Reicht ein Spielball wirklich noch aus?

Thorben Rybarczik
24. September 201714:26
Carmelo Anthony und Russell Westbrook werden sich (hoffentlich) künftig nicht mehr um den Ball streitengetty
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Carmelo Anthony wurde zu den OKC Thunder getradet. Wie lauten die Details des Deals? Was bedeutet er für die Thunder, wie geht es in New York weiter und welche Chance bietet er Anthony selbst? SPOX beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was ist passiert?

Nun also doch: Die monatelang andauernde Posse um die Personalie Carmelo Anthony bei den New York Knicks hat ein Ende gefunden. Nur einen Tag, nachdem Knicks-Präsident Steve Mills erklärt hatte, er gehe davon aus, dass "Melo zum Start des Training Camps dabei" sein werde, wurde der Trade des Superstars verkündet.

Wie so oft war ESPN-Mann Adrian Wojnarowski derjenige, der Wind von dem Deal bekam und alle Details offenlegte. Zur Erinnerung: Die Teams haben den Trade noch nicht bekanntgegeben, aufgrund der Quelle darf er aber trotzdem als perfekt betrachtet werden.

Und so sieht das Tauschgeschäft aus: Die Oklahoma City Thunder erhalten den 10-fachen All-Star und einstigen Liga-Topscorer aus New York und schicken dafür Center Enes Kanter, Flügelspieler Doug McDermott sowie den 2018er Zweitrundenpick der Chicago Bulls in den Big Apple.

Carmelo Anthony und Russell Westbrook werden sich (hoffentlich) künftig nicht mehr um den Ball streitengetty

Das Besondere an dem Deal ist die sagenumwobene No-Trade-Klausel von Anthony, die es ihm erlaubt, jeden Trade abzulehnen. Das heißt im Umkehrschluss, dass er diesem Deal explizit zugestimmt haben muss. Sein aktueller Vertrag läuft noch zwei Jahre, allerdings hat er schon im kommenden Sommer die Chance, auf eine Spieleroption zu verzichten und Free Agent zu werden. Er verdient rund 27 Millionen Dollar pro Jahr.

Der zu den Knicks gewechselte Kanter hat die gleiche Vertragslaufzeit, verdient aber weniger Gehalt. In der kommenden Saison stehen ihm 17,8 Millionen Dollar zu, 2018/19 (Spieleroption) sind es 18,6 Millionen. McDermott hingegen steckt noch in seinem Rookie-Vertrag und kann 2018 Restricted Free Agent werden.

Was bedeutet der Anthony-Trade für die Oklahoma City Thunder?

Sam Presti wurde seinem Ruf als proaktiver General Manager erneut gerecht und fädelte nach dem Trade für Paul George den nächsten großen Deal ein. Mit der Ankunft von Carmelo Anthony formiert sich in OKC eine neue Big Three. Gewissermaßen ist dies der dritte Schritt, um die Ära von Kevin Durant endgültig vergessen zu machen, nachdem mit der Vertragsverlängerung Westbrooks im vergangenen Sommer sowie mit dem "Diebstahl" von Paul George die ersten beiden gemacht worden sind.

Der Preis war - wie schon im Falle Georges - überraschend gering. Enes Kanter mag zwar ein sicherer Punktelieferant von der Bank gewesen sein, hat aber defensiv so große Defizite, dass er beispielsweise in den Playoffs gegen die Rockets nicht zu gebrauchen war und in fünf Spielen insgesamt nur 45 Minuten ran durfte. Zudem ist er überbezahlt. Für McDermott gelten die Defense-Schwächen ebenfalls.

Nun hat OKC ganz andere Lineup-Möglichkeiten, was vor allem in Bezug auf ein Duell mit den Warriors relevant wird (der Anspruch wird nun sein müssen, sich mit ihnen zu messen). Offensiv-Allergiker Andre Roberson könnte in einem Small-Ball-Lineup auf die Vier rücken, da George Defensiv-Aufgaben auf dem Flügel übernimmt und sich Melo dort ebenfalls wohler fühlt. Das hätte unter anderem auch den Vorteil, dass Robersons Schwäche im Shooting nicht so ins Gewicht fällt.

Genau wie beim George-Trade stellt sich aber auch hier die Frage: Wie passt der balldominante Melo mit den balldominanten Westbrook und George zusammen? Addiert man die Usage-Rates des Trios aus der vergangenen Saison, kommt der Wert 99,7 heraus. Es wird aber nur einen Ball geben - und insgesamt eine Rotation von in der Regel 10 Spielern. Es gilt also mehr denn je, dass alle drei Spieler erhebliche Änderungen an ihrem Spiel vornehmen müssen, was gerade im Hinblick auf Melos Liebe zum Iso-Ball nicht unbedingt einfach erscheint.

