Andre Miller hielt sich 17 Jahre lang in der NBA, obwohl er nach eigener Aussage "nicht die körperlichen Voraussetzungen" hatte. SPOX sprach mit einem der besten Point Guards seiner Zeit über seine Karriere, mangelnde Wertschätzung und den Spitznamen "Professor".
Außerdem: Was ihn an Advanced Metrics stört - und warum er die heutigen Verträge teilweise sehr kritisch sieht.
SPOX: Mr. Miller, es gab in der Geschichte der NBA schon so viele Spitznamen - aber nur wenige passten so gut zum Spieler selbst wie der "Professor" bei Ihnen. Wie haben Sie den Namen eigentlich bekommen?
Andre Miller: Ehrlich gesagt mochte ich den Namen am Anfang gar nicht. Aber es hat sich irgendwie durchgesetzt in den letzten Jahren meiner Karriere. Ich bin mir gar nicht sicher, von wem der Name kommt, aber zum ersten Mal habe ich ihn glaube ich gehört, als ich in Washington spielte - irgendjemand im Publikum schrie immer "Professor, Professor", wenn ich den Ball hatte. Das haben meine Teammates natürlich auch gehört und mich im Locker Room dann auch so genannt - und das ist dann geblieben. Am Anfang fand ich das gar nicht so lustig, aber mittlerweile finde ich es cool, dass mich jeder mit dem Ausdruck Professor in Verbindung bringt.
SPOX: Was hat Sie denn am Anfang daran gestört?
Miller: Es hörte sich einfach so an, als wäre ich schon Rentner oder würde irgendwo am College dozieren - nur weil ich schon etwas älter war. (lacht) Ich hatte die Bedeutung am Anfang vielleicht auch etwas falsch verstanden. Sie sagen ja, dass Sie den Namen gut finden: Was bedeutet er denn für Sie?
SPOX: Ich hätte jetzt gesagt, dass damit gemeint ist, dass Sie zwar nie der athletischste oder schnellste Spieler waren, aber vor allem durch Spielintelligenz und Kreativität an Ihre Punkte und Assists gekommen sind.
Miller: Ja, mit der Definition kann ich auch leben. (lacht) So würde ich das selbst auch sehen. Da ich körperlich nicht die Voraussetzungen hatte, musste ich mein Hirn einsetzen und in jeder Situation versuchen, mir irgendwie Vorteile zu verschaffen und die Winkel auszunutzen. In der Hinsicht war ich von mir aus ein Professor.
gettySPOX: Gerade in den letzten Jahren konnte man den Eindruck bekommen, dass Sie das bis ins ganz hohe Alter durchziehen könnten - quasi wie Uncle Drew im echten Leben. Wann haben Sie trotzdem realisiert, dass es an der Zeit war, die Karriere zu beenden?
Miller: Ich hatte schon seit einer ganzen Weile den Plan im Hinterkopf, dass ich bis 40 spielen wollte. Entweder das oder 20 Saisons, das war mein Ziel. Ich habe es bis 40 geschafft und ich hätte auch noch die Möglichkeit gehabt, die 20 vollzumachen [Miller spielte 17 Saisons in der NBA, d. Red.]. Aber ich habe gemerkt, dass ich mich langsam zurückziehen und mehr um familiäre Dinge kümmern wollte. Es war an der Zeit, etwas anderes zu machen, und das war auch die richtige Entscheidung. Ich hatte zu dem Zeitpunkt fast mein ganzes Leben dem Basketball gewidmet und deswegen war ich auch sehr zufrieden mit dem, was ich erreicht habe.
SPOX: Ihr letztes NBA-Spiel ist jetzt bald zwei Jahre her - was fehlt Ihnen am meisten?
Miller: Das Abhängen. Einfach diese Kameradschaft, die dadurch entsteht, dass man die ganze Zeit zusammen unterwegs ist - es entsteht gerade bei Auswärtstrips einfach eine spezielle Bindung, nicht nur zu den Mitspielern, sondern zur gesamten Organisation. Man ist ständig von Leuten umgeben. Dann hört man auf - und das war's! Wenn man sich nicht selbst darum kümmert, dass Kontakt bestehen bleibt, dann geht dieser eben flöten. Ich stehe mit einigen Leuten immer noch in Kontakt, aber natürlich längst nicht mit allen, das wäre so gar nicht möglich. Das kam durch den NBA-Alltag und durch die ganze Routine automatisch. Das vermisse ich schon.
SPOX: Sie haben ja für extrem viele Teams gespielt, in komplett unterschiedlichen Situationen. Sie haben für Playoff-Teams gespielt, aber auch für Teams im Rebuild. Was war denn bei insgesamt 9 verschiedenen Teams die schönste Zeit für Sie?
