Am Freitag wird Jason Kidd genau wie Steve Nash, Grant Hill und Ray Allen in die Hall of Fame aufgenommen. SPOX blickt daher auf die Karriere eines sehr ungewöhnlichen Point Guards zurück, der seine Genugtuung erst dann fand, als es schon zu spät dafür schien.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 6. August 2018.
Wenn man nach der definierenden Aktion in der Karriere von Jason Kidd sucht, kann man sich vieles aussuchen - einen Behind-the-Back-Pass etwa, oder seine regelmäßig perfekte Ausführung von Fastbreaks. Eine gute Möglichkeit allerdings wäre auch eine Szene, die sich 2011 ereignete, als Kidd bereits 38 Jahre alt und nicht mehr ganz so weit vom Karriereende entfernt war.
Wir befinden uns am Ende von Spiel 5 der NBA Finals, Kidds Mavericks führen mit 102:100 und haben 1:30 Minuten vor Schluss die Möglichkeit, die Vorentscheidung in Spiel 5 und in der Serie gegen die Heat herbeizuführen. Natürlich wird Dirk Nowitzki gesucht, aber Udonis Haslem ermöglicht keinen Pass. Die Uhr tickt herunter, Jason Terry penetriert und muss eine Entscheidung treffen. Die Zone ist zu, dafür steht Kidd draußen blank. Noch 3 Sekunden auf der Uhr, als Kidd den Ball fängt.
Jason Kidd: Späte Genugtuung in Dallas
Dazu sei erwähnt: Kidd war lange als "Ason" bekannt, weil er nicht werfen konnte. Über seine ersten 13 Saisons hatte er durchschnittlich 33 Prozent von draußen getroffen. Es wurde zwar später besser - ab 2007 steigerte sich Kidd enorm, wenngleich er in der 2010/11er Saison bloß 34 Prozent getroffen hatte.
Dies war jedoch nicht irgendein Wurf, sondern der potenziell wichtigste seiner Karriere - und die vielleicht letzte Chance für Kidd, doch noch den langersehnten Titel zu gewinnen, der ihm so lange verwehrt gewesen war. Der eine oder andere Spieler wäre hier sicherlich ins Zweifeln geraten, Kidd jedoch nicht.
Er fängt den Ball im Rhythmus, drückt ab - und trifft. Es sollte der vorletzte Sargnagel für die Heat sein, rund eine Minute später besorgte Terry von Downtown die Entscheidung. In Spiel 6 komplettierten die Mavericks wenig später einen der größeren Finals-Upsets der NBA-Geschichte - und Kidd komplettierte eine Karriere, die ohnehin schon längst Hall-of-Fame-Material gewesen war.
Jason Kidd: Wenn ich musste, konnte ich werfen
Zweifelsohne ist Kidds Passspiel die Qualität, die den allermeisten Leuten in Erinnerung bleiben wird - nur John Stockton hat mehr Assists verteilt als er und fast niemand hat so eine Präzision, aber auch Kreativität und Flair als Playmaker an den Tag gelegt. Beinahe noch mehr als über seine Court Vision definierte sich Kidd jedoch als Sieger-Typ, weshalb auch sein Wurf in Spiel 5 letztlich niemanden überrascht haben sollte.
Seiner Meinung nach zumindest. "Meine Einstellung war immer: Wenn ich das Spiel mit einem Wurf entscheiden muss, kann ich das tun. Ich war immer der Meinung, dass ich alles tun konnte, was das Team von mir brauchte", sagte Kidd später bei The Undefeated. "Ich wollte mich aber in erster Linie auf meine Stärken konzentrieren."
Das mag eine etwas krude Logik sein, zumal Kidd über viele Jahre tatsächlich zu den schlechtesten Guard-Scorern überhaupt in Sachen Effektivität gehörte. Auch das passt aber irgendwie zum begnadeten Point Guard: Seine gesamte Vita ist von Widersprüchen geprägt.
Selbstlos und egozentrisch?
Kidd war auf dem Court die Definition von selbstlos, seine Mitspieler liebten ihn, weil er sie - ähnlich wie Steve Nash - immer wieder perfekt in Position brachte und einer ganzen Heerschar von durchschnittlichen NBA-Profis hohe Millionenverträge auf dem Tablett servierte. Gleichzeitig war er hinter den Kulissen alles andere als einfach.