Aber: Anthony ist abseits des Balles zumindest auf dem Papier effizient. In der vergangenen Saison traf er beispielsweise 43 Prozent seiner Catch-and-Shoot-Dreier. Dank PG und Russ wird er davon viel mehr bekommen als zuletzt. Das Spacing-Problem in OKC dürfte endgültig und hochkarätig behoben sein.

Hoffnung, dass das Trio funktioniert, macht auch folgende Tatsache: Alle drei Spieler wollten das Experiment offenbar von sich aus angehen. Bei Melo gilt, dass er sich auf den Deal gar nicht hätte einlassen müssen, wenn es ihm nicht gepasst hätte. Und: Laut Adrian Wojnarowski haben George und Westbrook großen Einsatz dabei gezeigt, Melo von den Thunder zu überzeugen und damit praktisch schon eingestanden, Spielanteile abzugeben.

Nun ist klar: Die Franchise ist endgültig wieder im Kreis der Contender angelangt. Mit diesem Roster muss es das Ziel sein, die Dubs anzugreifen. Denn so gering der Gegenwert für Melo war: Der Preis für dieses Experiment ist in einem anderen Bereich hoch. Es werden bis zu 30 Millionen Dollar Luxussteuer allein in der kommenden Saison fällig, zudem fehlt es wegen Melos Spieleroption an finanzieller Planungssicherheit. Auch ist bei einem Scheitern nicht ausgeschlossen, dass alle drei Stars im kommenden Sommer weg sind - die Möglichkeiten dafür hat jeder Einzelne. Die kommende Saison ist also richtungsweisend.

Wie geht es bei den New York Knicks weiter?

Die New York Knicks sind ab sofort das Team von Kristaps Porzingis. Die Zukunft soll um den 22-Jährigen herum gebaut werden - und dessen Rolle wird schon in der kommenden Saison stark verändert daherkommen. Zuletzt erhielt er an der Seite von Melo und Derrick Rose 14,9 Abschlüsse pro Spiel bei einer Usage-Rate von 24,3 Prozent. Beides wird in die Höhe schnellen, wobei davon auszugehen ist, dass er gut damit umgeht.

Denn die Stats-Analysten von ESPN haben herausgefunden, dass er 2016/17 effizienter war, wenn er ohne Rose und Melo agierte - auf 100 Ballbesitze hochgerechnet sogar um 5 Punkte. Wird er trotzdem einige schwierige Phasen durchmachen? Sicherlich. Die nehmen die Knickerbockers aber gerne in Kauf, denn Siege stehen auf der Prioritäten-Liste nun vorerst nicht mehr besonders weit oben.

Schließlich gibt es neben dem Einhorn noch mehr Talent, das ausgeschöpft werden will. Auf nahezu jeder Position steht junges Spielermaterial zur Verfügung: Sei es Rookie Frank Ntilikina auf der Eins, Tim Hardaway Jr. auf dem Flügel oder neben Porzingis der Spanier Willy Hernangomez am Brett.

Bezüglich der Bewertung des Trades muss beachtet werden, dass für die Knicks kaum etwas herauszuholen war. Schließlich wusste alle Welt, dass New York Melo gerne loswerden würde und dass dieser für sein Alter nicht nur überbezahlt ist, sondern auch ganz spezielle Wünsche hinsichtlich der Destination hat. Das von GM Scott Perry ausgerufene Ziel, für Melo einen Scoring-Wing, auslaufende Verträge und (Erstrunden-)Picks zu ergattern, wurde dadurch klar verfehlt.

McDermott ist zwar ein Flügel mit Scoring-Qualitäten, dürfte aber keine allzu große Rolle in der Zukunftsplanung spielen, sofern es keine unerwartete Leistungs-Explosion von ihm gibt. Der akquirierte Pick gilt leider auch nur für die zweite Runde, dürfte aufgrund des Rebuilds in Chicago aber immerhin hoch ausfallen. Enes Kanter kann man auch nicht wirklich gebrauchen, da auf dessen Position die Entwicklung anderer Spieler im Fokus steht. Sein Vertrag läuft zudem bis 2019. Es ist gut vorstellbar, dass der Trade-Markt für den Türken evaluiert wird und er bald schon wieder woanders spielt.

Was bedeutet der Trade für Carmelo Anthony?

Es war im Sommer 2014, als Carmelo Anthony seine vieldiskutierte Vertragsverlängerung in New York für 5 Jahre und 124 Millionen Dollar unterschrieben und sich gleichzeitig eine No-Trade-Klausel gesichert hatte. Die Knicks galten schon damals als Team ohne Plan und Zukunft, in dem Melo nichts würde gewinnen können. Diese Prognose hat sich bewahrheitet.