Miller: Sie hatten alle ihren Reiz - auch weil sie eben total unterschiedliche Herausforderungen dargestellt haben. In Cleveland konnte ich als junger Spieler von Veteranen wie Brevin Knight oder Shawn Kemp lernen, und danach war ich eigentlich schon bei jeder Station ein Veteran - bei den Clippers, in Denver, auch in Philly. Überall war die Situation ein bisschen anders. In Philly zum Beispiel hatten wir eins der jüngsten Teams und es gab keinerlei Erwartungen, aber ich bin rückblickend stolz auf die Zeit, weil wir die Playoffs erreicht haben und ich jungen Spielern wie Kyle Korver, Lou Williams und Andre Iguodala noch ein bisschen was zeigen konnte. Wie gesagt: All diese Situationen hatten ihren eigenen Reiz.
SPOX: Auf was sind Sie noch stolz, wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken?
Miller: Zunächst einmal darauf, dass ich mich fit gehalten habe und immer bereit war - ich habe achtmal die kompletten 82 Spiele einer Saison absolviert. Und ich bin in jedem Team, für das ich gespielt habe, ein Spieler gewesen, der einen wichtigen Beitrag geleistet hat, abgesehen vielleicht von meinen letzten zwei oder drei Jahren. Ich habe mir den Respekt der Coaches und meiner Mitspieler immer wieder verdient, obwohl ich oft entwurzelt wurde.
SPOX: Wenn Sie den Respekt ansprechen - haben Sie das Gefühl, dass Ihre Karriere angemessen wertgeschätzt wird? Ich wusste vor der Vorbereitung auf dieses Interview beispielsweise nicht, dass Sie in der All-Time Top 10 bei den Assists stehen.
Die All-Time Assists Leader der NBA
Position | Spieler | Assists |
1 | John Stockton | 15.806 |
2 | Jason Kidd | 12.091 |
3 | Steve Nash | 10.335 |
4 | Mark Jackson | 10.334 |
5 | Magic Johnson | 10.141 |
6 | Oscar Robertson | 9.887 |
7 | Isiah Thomas | 9.061 |
8 | Gary Payton | 8.966 |
9 | Chris Paul | 8.649 |
10 | Andre Miller | 8.524 |
Miller: Das beschäftigt mich ehrlich gesagt nicht. Ob jetzt jeder Mensch denkt, dass ich einer der besseren Point Guards meiner Zeit war, ist mir ziemlich egal. Mir reicht es, wenn meine Mit- und Gegenspieler Bescheid wissen. Sie sind diejenigen, die wichtig sind. Wenn jemand von ihnen sagt, dass ich zu den meistunterschätzten Spielern meiner Zeit gehöre, reicht mir das in Sachen Genugtuung komplett. Die NBA ist Entertainment und auch ein Beliebtheitswettbewerb - da erfährt natürlich nicht jeder die gleiche Art von Wertschätzung bei den Fans. Vor allem, wenn man eben nicht so spektakulär spielt. Aber das habe ich früh verstanden.
SPOX: Was hat sich in Ihren 17 NBA-Jahren am meisten verändert?
Miller: Da muss man sicherlich die Anzahl der versuchten Dreier zuerst nennen. Als ich 1999 angefangen habe, wäre es noch undenkbar gewesen, so viel von draußen zu ballern. Aber heute werden diese Würfe ja nicht nur versucht, sondern auch viel besser getroffen. Daher ist es an sich eine gute Sache, zumal die Fans das gerne sehen und auch das schnelle Spiel ja gut ankommt. Allerdings wollen viele Fans auch physischen, engen Basketball sehen - das kommt heute manchmal etwas zu kurz. Die Entwicklung kann also gut und gleichzeitig schlecht sein.
SPOX: Mochten Sie den Basketball der frühen 2000er lieber?
Miller: Ach, ich mag eigentlich beides. Ich sehe gerne Oldschool-Basketball, auch das Isolations-lastige Spiel der 90er, mit dem ich aufgewachsen bin. Aber es macht auch Spaß, jemandem zuzuschauen, der Dreier um Dreier wirft und dabei alles trifft. (lacht) Das erinnert dann schon an ein Videospiel - man sollte es nicht unterschätzen, was Leute wie Stephen Curry aktuell anstellen. Und es ist dann einfach auch spektakulär, das begeistert auch mich als Zuschauer.
SPOX: Die Point-Guard-Position im Besonderen hat sich sehr verändert. Mittlerweile sind viele Point Guards die Topscorer Ihrer Teams.
Miller: Das wurde früher nicht so gerne gesehen. Da gab es meistens noch ein ziemlich eindeutiges Jobprofil: Der Point Guard sollte Vorbereiter sein und eigentlich nur dann selbst abschließen, wenn es zeitlich knapp wurde oder der Wurf sehr offen war. Wenn du nicht alle involviert hast, hat dich entweder der Coach rausgenommen oder du wurdest gleich getradet. Heute sieht das natürlich anders aus, auch wenn der Einser trotzdem noch Playmaker sein soll - er soll auch scoren. Man muss dazu sagen, dass es jetzt mehr Top-Athleten und mehr Shooter auf der Position gibt als früher. An sich gibt es ja auch keine klar definierten Positionen mehr - im Idealfall können alle Spieler dribbeln, passen und schießen.
