Steve Kerr war Zeit seiner Spieler-Karriere ein Nebendarsteller, trotzdem hat er mittlerweile satte acht Championship-Ringe vorzuweisen. Prügeleien mit Michael Jordan und Draymond Green oder Streitereien mit Donald Trump sind jedoch nur Teilaspekte seiner persönlichen Geschichte.
Es mutete ein wenig absurd an, als Michael Jordan in "The Last Dance" über seine legendäre Auseinandersetzung mit Steve Kerr referierte und beschrieb, wie sich dieser seinen "Respekt" erarbeitete, weil er sich nicht ohne Gegenwehr von MJ demütigen ließ. Er musste seine Mitspieler abhärten, klare Sache, so machen das Siegertypen eben.
Absurd wirkte das nicht deshalb, weil die Doku diesen Umgang unter Teammates ein Stück weit glorifizierte - die Geschichte wird aus Jordans Perspektive erzählt, das ist klar (und sehr unterhaltsam!).
Absurd schien eher, dass es eine solche Lappalie brauchte, damit Jordan Kerr respektieren konnte. Vermutlich kannte er die einzigartige Geschichte seines Mitspielers zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Dabei zierte dessen große Familientragödie bereits 1984, als selbst Jordan noch nicht in der NBA war, die Titelseite der New York Times.
New York TimesSteve Kerrs Vater wurde Opfer eines Anschlags
Kerr kam 1965 als drittes Kind zweier Akademiker in Beirut zur Welt. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er zwar zum Teil im kalifornischen Pacific Palisades, zu einem recht großen Teil allerdings auch im Libanon und anderen Ländern des Mittleren Ostens. Sein Vater Malcolm Kerr fungierte jahrelang als Leiter der amerikanischen Universität in Beirut, nachdem er zuvor unter anderem auch in Kairo und Aleppo gelebt hatte.
Mitte 1983 besuchte Steve im Alter von 17 Jahren zum letzten Mal die Stadt, in der er geboren wurde. Da Beirut bombardiert wurde, konnte er nicht zurückfliegen, musste über Syrien bis nach Amman in Jordanien mit dem Auto ausreisen. Er flog zurück in die USA, um sich dort seiner gerade beginnenden, nur bedingt erfolgversprechenden Laufbahn an der University of Arizona zu widmen.
Nur sechs Monate später wurde Malcolm Kerr von Attentätern zweimal in den Kopf geschossen. Nicht als zufälliges Opfer, sondern als Ziel eines terroristischen Anschlags. Der 52-Jährige gehörte zu den bekanntesten amerikanischen Gesichtern in der Stadt. Die extremistische Gruppe Islamic Jihad übernahm die Verantwortung für das Attentat.
"Dein Vater ist Geschichte"
Steve Kerr befand sich gewissermaßen am anderen Ende der Welt, konnte die ersten beiden von insgesamt drei Trauerfeiern nicht mal besuchen, stattdessen stand er zwei Tage später in einem Duell gegen Arizona State auf dem Court und traf fünf seiner sieben Würfe bei einem schockierenden Sieg seiner damaligen Uni.
"Das klingt übel", sagte Kerr später zur New York Times. "Natürlich war der Basketball nicht wichtiger. Die Logistik war sehr kompliziert. Und es war tatsächlich kathartisch für mich, einfach zu spielen." Nicht, dass ihn die Tragödie danach nicht weiter verfolgt hätte; auf eine besonders üble Weise wurde er vier Jahre später, bei einem weiteren Spiel gegen Arizona State, davon eingeholt.
Schon vor dem Spiel riefen Studenten "P.L.O., P.L.O." (in Bezug auf die Palästinensische Befreiungsorganisation), "Dein Vater ist Geschichte" und "Warum gehst du nicht zu den Marines und zurück nach Beirut?" "Als ich das gehört habe, ließ ich den Ball fallen und fing an zu zittern", sagte Kerr danach.
"Ich habe mich eine Minute hingesetzt, weil sie mir wirklich nahegekommen sind. Ich hatte Tränen in meinen Augen. Zum einen hat es Erinnerungen an meinen Vater hervorgerufen. Zum anderen war es aber auch einfach traurig, dass Menschen so etwas tun würden." Kerr ließ sich letztlich jedoch nicht beirren, erzielte allein 20 Punkte in der ersten Halbzeit und führte Arizona zum Sieg.
Als Wandervogel zu den Chicago Bulls
Im Anschluss folgte der Schritt in die NBA, wobei sich Kerr trotz seines blitzsauberen Wurfs zu Beginn nirgendwo festspielen konnte. Ein Jahr verbrachte er als Zweitrundenpick in Phoenix, dreieinhalb Jahre spielte er für die Cavs, dann ein halbes Jahr für Orlando. Als er 1993 als Free Agent bei den Bulls unterschrieb, bezeichnete er sich bereits selbst als Wandervogel.
