahrnehmung
Denn noch im letzten Jahr musste Westbrook aufgrund der Verletzung von Kevin Durant den Alleinunterhalter in Oklahoma City spielen - mit Folgen. Zuvor stand der Spielmacher in der öffentlichen Wahrnehmung ganz klar hinter dem vormaligen MVP und erlaubte sich dabei gerne den ein oder anderen unnötigen Fehler: Turnover, erzwungene Würfe, ignorierte Mitspieler.
Doch ohne den großen Schatten von Kollege Durant probierte sich Westbrook als alleiniger Go-to-Guy und durchlebte eine extrem lehrreiche Zeit. Zwar wurde er für jeden seiner großartigen Auftritte gelobt, erntete aber auch für jede Verfehlung auf dem Platz schärfere Kritik. Ohne seinen kongenialen Partner verpasste RW0 schließlich die Playoffs.
"Ich spiele hart, jede Nacht!"
Er selbst spielte die Situation damals herunter: "Meine Einstellung ist dieselbe, seit ich in die Liga gekommen bin. Ich spiele hart, jede Nacht! Es ist egal, was um mich herum passiert und wer mit welcher Verletzung ausfällt."
Diese Saison ist Durant zurück und gemeinsam soll nun endlich wieder ein tiefer Playoff-Run angesteuert werden. Nur dass sich die Verhältnisse in Loud City gewandelt haben. Die Thunder sind nicht mehr nur Durants Team. Das sah auch Neu-Coach Billy Donovan so und experimentiert mittlerweile immer häufiger mit Rotationen, bei denen jeweils nur einer der beiden Superstars auf dem Parkett steht.
Besessenheit steht manchmal im Weg
Das spart Kraft für die Playoffs und lässt Durant gleichzeitig seinen Rhythmus finden, ohne das Westbrook sich zurückhalten muss. Vielleicht keine schlechte Idee, denn der Guard gilt durch seine Besessenheit nicht gerade als einfacher Charakter. Alleine letzte Saison sammelte er 17 Technical Fouls und hält sich verbal zumindest auf dem Hardwood selbst gegenüber seinen Mitspielern nicht zurück.
"Ich bin ein normaler Junge", wehrt sich Westbrook gegen seinen Ruf: "Ich spiele das Spiel wohl etwas anders als die meisten - mit viel Emotionen. Das definiert allerdings nicht, was für eine Person ich bin. Wer mich kennt, der weiß, wie ich ticke. Ich versuche jedem zu helfen und bin selbstlos. Ich will immer das Richtige tun."
Stärken werden stärker
Aus spielerischer Sicht gelingt ihm das nahezu perfekt. Westbrook gehört zu den Top-10-Scorern der Liga und schließt 50 Prozent seiner Versuche am Korb ab, denen ein Kontakt mit einem Defender vorausging. Er produziert mittlerweile 40 Prozent aller OKC-Steals, wenn er auf dem Feld steht. Und: Er schnappt sich überragende 7,5 Rebounds pro Spiel. Dabei ist er so schnell und sprunggewaltig wie eh und je.
Gleichzeitig raubt er jeder vormaligen Kritik die Grundlage: Westbrook kein Point Guard? Seine Assist Percentage liegt mittlerweile bei 49 Prozent - gleichauf mit Rajon Rondo und Chris Paul.
Eine fragwürdige Wurfauswahl, die Westbrooks Effektivität mindert? Im Players Efficiency Rating liegt er in der NBA auf Platz zwei (29,2) und bei der True Shooting Efficiency (56 Prozent) sowie der Wurfquote legt der Guard Karriere-Bestwerte auf (46 Prozent FG). Gleichzeitig ist seine Usage Rate auf einem Fünf-Jahres-Tief angelangt.
Keine Schwäche erlaubt
Für Kollege Durant kommt diese Entwicklung nicht überraschend: "Ich bin wenig schockiert. Ich habe das kommen sehen. Es war nur eine Frage der Zeit. Er hat das Selbstbewusstsein und hat eine natürliche Gabe, Neuerlerntes schnell in sein tägliches Spiel zu integrieren. Er wird mit jedem Tag besser." Auch KD verwendet gerne Begriffe wie 'Disziplin' und 'Leidenschaft', um Westbrook zu beschreiben.
Russell selbst erklärt seine phänomenale Saison wie folgt: "Ich studierte unendlich viel Filmmaterial. Gerade im Sommer habe ich mich vor allem mit meinen eigenen Tapes befasst. Ich war dabei hart zu mir selbst und absolut ehrlich. Ich habe jeden noch so kleinen Fehler konsequent offengelegt. Denn ich erlaube mir bei keinem Aspekt meines Spiels eine Schwäche."
Ausdruck dieser Herangehensweise ist die hohe Anzahl an Triple-Doubles, die Westbrook inzwischen auflegt. Alleine diese Saison sind es bis jetzt acht an der Zahl. Über die gesamte Spielzeit gesehen, erzielt er ein Double-Double nach Punkten (24,3) und Assists (10,2).
Sein einziges Ziel ist aktuell ein tiefer Playoff-Run, Wechsel-Gedanken haben trotz vieler Interessenten keinen Platz: "Ich mag es, wo ich gerade bin. Nur Oklahoma City ist von Bedeutung. Wir alle machen hier einen super Job und wir können noch viel besser werden."
Nicht wie jeder andere sein
Bei all der neuen Aufmerksamkeit findet RW0 noch Zeit für sein zweites Hobby, mit dem er im Netz für Aufregung sorgt. Der bullige Guard gilt als großer Modefan und macht bei öffentlichen Auftritt abseits des Courts gerne mit extravagantem Kleidungsstil von sich reden: "Meine Mum hat schon immer viel Wert darauf gelegt. Ich habe da eine ähnliche Vorgehensweise wie auf dem Court: Ich will nicht wie jeder andere sein. Es ist natürlich witzig, wie die Leute inzwischen auf mich reagieren."
So steht Westbrook nicht nur aus sportlicher Sicht in immer größerem Rampenlicht. Er wird zu Talkshows eingeladen, kooperiert mit der Modeindustrie und vertreibt seine eigene Brillenkollektion. Er folgt damit seinem Mantra, das Kobe Bryant wohl ebenso unterschreiben würde: "Nicht in jeder Lebenssituation mein Bestes zu geben, das könnte ich mir nie verzeihen."