"MVP, MVP" schallte es durch den TD Garden. Isaiah Thomas stand gerade an der Linie, um den Sieg seiner Boston Celtics gegen die Miami Heat unter Dach und Fach zu bringen. Und die Zeugen dieses Spektakels hatten allen Grund, den kleinen Guard zu adeln.
52 Punkte erzielte die Nummer Vier des Rekordchamps, davon alleine 29 im vierten Viertel. "Das ist absolut unglaublich. Ein Schlussviertel wie dieses habe ich noch nie gespielt", erklärte ein sichtlich emotional mitgenommener Thomas nach der Partie.
29 Punkte in einem Viertel? Das hatte es bei der so traditionsreichen Franchise noch nie gegeben. Der Rekord von Ikone und Basketball-Gott Larry Bird aus dem Jahr 1983 von 24 Zählern war pulverisiert. Lediglich Wilt Chamberlain drang in diese Höhen vor und erzielte in seinem legendären 100-Punkte-Spiel im Jahr 1963 zwei Zähler mehr im Schlussabschnitt.
Zwischen Sacre und Collins
Wenn man Namen wie Bird oder Wilt hört, dann ist klar, dass nur die absolute Creme de la Creme solche Stats in der Geschichte aufgelegt haben. Sie waren Ausnahmetalente, klare Hall of Famer und Megastars ihrer Zeit. Bei IT ist die Sachlage - allein wegen der Ausgangssituation - eine andere.
Thomas kam nicht als Star oder Hoffnungsträger in die NBA. Er kam von ganz unten. Der spielte für die Washington Huskies, ein vergleichsweise kleines College. Nach drei Jahren meldete sich IT für den Draft an. Ein riskantes Unterfangen, da er als zu klein und zu schmächtig angesehen wurde. Auch in diversen Mock Drafts fiel er komplett raus. 1,75 Meter? Das reicht nie für die beste Liga der Welt, so die einhellige Meinung.
Die Sacramento Kings, nicht unbedingt bekannt für das beste Draft-Gespür, griffen dennoch mit dem 60. und letzten Pick zu. Eine gute Entscheidung, wie sich im Nachhinein herausstellte. Um zu verdeutlichen, was der letzte Pick wert ist: 2010 wurde ein Forward namens Dwyane Collins von den Phoenix Suns gedrafted, 2012 pickten die Lakers Center Robert Sacre.
Unterschätzt und herumgereicht
Doch IT biss sich durch und erkämpfte sich seinen Platz in der Rotation. Über drei Jahre spielte sich Thomas in Sac-Town fest und legte unter anderem in einem Spiel ein Triple-Double auf, was ihn zum kleinsten Spieler der Geschichte machte, dem dieses Kunststück gelang.
Den Kings schien das aber nicht genug zu sein. Vor allem das Zusammenspiel zwischen DeMarcus Cousins und Thomas überzeugte die Verantwortlichen nicht. Zwar einigte man sich auf eine Vertragsverlängerung über vier Jahre, doch direkt im Anschluss verschiffte man den Point Guard für die Draftrechte von Alex Oriakhi und eine Trade-Exception nach Phoenix.
Rückblickend war dies eine mittlere Katastrophe, wenn man bedenkt, wer seitdem in Sacramento die Fäden auf der Eins in der Hand hielt und hält. Immerhin passt die Thomas-Story damit wieder in die jüngste Entscheidungshistorie der Kings.
Aus Kalifornien ging es für IT in die Wüste nach Arizona. Zu einem Team, das in der Vorsaison die Cinderella-Geschichte der NBA war. Doch das Experiment mit drei kleinen Guards (Goran Dragic, Eric Bledsoe, Thomas) scheiterte krachend und Isaiah musste nach nur wenigen Monaten erneut die Koffer packen. Als ein Assistant Coach ihm die Nachricht des Trades nach Boston überbrachte, hielt Thomas es erst einmal für einen Witz. Wie sich herausstellen sollte, war es das Beste, was ihm hätte passieren können.
Notnagel in Boston
Dabei sollte Thomas auch in Boston nur eine Übergangslösung sein. Mit Marcus Smart war eigentlich der Spielmacher der Zukunft im Draft 2014 gefunden. IT sollte von der Bank kommen und die Mikrowelle geben. Allerdings belebte er die stockende Celtics-Offense so sehr, dass er schon bald startete und Boston in die Playoffs führte.
Trotz dieser unerwarteten kleinen Erfolge befanden sich die Celtics gerade in einer Übergangsphase nach dem Ende der Big Three um Paul Pierce, Kevin Garnett und Ray Allen. Seit mehr als drei Jahren versuchte General Manager Danny Aigne nun schon, einen ähnlichen Coup zu landen, wie es ihm 2007 bei KG und Allen gelungen war.