Doch in Chicago wendete sich einiges. Jordan war im Ruhestand, aber an der Seite von Scottie Pippen blühte Kerr auf, stand den Bulls vier Jahre in Folge für alle 82 Spiele zur Verfügung. 1994/95 führte er die Liga mit einer unfassbaren Dreierquote von 52,4 Prozent an, insgesamt waren es über fünf Jahre 47,9 Prozent, wenn auch bei limitiertem Volumen und einer zwischen 1994 und 1997 verkürzten Dreierlinie.
Die NBA-Statistiken von Steve Kerr
Spiele | Punkte | FG% | 3FG% | FT% | |
Regular Season | 910 | 6 | 47,9 | 45,4* | 86,4 |
Playoffs | 128 | 4,3 | 42,6 | 37 | 87,6 |
*=NBA-Rekord
Kerr war ein Winner, der nicht selten in entscheidenden Situationen traf und sich auch deshalb (nicht nur wegen Prügeleien) mit Jordan nach dessen Comeback verstand. 1997 traf er den Jumper zur Meisterschaft, natürlich nach Pass von MJ. Als dieser 1998 zurücktrat, wurde Kerr zu den Spurs getradet, wo er 1999 und 2003 zwei weitere Titel gewann.
"Ich hatte schon meine ganze Karriere über Glück", sagte Kerr in seiner üblichen selbstironischen Art, nachdem er 2015 auch als Head Coach seinen ersten Ring einsammeln durfte. "Ich lande neben Michael Jordan oder Tim Duncan oder jetzt Steph und Klay ... ich bin der glücklichste Typ auf der Welt."
gettyVon den besten Coaches geformt
Dabei waren es nicht nur die Spieler, die Kerrs Werdegang prägten. Am College spielte er für den legendären Lute Olson, in der NBA unter anderem für Phil Jackson und Gregg Popovich, die beiden vielleicht besten Head Coaches der Liga-Geschichte. Beide prägten ihn vor allem deshalb, weil sie wie er weit über den Tellerrand des Basketballs hinausblickten.
Seitdem er 2014 als Head Coach fungiert, nachdem er vorher auch als General Manager und TV-Analyst arbeitete, predigt er seinen Spielern, dass sie den Sport ernst, aber nicht zu ernst nehmen sollen, da es wichtigere Dinge gibt. Deswegen ist für ihn kein Thema außerhalb des nächsten Gegners tabu, auch wenn es etwa um seine Familiengeschichte geht.
"Ich habe von Pop und Phil gelernt, dass ich meine eigenen Erfahrungen als Kind bei meinem Coaching nutzen konnte", erklärte Kerr der New York Times. "Um dadurch eine Verbindung mit Spielern herzustellen, die auf einer gesunden Perspektive beruht. Es geht darum, Spaß zu haben und nicht alles zu ernst zu nehmen."
Steve Kerr prügelte sich einst fast mit Draymond Green
Das heißt nicht, dass Kerr der Sport egal wäre - im Gegenteil. Schon als Spieler galt er als sehr ehrgeizig und bisweilen sogar hitzköpfig, als Head Coach ist das nicht anders. Taktikbretter werden nicht selten zerstört, einmal prügelte er sich beinahe mit Draymond Green. Auch mit nun 54 Jahren und nach Rückenproblemen, die ihn große Teile der 2015/16er Saison verpassen ließen, ist er keiner, der sich alles gefallen lässt.
Gleichzeitig versucht er stets, die Dinge im richtigen Verhältnis zu sehen. "Wenn man früh in seinem Leben eine Tragödie erlebt, dann bekommt man eine gute Einschätzung davon, wie fragil die Dinge sind", so Kerr. "Wenn man also Teil von etwas Gutem ist, dann will man es festhalten. Denn man weiß, dass nichts für immer bleibt."
Kerr legt einen großen Wert auf Harmonie und Kooperation, er bezieht die Meinungen aller Assistant Coaches, Scouts und auch Spieler mit in seine Entscheidungen ein. Sein Erfolg mit den Warriors mit drei Meisterschaften in fünf Jahren gibt ihm Recht, auch wenn er Kevin Durant nie komplett in diese Harmonie eingliedern konnte und von diesem zeitweise sogar öffentlich attackiert wurde.
Steve Kerr: Von Donald Trump attackiert
Es ist nicht möglich, es allen recht zu machen. Kerr versucht dies auch nicht, gerade über die letzten Jahre nutzt er seine große Plattform regelmäßig, um sich auch zu gesellschaftlichen Themen zu äußern. Kerr ist seit Jahren offen gegen die US-Waffengesetze, kritisiert die NFL und das Weiße Haus; Donald Trump hat auch ihn bereits namentlich attackiert.
Kerr lässt sich von nicht aus der Ruhe bringen, zumindest nicht dauerhaft. Er hat große Teile seines Lebens in Schlagzeilen verbracht - selbst wenn er dabei in den meisten Fällen nicht der Hauptdarsteller war. Das Angenehmste an Kerr ist womöglich, dass er selbst das auch nie behaupten würde.