SPOX: Sie haben Ihre Punkte selten per Dreier erzielt und waren stattdessen eher im Post aktiv - gibt es aktuell Guards, die in dieser Disziplin noch richtig gut sind?
Miller: Russell Westbrook ist auf jeden Fall jemand, der noch regelmäßig kleinere Gegenspieler auf den Rücken nimmt. Wobei er nicht unbedingt viel mit der Fußarbeit regelt, sondern einfach schneller und stärker ist als die meisten Guards - er überpowert sie. Wichtig ist aber einfach, dass man einen guten Mix hat. Ich habe ja auch nicht nur aufgepostet, sondern auch viele Midrange-Jumper genommen. Und wenn ein Dreier offen war, habe ich den auch genommen. Ich habe nur einfach nicht so viel draufgehalten, wie es manche Coaches von mir wollten. Allerdings hätten sie dann auch gemeckert, wenn meine Quote in den Keller gegangen wäre! Das ist auch schon anderen Spielern zum Verhängnis geworden.
gettySPOX: Spielt das innerhalb eines Teams wirklich eine Rolle?
Miller: Ja, natürlich. Es gibt heute so viele Möglichkeiten, um zu bewerten, wie gut oder schlecht ein Spieler ist. Ein paar Würfe können deine Quoten sehr beeinflussen und das erste, worauf sich der Stab und das Management dann berufen, sind die Analytics. Alle Entscheidungen, die mittlerweile getroffen werden, haben irgendeinen statistischen Hintergrund, man wird ständig darauf hingewiesen, von wo man werfen soll und von wo lieber nicht, weil dort die Quote nicht gut ist. Das hat jeder im Hinterkopf.
SPOX: Sie sind also kein Fan von den neuen Statistiken?
Miller: Die Analytics schaden dem Basketball. Ich bin davon überzeugt. Basketball ist eigentlich ein instinktives und unkompliziertes Spiel - du bist offen, also wirfst du. Ein Spieler sollte selbst beurteilen können, ob ein Wurf gut oder schlecht ist. Aber jetzt wird dir da von allen Seiten reingeredet und jeder wirft mit irgendwelchen Zahlen um sich. Es ist aber nun mal Basketball, keine Mathematik.
Die Karriere-Statistiken von Andre Miller
Spiele | Minuten | Punkte | Wurfquote | Assists | Rebounds |
1.304 | 30,9 | 12,5 | 46,1 Prozent | 6,5 | 3,7 |
SPOX: Bei wem stimmt Ihrer Meinung nach die statistische Perspektive nicht mit der tatsächlichen Qualität des Spielers überein? Können Sie da ein Beispiel geben?
Miller: Ich habe im Sommer 2017 viel Kritik an den Celtics gehört, weil Leute meinten, Kyrie Irving wäre den Preis nicht wert gewesen. Weil seine Quoten nicht so toll waren, und so weiter. Das fand ich lachhaft - bei einem Spieler wie Kyrie spielen die Zahlen einfach keine große Rolle. Man muss ihn nur spielen sehen und weiß, dass das einer der talentiertesten und besten Jungs in der NBA ist. Die Zahlen, auf die man da von mir aus achten kann, sind Punkte pro Spiel - aber kein Mensch interessiert sich für die Quote. Spielt es etwa keine Rolle, dass Kyrie zum Beispiel viel schwierige Würfe nehmen muss als jemand, der nur in der Ecke steht und offene Dreier nimmt? Kyrie weiß aber zum Glück auch, dass die Quoten egal sind. Deswegen sehe ich ihm auch gerne zu.
SPOX: Haben Sie sonst aktuell "Lieblingsspieler" in der NBA?
Miller: Ja, jede Menge. Ein paar Jungs, mit denen ich zusammengespielt habe, auf jeden Fall auch Russell Westbrook. Ich mag einfach die Spieler, die aus den richtigen Gründen spielen. Ich bin kein großer Fan von denjenigen, denen es nur um den nächsten Vertrag geht und die nur dann hart spielen, wenn die nächste Verhandlung ansteht. Das geht aber nicht nur mir so, sondern vielen Veteranen und Spielern im Ruhestand: Wir haben keinen Respekt vor solchen Spielern, die das große Geld bekommen, ohne es sich vorher verdient zu haben.
SPOX: Gibt es das jetzt mehr als früher?
Miller: Definitiv. Es gab schon immer klassische Contract Year-Player, aber es hat sich jetzt so entwickelt, dass die Spieler zusätzlich auch noch jedes dritte oder vierte Spiel aussetzen und sich schonen, um ja keine Verletzung zu erleiden. Dann siehst du, wie irgendjemand einen Vertrag über 100 Millionen Dollar bekommt, der noch nichts geleistet hat! Es wird für Potenzial gezahlt, nicht für Leistungen. Das war früher anders. Wenn man selbst viel Arbeit investiert hat und dann Leute sieht, die das absolut nicht getan haben, aber diese Deals bekommen, fällt es schwer, das zu respektieren. Man freut sich ja, dass das ganze Geld jetzt verfügbar ist, aber man würde auch gerne sehen, dass es an die richtigen Leute geht.