Beinahe könnte man annehmen, dass Giannis Antetokounmpo die höchste Ehre im (NBA-)Basketball am liebsten nicht angenommen hätte. Mitte Juli bat er Fans bei einer Feier darum, ihn von nun an nicht mehr "MVP" zu nennen, Anfang August sagte er dann zu FIBA.com, dass er den Award jederzeit für eine Goldmedaille mit Griechenland eintauschen würde.
Das funktioniert zwar nicht, gewährt aber trotzdem einen interessanten Einblick in die Perspektive des 24-Jährigen nach der bisher besten Saison seiner noch jungen Karriere. Giannis sieht sich nicht als fertiges Produkt an, seine eigene Entwicklung sieht er ohnehin erst zu etwa 60 Prozent abgeschlossen. Und auf dem bisher Erreichten ausruhen will er sich schon gar nicht.
Giannis Antetokounmpo: Noch lange nicht am Ziel
"Ich will mich nicht komfortabel fühlen", sagte Giannis unlängst zu SLAM. "Es ist gut, sich unkomfortabel zu fühlen. Wenn man außerhalb seiner Komfortzone ist, wird man besser. Man verbessert sich, man lernt."
Für die Milwaukee Bucks, für die Griechen sind diese Aussagen gute Zeichen. Für alle anderen kommen sie einer Drohung gleich - wenn sie auch nicht unbedingt überraschen. Ohne diese Mentalität wäre Giannis weder der MVP noch der wohl beste Spieler bei der anstehenden WM in China geworden.
Von den Straßen Athens ...
Antetokounmpo hat schon jetzt einen faszinierenden Weg hingelegt. Der "Greek Freak" hatte als Sohn nigerianischer Einwanderer in Griechenland über die ersten 18 Jahre seines Lebens keine Staatsangehörigkeit oder Papiere und kaum Mittel, schon als Teenager verkaufte er mit seinem älteren Bruder Thanasis DVDs, Uhren oder Sonnenbrillen in den Straßen Athens, um die Familie mit durchzubringen.
Thanasis war es auch, der ihn 2007 zum Basketball brachte - wobei beide sich am Anfang sogar noch ein Paar abgewetzte Schuhe teilen mussten und oft in der entlegenen Trainingshalle in Zografou schlafen mussten, weil der Fußweg über rund acht Kilometer zurück nach Hause im Dunkeln zu gefährlich gewesen wäre.
Basketball sollte sich trotzdem als das goldene Ticket für die Familie entpuppen, auf das Thanasis gehofft hatte, weil sein jüngerer Bruder sich anstecken ließ und schon bald nicht nur ihn, sondern auch alle restlichen Spieler bei Filathlitikos überragte und sich über die Landesgrenzen hinaus einen (selten richtig buchstabierten) Namen machte.
Giannis Antetokounmpo: In sechs Jahren zum MVP
Der junge Giannis besaß zwar kein Feintuning, aber eine so einzigartige Kombination aus Länge, Kraft und Schnelligkeit, dass zwei Jahre in der dritten und zweiten griechischen Liga trotz mäßiger Konkurrenz und noch mäßigerem Videomaterial reichten, um Top-Klubs aus Europa und den USA auf den Plan zu rufen. Im Sommer 2013 wurde Giannis in der ersten Runde gedraftet und nahm fast seine gesamte Familie mit nach Milwaukee.
Die Bucks setzten dabei gewisse Hoffnungen in das mysteriöse Talent, niemand dachte jedoch, dass Giannis binnen weniger Jahre zu einem der besten NBA-Spieler reifen würde. Doch aus dem Rookie, der sich bei einer Pressekonferenz noch fast kindlich über den ersten Smoothie seines Lebens freute, wurde schnell etwas ganz anderes.
Nicht zuletzt ist er seit seiner Ankunft in der NBA noch einmal rund 13 Zentimeter gewachsen und hat über 23 Kilo Muskelmasse draufgepackt. Auch sein Spiel ist von Jahr zu Jahr gewachsen - obwohl er noch immer klaffende Lücken (wie den Sprungwurf) in seinem Spiel hat.
