Devonte' Graham ist eine der ganz großen Überraschungen der laufenden Saison und voll im Rennen um die Auszeichnung des Most Improved Player. Dass der 24-jährige Sophomore diese Entwicklung hinlegen würde, hat er sich nicht einmal selbst zugetraut. SPOX und DAZN haben den Combo-Guard zum Gespräch getroffen.
Wenn die Charlotte Hornets in den letzten Jahren große mediale Beachtung bekamen, war das meistens auf einen von zwei Umständen zurückzuführen: Besitzer Michael Jordan war unzufrieden oder Star-Player Kemba Walker hatte mal wieder das Team im Alleingang getragen.
Mit dem Abgang von besagtem Walker in der Offseason befürchtete man in North Carolina schon das Schlimmste und nicht wenige Experten hatten die Hornets vor der Saison als Top-Kandidaten für den ersten Pick im kommenden Draft auf der Rechnung.
Mit P.J. Washington fand zwar ein verheißungsvoller Rookie den Weg in die Queen City, vor allem der dicke Vertrag für Terry Rozier wurde aber von vielen Seiten als Panikverpflichtung angesehen. Niemand traute dem 25-jährigen Backup Point Guard der Boston Celtics zu, die große Lücke im Alleingang zu schließen, die Walkers Abgang hinterließ - auf und neben dem Court. Dank Devonte' Graham ist das aber auch gar nicht nötig.
gettyDevonte' Graham: Die bisherige Karriere
Graham war einer der klassischen Kandidaten, die im Draft tief fielen, weil sie von vielen Teams schon von vornherein abgestempelt wurden. Zwar wurde Graham in seinem Draft-Jahr einstimmig zum Big 12 Player of the Year und ins First-Team All-American gewählt, sein "fortgeschrittenes Alter" (23) und die vermeintlich geringe Upside schreckten aber viele Franchises ab, weshalb ihn erst die Hawks in der zweiten Runde an 34. Stelle zogen und direkt in seinen Heimatstaat zu den Hornets verfrachteten.
Dass ihn dort nicht besonders viel Spielzeit erwarten würde, war keine große Überraschung. Hinter Walker und dem neuverpflichteten Tony Parker war Graham nur die dritte Option auf der Eins und durfte zumeist nur in der Garbage Time NBA-Luft schnuppern. Da er aber weder aus dem Feld (34,3 Prozent) noch aus dem Dreierland (28,1 Prozent) besonders gute Zahlen auflegte, war sein Bewerbungsportfolio für mehr Spielzeit dementsprechend dünn.
Seine Spielpraxis durfte/musste er daher vor allem in der G League sammeln, wo er seine enormen Anlagen regelmäßig unter Beweis stellte. 23,3 Punkte legte er in seinen 13 Einsätzen im Schnitt auf und zeigte, dass vor allem sein gefährlicher Dreier aus College-Tagen auch in der NBA zu seinem Arsenal gehören kann (38,3 Prozent bei 9,8 Versuchen pro Spiel) - und wie sich bald herausstellen sollte, auch bald sein würde.
Devonte' Graham: Die Veränderungen in dieser Saison
"Ich mache fast jeden Tag ein Nickerchen. Zumindest versuche ich es. Ich will sicherzustellen, dass ich mich ausruhe. Ich trinke auch viel mehr Wasser", gab Graham zuletzt zu Protokoll, als er nach seinen veränderten Routinen im Gegensatz zu seiner Rookie-Saison befragt wurde. "Ich will sicher gehen, dass ich bereit für das Spiel bin." Bereit für die große Bühne scheint der Zweitrundenpick ohne Frage zu sein.
Während die gesamte Stadt noch um den verlorenen Sohn trauerte, hätte die Situation für Graham gar nicht besser sein können. Mit Walker, Parker und Jeremy Lamb verließen auf einmal seine drei ärgsten Konkurrenten auf den kleinen Positionen das Team, während mit Rozier nur ein vernünftiger Ersatz nachkam - eine einmalige Chance.
Am Anfang noch von der Bank kommend, ließ der 24-Jährige Coach James Borrego gar keine andere Wahl, als ihn nach zehn Spielen und zwei Double-Doubles in Folge an die Seite von Rozier in die Starting Five zu stellen. Seither dreht Graham noch mehr auf, hat sich zur Scoring-Option Nummer eins gemausert und führt sein Team in Minuten (35,2), Punkten (18) und Assists (7,7) an.
"Ich habe mich selbst und viele andere Leute überrascht", gab Graham im Gespräch mit SPOX und DAZN zu. Seiner Meinung nach läge das vor allem daran, dass er sich darin verbessert hat, "gegnerische Defensiven zu lesen, wie sie mich verteidigen und wie sie zum Beispiel im Pick'n'Roll positioniert sind. Es ist wie eine Partie Schach, in jedem Spiel rauszufinden, wie ich die Defense am besten attackieren kann."
Dies lässt sich auch in Zahlen belegen. Der ehemals als zu klein und schmächtig für die NBA angesehene Point Guard ist heute einer der gefährlichsten Shotcreator der Liga - für sich selbst und für seine Teamkollegen. 9,4 Mal pro Spiel drückt Graham von Downtown ab, womit er ligaweit auf Rang fünf rangiert, und trifft davon starke 37,7 Prozent. Dabei ist auffällig, wie facettenreich Grahams Spiel ist.