Über die Jahre legte sich Kidd mit fast jedem Coach an, zunächst auch mit Rick Carlisle in Dallas, er wurde dreimal getradet, einmal sogar mitten in seiner Blütezeit. Zu Beginn seiner Karriere implodierte das vielversprechende Mavs-Trio aus ihm, Jimmy Jackson und Jamal Mashburn angeblich aufgrund der R&B-Sängerin Toni Braxton (auch wenn Kidd dieses Gerücht unlängst bestritt).
Auch auf dem Court war Kidd ein wandelnder Widerspruch. Er war ein Superstar und beherrschte nahezu alles - als großer Point Guard war er ein exzellenter Rebounder und Verteidiger, dazu über Jahre neben Nash der weltbeste Playmaker, ein Monster im Fastbreak, ein wahres Genie in Sachen Spielintelligenz.
Gleichzeitig war er unheimlich schlecht im Abschluss - seine Quoten (Karriere: 40 Prozent FG) erinnerten an die Guards der 50er und 60er Jahre. Als einer von ganz wenigen Spielern der NBA-Geschichte musste Kidd Spiele dominieren, ohne groß zu scoren. Es spricht für seine Brillanz in allen anderen Belangen, dass er dies über viele Jahre tatsächlich schaffte.
Stephon Marbury: Das genaue Gegenteil
Eins wurde im Lauf seiner Karriere nämlich nie bezweifelt: Kidd machte seine Teams besser. Das war in Phoenix der Fall, das war vor allem auch bei den Nets der Fall, nachdem er im Sommer 2001 für Stephon Marbury nach New Jersey getradet worden war. Am Beispiel Starbury lässt sich recht gut verdeutlichen, warum Kidd so besonders war.
Marbury konnte alles. Er war athletisch und schnell, konnte aus jeder Lage scoren, hatte Spielwitz und Kreativität, physisch gab es nur wenige Guards, die ihn kontrollieren konnten. Ihm fehlte jedoch der Team-Gedanke beziehungsweise der Wille, ein Anführer zu sein. Zu Beginn seiner Karriere forcierte er aus Neid einen Wechsel weg von Kevin Garnett, obwohl dieser der perfekte Gegenpart für sein Spiel hätte sein können.
Marbury sammelte fortan exzellente Statistiken, er machte sein Team aber nicht besser. Die Nets gewannen 2000/2001 angeführt von Marbury (23,9 Punkte, 7,6 Assists) 26 Spiele und gehörten zu den hoffnungsloseren Teams der Liga. Kidd wiederum hatte mit den Suns in derselben Saison 51 Siege geholt, Phoenix entschied sich indes aufgrund einer Anklage wegen häuslicher Gewalt (zu der sich Kidd schuldig bekannte), ihn nach fünf Jahren abzugeben.
Trade nach New Jersey: Die Kehrtwende
Dieser Trade veränderte einiges, auf beiden Seiten. Phoenix hatte zuvor fünf Jahre in Folge die Playoffs erreicht, in der folgenden Saison holten sie mit Marbury 36 Siege. Die Nets drehten sich in die andere Richtung. Im Sommer hatte Kidd noch mit der Ankündigung amüsiert, dass New Jersey die Playoffs erreichen würde - der Point Guard hatte dies allerdings ernst gemeint.
Kidd war nun in seiner Blütezeit und schaffte 01/02 das beinahe Unmögliche: Er führte ein Team aus dem Keller nicht nur zu 52 Siegen, sondern sogar in die NBA Finals. Wie auch im Jahr danach, wenngleich New Jersey sowohl gegen die Lakers als auch gegen die Spurs keine realistische Siegchance hatte. Kidd ließ seine nicht gerade legendären Mitspieler (Kenyon Martin, Keith van Horn und Richard Jefferson waren die besten) besser aussehen, als sie in Wirklichkeit waren - er servierte, er inspirierte, er führte an. 2002 wurde er nach Tim Duncan sogar Zweiter im MVP-Voting.
"Er hat Mitspieler dazu inspiriert, Selbstvertrauen zu haben und seinem Beispiel zu folgen, ohne dass er die ganze Zeit reden musste", erklärte der damalige Nets-GM Rod Thorn später nba.com. "Jeder von ihnen würde heute zugeben, dass er sie auf ein neues Level gehoben hat, mit seiner Spielweise und seiner Einstellung in jeder Trainingseinheit."