Sechs Jahre lang spielte er Basketball, bevor er gedraftet wurde, am Ende seines sechsten Jahres in der NBA wurde er zu ihrem wertvollsten Spieler gewählt.
Die NBA-Statistiken von Giannis Antetokounmpo
Saison | Punkte | Rebounds | Assists | Steals | Blocks | Awards |
13/14 | 6,8 | 4,4 | 1,9 | 0,8 | 0,8 | 2nd Team All-Rookie |
14/15 | 12,7 | 6,7 | 2,6 | 0,9 | 1,0 | |
15/16 | 16,9 | 7,7 | 4,3 | 1,2 | 1,4 | |
16/17 | 22,9 | 8,8 | 5,4 | 1,6 | 1,9 | MIP, All-Star, 2nd All-NBA, 2nd All-Defense |
17/18 | 26,9 | 10,0 | 4,8 | 1,5 | 1,4 | All-Star, 2nd All-NBA |
18/19 | 27,7 | 12,5 | 5,9 | 1,3 | 1,5 | MVP, All-Star, 1st All-NBA & 1st All-Defense |
Giannis Antetokounmpo: Stillstand ist Rückschritt
Antetokounmpo hat seine Statistiken in den wichtigen Kategorien bisher in jeder Saison steigern können, das vergangene Jahr stellte mit 60 Siegen und eben dem MVP-Award das bisherige Highlight dar. Doch in den Playoffs wurde Giannis mit einem Spieler in Kawhi Leonard konfrontiert, der zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere offensiv wie defensiv noch ein bisschen weiter entwickelt war und das direkte Duell klar für sich entschied.
Mit seinem wackligen Wurf und dem noch nicht ganz ausgereiften Ballhandling konnte Antetokounmpo dem Spiel noch nicht so seinen Stempel aufzwingen wie Leonard, der zudem die Erfahrung einer gewonnen Meisterschaft mit San Antonio mitbrachte. Für Giannis und Co. war es der erste tiefe Playoff-Run und auch eine 2-0-Führung in der Serie reichte nicht, um diese zu gewinnen.
Milwaukee schied in den Conference Finals aus, Leonard führte die Raptors zur Meisterschaft und Antetokounmpo zurück ins Labor. Unkomfortabel war das mit Sicherheit, doch wie Antetokounmpo selbst betonte, ist das genau das richtige, um den Hunger zu wahren und besser zurückzukommen. Nächstes Jahr sollen die Finals erreicht werden, Stillstand ist gleichbedeutend mit Rückschritt.
"Es ist verrückt, dass er bei dem Level, den er jetzt schon erreicht hat, immer noch einen oder zwei Sprünge machen kann. Er kann noch viel besser werden, und das ist ein furchteinflößender Gedanke", sagte Brook Lopez, sein Mitspieler bei den Bucks, kürzlich zu HoopsHype.
Giannis Antetokounmpo will immer für Griechenland spielen
Lopez sagte dies in Bezug auf die NBA, allerdings kann er es in diesem Sommer auch aus Sicht von Team USA sagen. Die Amerikaner stellen ausdrücklich nicht den besten Spieler der WM, denn dieser spielt für Griechenland, und das mit einer entschieden anderen Einstellung als die meisten US-Stars, bei denen es eine Absage nach der anderen hagelte.
"Wenn ich gesund bin wie in diesem Sommer, werde ich immer für die Nationalmannschaft spielen", versicherte Giannis kürzlich noch einmal. Schon in der Zwischenrunde werden sich beide Teams wohl begegnen - dann wird sich zeigen, wie viel die Griechen mit Antetokounmpo schon möglich ist. Bisher war WM-Silber 2006 das Maximum für Hellas.
Vielleicht muss sich der Greek Freak ja gar nicht zwischen dem MVP-Award und der Goldmedaille entscheiden, vielleicht kann er auch beides haben. Die Griechen sind nicht DER Topfavorit - aber Giannis hat auf seinem Weg bis hierhin schon größere Herausforderungen gemeistert. Und: Einen Kawhi sucht man beim derzeitigen US-Team wie auch beim restlichen Turnierfeld vergeblich.