Er trifft über 40 Prozent seiner Dreier aus dem Catch-and-Shoot, hat mit 34,7 Prozent die achtbeste Quote was Pull-Up-Dreier angeht (min. vier Versuche pro Spiel) und belegt Platz fünf in Sachen Punkte durch unassistierte Dreier (234) hinter Harden, Lillard, Young und Doncic - keine allzu schlechte Gesellschaft.
Auch als Assistgeber brilliert Graham und stellt dadurch Backcourt-Partner Rozier (dem diese Rolle eigentlich angedacht war) zunehmend in den Schatten. 7,7 Dimes verteilt er pro Spiel (Platz 7 der Liga), spielt die drittmeisten Pässe der Association (mehr als LeBon!) und ist auch in Pick-and-Roll-Situationen immer gefährlich. 0,90 Punkte pro Possession bei 9,3 Versuchen pro Spiel ist ein stabiler wert - vor allem in Anbetracht seiner oft "limitierten" P&R-Partner.
Devonte' Graham: Seine Schwächen
Natürlich ist aber auch Graham innerhalb von einer Saison nicht zum rundum perfekten Spieler gereift. Sein größtes Manko ist ohne Frage der Abschluss in Ringnähe. Er trifft nur grauenhafte 36,3 Prozent seiner Würfe im 2-Punkte-Bereich - das ist der schlechteste Wert unter allen Startern der Liga und der sechstschlechteste überhaupt. Bei seinen elf Drives zum Korb pro Spiel trifft er nur 31,1 Prozent seiner Würfe, was ebenfalls den klar letzten Platz der Association bedeutet.
Oft wirkt er dabei wie ein Zug ohne Bremsen. Zwar hat er die Möglichkeit, Gegner durch seinen Speed zu schlagen, oft stürmt er aber nur mit dem Kopf unten gerade durch die Zone, um schwierige Layups oder hektische Floater zu nehmen. Seine geringe Größe und seine schmächtige Statur machen ihn dabei zu einem leichten Ziel für blockwütige Big Men.
Gleichzeitig ist Graham bei seinem Spezialgebiet, dem Dreier, noch zu limitiert. Der 24-Jährige hat weder einen funktionierenden Step-Back-Dreier, noch einen brauchbaren Pull-Back-Dribble in seinem Repertoire. Die Folge: Wenn Verteidiger zum Close-Out am Perimeter rausrücken, weiß sich er sich oft nur mit einem schnellen Drive zum Korb zu helfen, anstatt sich Platz für einen offenen Jumper zu schaffen.
Seine zu Beginn der Saison überragende Effizienz ist zudem merklich zurück gegangen, was auch daran liegt, dass gegnerische Verteidigungen seinen Namen mittlerweile ganz oben auf dem Scouting-Bericht stehen haben, nachdem sie ihn zuvor gar nicht kannten.
Graham gab dies gegenüber SPOX und DAZN zu: "In jedem Spiel wird etwas anderes versucht. Manche switchen Pick'n'Rolls nicht mehr, manche versuchen, mich gar nicht an den Ball kommen zu lassen, manche verteidigen mich über das ganze Feld, wollen mich müde machen. Es gibt immer etwas anderes und meine Herausforderung ist es, in jedem Spiel das beste Gegenmittel zu finden. Dieser Respekt ist eine gute Sache, aber es wird dadurch auch schwerer."
Devonte' Graham - Im besten Fall ein Spieler wie: Kemba Walker
Graham mit seinem "Vorgänger" zu vergleichen ist so naheliegend wie passend. Walker entspricht Graham nicht nur vom Körperbau her, sondern auch von der Spielweise. Ein kleiner Guard mit gutem Ballhandling, einem stets offenen Auge für den freien Mitspieler und einem gefährlichen Wurf aus jedem Winkel.
Auch seine Fähigkeiten, sich abseits des Balls zu bewegen, erinnern stark an den einstigen Superstar der Hornissen, der Graham vergangene Saison unter seine Fittiche nahm und als eine Art Mentor agierte. "Devonte' zeigt allen in der NBA, was für ein guter Spieler er ist", lobte Walker erst kürzlich.
Für Graham selbst war die eine Saison an der Seite von Walker in jedem Fall Gold wert. "Ich habe viel von ihm gelernt, einfach dadurch, dass ich ihm zugesehen habe. Ich sehe ihm bis heute zu. Entweder live oder wenn das nicht geht im Video-Studium, einfach um seine Moves zu lernen und zu sehen, was ich noch übernehmen kann. Er ist im Moment einer der besten überhaupt und man versucht immer, von den Besten zu lernen", sagte Graham im Gespräch mit SPOX und DAZN.
Die Stichprobe ist zwar noch klein und die Bilanz der Hornets (erneut) nicht besonders rosig (derzeit 16-33), aber Graham ist auf einem guten Weg, nahtlos in die großen Fußstapfen von Walker bei den Hornets zu treten. Ein heißer Kandidat auf den Most Improved Player-Award ist er bereits - die nächste Herausforderung lautet nun, von einer Überraschung zu einem konstanten, verlässlichen Star zu werden.
Die NBA-Statistiken von Devonte' Graham
Saison | Spiele | Minuten | Punkte | FG% | 3FG% | Assists | Turnover |
18/19 | 46 | 14,7 | 4,7 | 34,3 | 28,1 | 2,6 | 0,7 |
19/20 | 49 | 35,2 | 18 | 37,2 | 37,7 | 7,7 | 3 |