Es gibt nur einen Spieler, der die sportfreie Zeit retten kann. Nur ein Team, das den Diskurs auf Social Media bestimmt - und das 22 Jahre später. Dass ESPN und Netflix ihre Dokumentation "The Last Dance" über die Jordan-Ära bei den Chicago Bulls um zwei Monate vorgezogen haben, ist ein Geschenk vor allem für Basketball-Fans, aber nicht nur für diese; schließlich hat dieses Team mehr als jedes andere NBA-Team jemals die Grenzen seiner Sportart gesprengt.
Schlagartig wurde man durch die beiden ersten Episoden, die seit Montag in Deutschland zu sehen sind, zurück in die Ära dieser Dynastie katapultiert und bekam einen Vorgeschmack auf die wohl tiefsten Einblicke, die man zu diesem Team je bekommen wird. Fast alle Protagonisten sind dabei, um in Interviews darüber zu sprechen, was das Ganze natürlich aufwertet.
Eine Kernfigur wiederum fehlt: Jerry Krause, der Architekt dieses Teams. Es wäre nicht anders gegangen, denn Krause verstarb im März 2017, seine Aufnahme in die Hall of Fame erfolgte posthum. Bedenkt man aber, dass Jordan ein hohes Maß an Kontrolle über die Produktion dieser Dokumentation hatte, ist damit zu rechnen, dass Krause auch sonst nicht zu Wort gekommen wäre.
Krause, das wurde mehr als deutlich, gilt für große Teile dieses Teams als Antagonist. Blickt man auf die Entstehung der Bulls und seine Rolle dabei, ist das eigentlich tragisch - wenn auch verständlich. Vermutlich gab es in der Geschichte der Liga nicht allzu viele General Manager, die besser waren als Krause; vermutlich hat aber auch kaum einer jemals seine Rolle so falsch interpretiert.
"Er konnte sich nicht selbst aus dem Weg gehen"
Blickt man auf den Bulls-Kader von 1997/98, sind die Fingerabdrücke von Krause überall: Fast jeder Spieler und Coach wurde von ihm verpflichtet. Er war derjenige, der dem damaligen CBA-Coach Phil Jackson 1987 eine Chance als Assistant Coach gab. Er lotste Scottie Pippen an dessen Draft-Tag von Seattle nach Chicago, er holte Bad Boy Dennis Rodman via Trade. Er baute ein modernes Team, das die Stärken seines Superstars Jordan überragend ergänzte.
Krause gewann dafür in seiner Laufbahn (1985 bis 2003 bei den Bulls) zwei Awards als Executive of the Year, genoss zwar wenig Sympathien, ligaweit aber zumindest großen Respekt. Allerdings nicht von seinem eigenen Team. Mit zunehmender Zeit brachte er nahezu jeden gegen sich auf. "Jerry konnte sich nicht selbst aus dem Weg gehen", sagte Steve Kerr in der Doku dazu vielsagend.
Das Vertrauen der vermeintlich wichtigsten Person, Besitzer Jerry Reinsdorf, verlor Krause kurioserweise nie. Das Vertrauen der eigentlich wichtigsten Person, Jordan, ging dagegen schon im ersten gemeinsamen Jahr flöten. Und so richtig wurde diese Beziehung nie wieder repariert.
Michael Jordan suchte den Konflikt
Wer sich näher mit Jordan befasst, weiß, dass dessen Leben im Prinzip aus Herausforderungen, Kleinkriegen und Antipathien bestand, ob MJ sich diese nun selbst ausgedacht hatte oder nicht. Jordan redete sich ein, dass andere ihn nicht respektierten, dass sie vielleicht wähnten, besser als er zu sein, und zog daraus Motivation.
Er witterte überall Feinde. Die "Mission" seines Lebens bestand darin, diese zu besiegen, koste es, was es wolle. Sein Siegeshunger war ebenso legendär wie krankhaft, wie viele Mitspieler, die von ihm über die Jahre tyrannisiert wurden, bezeugen können (und bezeugten). Dass er zudem nachtragend war, zeigte sich für alle Öffentlichkeit bei seiner Aufnahme in die Hall of Fame.
Krause war bei dieser Zeremonie wenig überraschend nicht im Gebäude und MJ ließ es sich nicht nehmen, zu erwähnen, dass er ihn eben auch nicht eingeladen habe. "Er hat gesagt: 'Nicht Spieler gewinnen Meisterschaften, Organisationen gewinnen Meisterschaften.' Ich habe gesagt: 'Ich habe nicht gesehen, wie Organisationen in Utah mit einer Grippe gespielt haben'", scherzte Jordan und spielte damit natürlich auf sein legendäres "Flu Game" an.
Jordan vs. Krause: Tanking als No-Go
Das obige Zitat verdeutlicht recht gut, was Jordans Wahrnehmung von Krause war, obwohl dieser im Nachhinein beteuerte, das Wort "allein" hätte der Reporter einfach weggelassen. Für MJ gab es das Team, mit dem er gewinnen wollte, und sozusagen "die da oben", die dieses Vorhaben im schlimmsten Fall sogar sabotieren könnten.
Der Ärger zwischen beiden begann in Jordans zweiter Saison, Krauses erster als Verantwortlicher bei den Bulls. Jordan hatte sich im dritten Spiel der Saison den Fuß gebrochen und fiel folglich zum einzigen Mal in seiner Karriere lange aus, die Bulls dümpelten vor sich hin und hatten in der Aussicht, einen weiteren Lottery-Pick zu bekommen, auch keine Eile, MJ wieder auf den Court zu bekommen.
Dieser sah das freilich anders, hielt sich am Campus seiner Universität North Carolina fit und spielte längst wieder 5-gegen-5, als die Franchise noch dachte, er würde lediglich Reha-Übungen machen. Als er auf sein Comeback drängte, verordneten die Bulls dem damaligen Coach Stan Albeck, Jordan zunächst höchstens sieben Minuten pro Halbzeit spielen zu lassen - sonst würde er gefeuert.
MJ witterte hier, nicht zu Unrecht, eine Mentalität, die ihm gar nicht passte: Krause wollte tanken. Aus Sicht der Organisation übrigens sinnvoll. Chicago war auf Kurs für 30 Siege, hatte außer Jordan wenige Spieler von Qualität im Kader. Nur besaß Krause nicht das diplomatische Talent, um Jordan so etwas auch nur ansatzweise zu vermitteln - stattdessen setzte er ihm einfach ein Verbot vor. Ein großer Fehler.