Denn in den Folgejahren gelang es den Verantwortlichen nicht, dem No.3-Pick von 2003 ein vernünftiges Team oder gar einen passenden Coach an die Seite zu stellen. Nicht selten kursierten Gerüchte, dass Anthony seine Vertragsunterschrift bereute - nur wenige Wochen, nachdem die Tinte trocken war, soll er ESPN zufolge mehrmals gesagt haben: "Hätte ich doch besser in Chicago unterschrieben."

Nach außen gab sich Melo aber immer loyal den Knicks gegenüber und betonte, dass er sich in New York pudelwohl fühle. Das hatte aber mehr mit der Stadt als mit der Franchise zu tun.

Sportlich verlor Anthony derweil an Wert. Sein balldominantes Iso-Spiel war überholt, sein langer Zweier nicht effizient. Da auch seine Athletik mit den Jahren litt, war sein Ruf als Top-3-Scorer der Liga schnell dahin. Da er sich stets übers Punkten definiert hatte, galt dies für sein komplettes Auftreten als Basketballer. Der traurige Höhepunkt war vielleicht seine Platzierung im ESPN Player Ranking für die kommende Saison, in dem Anthony nur auf Rang 64 landete - hinter Lonzo Ball oder Malcolm Brogdon.

Ob solch eine Degradierung des dreifachen Olympiasiegers gerechtfertigt ist, sei mal dahingestellt. Der Tapetenwechsel für Melo kommt aber trotzdem mehr als gelegen, um sich im Frühherbst der Karriere vom angestaubten Image zu befreien.

In OKC kann er mit zwei Stars an der Seite zeigen, dass er doch gelernt hat, sich dem modernen Basketball anzupassen und sich einem Spielsystem unterzuordnen. Große Playoff-Runs blieben ihm mit einer Ausnahme (2009 in den West Finals) verwehrt - es gibt also einiges nachzuholen. Das Experiment mit OKC ist also praktisch die letzte Chance für Melo, um seinen (NBA-)Ruf zu retten.

Was bedeutet der Trade für die restliche Liga?

Nach Paul George und Jimmy Butler ist Melo der dritte Starspieler, der ohne adäquaten Gegenwert von der Eastern in die Western Conference wechselt. Sein Trade macht OKC zu einem Contender, während die Knicks nach wie vor im Niemandsland dastehen. Damit zählen wir mit den Warriors, Spurs, Rockets und nun den Thunder vier Teams, die sich Chancen auf die Finals ausrechnen, während die Wolves oder Pelicans ebenfalls mit enormer Starpower große Ziele haben.

Im Osten dagegen bleiben die Celtics und Cavs, von denen man jeweils nicht weiß, wie sie funktionieren werden. Mal ehrlich: Geht irgendjemand davon aus, dass der NBA Champion 2018 aus dem Osten kommt? Eher nicht. Die Zweiklassengesellschaft hat sich noch einmal verschärft: Ginge man davon aus, dass tatsächlich die besten 16 Teams der gesamten Liga in die Playoffs kämen - es wäre denkbar, wenn es nur fünf Teilnehmer aus der Eastern Conference gäbe.

Auch hat der Trade von Melo gezeigt, dass der Wert von Superstars in Tauschgeschäften nicht mehr annährend so hoch ist, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war. Ob Cousins, Butler, George oder nun Anthony - die Situation der Franchises mit dem abzugebenden Star wurde von der Gegenseite eiskalt ausgenutzt. Mittlerweile scheinen Picks und auslaufende Verträge de facto einen höheren Trade-Wert zu haben als Top-Spieler in ihrer Prime.

Auch der viel benutzte Satz, dass die NBA nur "ein Business" ist, wurde mal wieder bestätigt. Noch vor wenigen Tagen verbreitete Enes Kanter bei Twitter, dass OKC für ihn die beste Franchise der NBA sei und er sie für immer lieben werde. Nun spielt er in New York und wurde wahrscheinlich vorher nicht mal von seinem Arbeitgeber vorgewarnt.

Das zeigt auch, dass es auch eine große Diskrepanz gibt unter den Spielern bezüglich ihres Einflusses. Ist ein Superstar unzufrieden mit seiner Situation, ist die Franchise nahezu gezwungen, auf die Wünsche des Spielers einzugehen und muss in Kauf nehmen, wenig Gegenwert zu erhalten. Dadurch leiden auch die weniger prominenten Spieler, die mehr denn je als Trade-Masse oder Salary-Cap-Spielbälle herhalten müssen.