Albträume von geplatztem Wechsel zu den Spurs
Es ist schwierig zu verdeutlichen, wie bemerkenswert diese beiden Finals-Teilnahmen der Nets waren. Ein ansatzweise passender Vergleich wären vielleicht die Cavs der Saison 06/07, bei denen abgesehen vom jungen LeBron James kein Spieler als Star bezeichnet werden durfte (sorry, Mo Williams). Im Gegensatz zu LeBron verpasste Kidd jedoch den Absprung, der seine Karriere komplett verändert hätte.
Im Sommer 2003 hatte Kidd die Möglichkeit dazu. Er war Free Agent, der amtierende Meister San Antonio noch nicht vollends überzeugt von seinem jungen Point Guard Tony Parker. Beide Parteien trafen sich und verhandelten, am Ende des Meetings sagte Kidd tatsächlich auch zu - doch auf seinem Rückflug entschied er sich dann doch wieder um und verlängerte stattdessen in New Jersey.
"Ich dachte, ich werde ein Spur. Ich war bei ihnen und habe zugesagt", erinnerte sich Kidd später. "Auf meinem Heimflug habe ich dann kalte Füße bekommen. Ich habe manchmal immer noch Albträume davon. Ich hätte dort zwei oder drei Titel holen können."
Jede Menge Awards, kein Titel
Daraus wurde nichts. Während die Spurs mit Parker 2005, 2007 und 2014 tatsächlich drei weitere Titel holten, entwickelten sich die Nets rückläufig. Im Dezember 2004 wurde mit Vince Carter per Trade zwar erstmals ein legitimer Co-Star für Kidd geholt, mehr als die zweite Runde erreichte Kidd in New Jersey aber nicht mehr. Während Nash in Phoenix seine Blütezeit mit zwei MVP-Awards erlebte, schien Kidds Zeit trotz seines noch immer hohen Niveaus schnell abzulaufen.
Es gab zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel mehr, dass Kidd ein Hall-of-Famer sein würde. Anfang 2008 war er zehnmaliger All-Star, hatte die Liga fünfmal bei den Assists angeführt, war Rookie of the Year, fünfmal im All-NBA First Team und gleich neunmal im All-Defensive Team gewesen. Kidd war der beste oder zweitbeste Aufbau seiner Zeit, an diesem Status gab es wenig zu rütteln. Und doch fehlte etwas.
Kidd hatte keinen Titel, auch die Erfolge mit den Nets gerieten relativ schnell fast in Vergessenheit. Sie ereigneten sich in einer nicht gerade glorreichen Zeit in der NBA beziehungsweise der Eastern Conference. Mit den 49 Siegen, die New Jersey 2003 als Finals-Team geholt hatte, hätten sie im Westen den siebten Platz belegt, im Osten waren sie Zweiter. Die Musik wurde von den Lakers und Spurs gespielt, im Osten wurde eher darum gespielt, wer in den Finals eine Packung kassieren durfte.
Auch die Mavericks waren verzweifelt
Die Krönung ließ daher auf sich warten - und sie wäre wohl auch nicht gekommen, wenn nicht in Dallas ein Superstar und seine Franchise ähnlich verzweifelt gewesen wären. Die Mavs hatten ihre größte Chance ebenfalls verzockt, als sie 2006 nach 2-0-Vorsprung in den Finals noch gegen Miami verloren. Nun hatten sie in Dirk Nowitzki zwar immer noch einen der besten Spieler der Liga, aber spätestens nach dem Erstrundenaus 2007 gegen Golden State ein wenig ihren Weg verloren.
Dallas wollte etwas verändern und stieß dabei ausgerechnet auf den Spieler, der 1994 seine Profi-Karriere bei ihnen begonnen hatte, aber bereits am 2. Weihnachtstag 1996 weitergetradet worden war. Für ein Paket mit unter anderem zwei Erstrundenpicks, Devin Harris und Keith Van Horn holte Dallas den "verlorenen Sohn" im Februar 2008 zurück nach Big D und legte damit den Grundstein für den Erfolg im Jahr 2011.