Ein großer Star soll es sein für die ruhmreiche Franchise von der Ostküste. Namen wie Cousins, Kevin Love oder Jimmy Butler geisterten lange durch den Garden. In der Free Agency 2016 bekamen die Celtics zumindest ein Gespräch mit Kevin Durant, gingen letztlich aber nicht ganz leer aus, da man mit Al Horford so etwas wie den Trostpreis des Sommers gewann.
Der wahre Star?
Doch schnell wurde klar: Nicht Horford ist der Star des Teams, es ist Thomas. Während Horford sich nach vielen Jahren bei den Atlanta Hawks akklimatisieren musste und einige Spiele verletzt fehlte, übernahm IT - wie schon das Jahr zuvor - den Löwenanteil der Offensive. Das sah auch Celtics-Coach Brad Stevens schnell ein und erklärte: "Isaiah veränderte unser Team. Er war das, was wir brauchten."
Das ist inzwischen auch außerhalb von Beantown angekommen, unter anderem bei LeBron James, für den IT der wichtigste Celtic ist: "Boston hat einen klaren Superstar und das ist Isaiah. Sie sind aus einem Grund ein Topteam und das startet mit dem Kopf der Schlange."
Ein solches Lob hat wohl noch nie ein letzter Pick des Drafts erhalten. "Vor Jahren war ich noch der dritte Point Guard. Es hat sich viel verändert und das ist toll", stellte auch Thomas fest. Knapp 28 Zähler und 6 Assists legt Isaiah in dieser Saison bislang im Schnitt auf. Dass die Celtics trotz diverser Verletzungen und jeder Menge Auswärtsspielen auf Rang drei der Eastern Conference stehen, ist zu großen Teilen Thomas zu verdanken.
Verzwickte Vertragslage
Doch inwieweit kann ein Mini-Guard der Franchise-Player eines Teams sein, das um einen Ring mitspielen möchte? Diese Frage muss man sich nun beim Rekordchampion stellen. Thomas verdient im Moment knapp sieben Millionen Dollar im Jahr. Ein absolutes Schnäppchen. Sein Vertrag läuft noch bis 2018. Dann wäre er bereits 29 Jahres alt. Denn der steinige Aufstieg dauerte nun mal seine Zeit.
Eine größere Extension könnte auch ein Risiko für die Celtics darstellen, da kleine Spieler mit schwindender Athletik im Herbst ihrer Karriere zumeist eher abbauen als zulegen. Und mit Horford verdient bereits ein Spieler das Maximum. Für Ainge eine äußerst knifflige Entscheidung. Sollte Thomas seinen großen Zahltag bekommen, wäre wohl kein Platz für einen weiteren (All-)Star.
Innerhalb des Teams scheint die Chemie mit Thomas zumindest zu stimmen. Auch wenn der Spielmacher kein Pass-First-Spieler ist, macht er seine Mitspieler besser. Mit seinem enormen Speed kann er jederzeit Lücken in eine Defense reißen und sein Drive ist derart explosiv, dass er ihn pro Spiel neun Mal auf die Freiwurflinie bringt.
Bei seiner 52-Punkte-Performance spielte IT4 keinen einzigen Assist. Übel nahm ihm das aber keiner. "Ohne meine Teamkollegen wäre das nicht möglich gewesen. Sie wollten, dass ich die 50 knacke. Das sagt viel über sie aus."
Nicht nur Fan-MVP
Doch es ist ein Unterschied, 50 Punkte gegen ein dezimiertes Heat-Team aufzulegen oder in den Playoffs gegen die Cleveland Cavaliers anzutreten. Seit der Rückkehr von LeBron dominierten die Cavs die Celtics, auch in den Playoffs 2015, als es einen bitteren Sweep setzte.
Vor knapp zwei Jahren verzweifelte Thomas noch gegen Edel-Verteidiger Iman Shumpert, der den Point Guard komplett kaltstellte. In der letzten Zeit allerdings wurden die Spiele zunehmend knapper (zwei Pleiten mit sechs Zählern Unterschied) und Thomas zeigte, dass er auch gegen den Champ 30 Punkte auflegen kann.
Und genau diese Eigenschaft, der Wille, sich stets zu verbessern, war und ist es, die Thomas' Aufstieg zugrunde liegt. Vom 60. Pick, aus der Tiefe des Draftboards, zu einem der besten Spielmacher und Scorer der Liga. Und klar ist auch: Der Status Quo soll nicht das Ende der Fahnenstange sein.
"Ich will mehr. Ich möchte im All-NBA-Team stehen, irgendwann will ich MVP sein. Das sind meine Ziele. Da ich für die Celtics spiele und wir Spiele gewinnen, denke ich, dass dies möglich ist", kündigte Thomas bereits vor der Saison an.
Für die Auszeichnung zum MVP wird es diese Saison nicht reichen. Doch zumindest für die Fans im Garden ist er dies bereits jetzt - und vielleicht ist auch Ainge so langsam überzeugt, dass Thomas ein Eckpfeiler des Celtics-Teams der Zukunft sein kann. Ja, fast muss.