Jason Kidd: Perfekter Partner für Dirk Nowitzki
Zwar funktionierte nicht auf Anhieb alles - Kidd geriet sowohl mit Avery Johnson als auch Carlisle mehrfach aneinander, weil er sich nicht mikro-managen lassen wollte, zudem war er mittlerweile mindestens einen Schritt langsamer und kein Superstar mehr - aber insbesondere mit Nowitzki verstand er sich auf dem Court prächtig. "Das war leicht. Du hast einen Spieler, der gerne passt, und einen, der gerne wirft", sagte Kidd später über das Zusammenspiel.
"Als Kidd kam, wurde das Spiel viel einfacher", sagte derweil Nowitzki. "Ich hatte wieder mehr Spaß, wir sind mehr gerannt, ich hatte offene Würfe. Er sieht Dinge, bevor sie passieren, deswegen spielt er den Pass schon, wenn man noch gar nicht offen ist. Dann kommt er genau im richtigen Moment."
Nowitzki und Kidd brauchten einander und machten sich gegenseitig besser. In den Playoffs 2011 kam dann alles zusammen - und Kidd konnte noch einmal zeigen, was ihn als Basketballspieler so besonders machte. Er war längst kein Top-Athlet mehr wie in jungen Jahren, er penetrierte nur noch selten und war offensiv häufig ein reiner Passer und Jumpshooter (wirklich!). Aber er dachte das Spiel noch immer besser als fast jeder andere.
Ideale Playoffs 2011
Das zeigte sich gegen die Lakers, als er Kobe Bryant in der Defense vor allem mit seinen schnellen Händen bisweilen in den Wahnsinn trieb, es zeigte sich gegen OKC, als er in Spiel 4 Russell Westbrook per Finte hochsteigen ließ und dann eiskalt den Go-Ahead-Dreier versenkte, genau wie in Spiel 4 der NBA Finals, wo er nebenbei etliche der wichtigsten defensiven Plays gegen sowohl LeBron als auch Dwyane Wade lieferte.
Kidd wurde 2011 zum ältesten Starting Point Guard eines Championship-Teams in der Geschichte der NBA - und fand damit doch noch seine Vollendung. "Damit ist ein Traum wahr geworden", sagte Kidd nach seiner 17. Saison. "Meine Teammates verdienen das ganze Lob. Ich bin einfach nur froh, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war."
Fliegender Wechsel zum Head Coach
Nun hätte man meinen können, dass der Sommer 2011 perfekt gewesen wäre, um die Karriere zu beenden. Kidd allerdings blieb auch danach eine Art Getriebener. Er spielte noch ein Jahr für die Mavs, dann verärgerte er Mark Cuban, als er im Sommer 2012 noch einmal wechselte und prompt dazu beitrug, dass die Knicks zum ersten und einzigen Mal seit dem Jahr 2000 eine Playoff-Serie gewinnen konnten.
Auch danach, im Alter von nun 40 Jahren, hätte Kidd noch Angebote als Spieler gehabt. Er entschied sich jedoch für ein ungewöhnliches Angebot aus Brooklyn, wo er direkt als Head Coach ein gewisses Experiment um Paul Pierce, Kevin Garnett, Deron Williams, Joe Johnson und Brook Lopez betreuen durfte. Es lief nicht glatt, es sprach aber für Kidds Ruf und seinen Basketball-IQ, dass er sozusagen noch als aktiver Spieler direkt zum (mächtigen) Head Coach gemacht wurde.
Jason Kidd: Ein "NBA-Lifer"
Bis er vergangene Saison von den Bucks entlassen wurde, hat Kidd über 24 Jahre ohne eine einzige Unterbrechung NBA-Basketball gelebt. Insofern erscheint es fast sicher, dass auch die Aufnahme in die Hall of Fame nur ein Zwischenstopp sein wird - lange wird Kidd der Liga sicherlich nicht fernbleiben.
Blickt man nur auf die Spielerkarriere, ist Kidd sicherlich einer der besten und gleichzeitig ungewöhnlichsten Point Guards der Geschichte. "Ich glaube nicht, dass jemals ein NBA-Spieler so viele Spiele dominiert hat, ohne zu scoren", sagte sein Ex-Mitspieler Jefferson bei ESPN über ihn.
Kidd beherrschte den wichtigsten Aspekt des Basketballs nicht, dafür meisterte er jede andere Kategorie. Sein Beispiel zeigt: Es gibt längst nicht nur einen Weg in die Ruhmeshalle. Selbst wenn man bei Kidd den Gedanken nicht loswird, dass er sich auf seinem Weg das eine oder andere Mal selbst im Weg stand.