Allen Iverson war nicht der beste Spieler seiner Ära. Mit Sicherheit war er nicht der effizienteste - aus heutiger Sicht ist das Spiel des streitbaren Shooting Guards sogar eher schlecht gealtert. Als begnadeter Scorer lebte er von Würfen, die heute eher verpönt sind. Dennoch hatte kaum ein Zeitgenosse von Iverson dessen kulturelle Signifikanz.
"The Answer" sorgte für Falten in einer glattgebügelten Liga. Er legte sich mit den Autoritäten an, importierte Cornrows, Tattoos und Hip-Hop in die NBA, verleitete Ex-Commissioner David Stern sogar zu dessen unsäglichem Dress Code. Er verkörperte einen Stil, den kein Spieler vor ihm mit solchem Selbstbewusstsein zur Schau getragen hatte.
Dazu machte er sich mit Aktionen auf und neben dem Court unsterblich; noch heute weiß jeder, was "we talkin' 'bout practice" bedeutet oder wer als Rookie einen gewissen Michael Jordan per Crossover so richtig schön austanzte. Auch sein wohl größter Moment in der Liga ist noch jedem Fan ein Begriff.
Iverson brauchte keinen NBA-Titel für seinen Status als Ikone. Wenn man alles andere - den MVP-Award, die Scoring-Kronen, die All-Star Teilnahmen - ausklammern würde, hätte er immer noch den Stepover. Einen Moment, der so groß war, dass er auch den Leidtragenden für immer berühmt machte.
Sixers vs. Lakers: Ein ungleiches Duell
Am 6. Juni 2001 kam es in Los Angeles zu einem ungleichen Duell. Auf der einen Seite standen die Lakers mit Kobe Bryant und Shaquille O'Neal, zu diesem Zeitpunkt ungeschlagen in den Playoffs, schon jetzt eins der besten Playoff-Teams aller Zeiten. Auf der anderen Seite waren die Sixers um den frisch gekürten MVP Iverson, die schon zwei Serien über sieben Spiele in den Knochen hatten.
Fast niemand rechnete dem Underdog in dieser Serie Chancen aus, und diese Einschätzung sollte sich letztlich auch bewahrheiten. Nicht jedoch im ersten Spiel - denn Iverson, der in diesen Playoffs bereits zwei 50+- und drei weitere 40+-Punkte-Spiele hingelegt hatte, hatte sich seinen größten Trick für diesen Moment aufgehoben.
30 Punkte erzielte A.I. bis zur Pause, trieb den Lakers-Backcourt um Derek Fisher und eben Bryant zur Weißglut. Der Underdog führte mit 72:58, als Lakers-Coach Phil Jackson Mitte des dritten Viertels erstmals seine Geheimwaffe auf den Court ließ: Tyronn Lue.
Die Statistiken von Allen Iverson 2000/2001
Spiele | Minuten | Punkte | FG% | 3FG% | Assists | Steals | |
Regular Season | 71 | 42 | 31,1 | 42 | 32 | 4,6 | 2,5 |
Playoffs | 22 | 46,2 | 32,9 | 38,9 | 33,8 | 6,1 | 2,4 |
Finals | 5 | 47,8 | 35,6 | 40,7 | 28,2 | 3,8 | 1,8 |
Tyronn Lue war Phil Jacksons Geheimwaffe
Warum Geheimwaffe? Lue befand sich zu diesem Zeitpunkt in seiner dritten Saison, hatte bei den Lakers aber nur eine marginale Rolle und in den Playoffs bis dahin nur zehn zumeist sehr kurze Einsätze verzeichnet. Aber er war aufgrund seiner Größe (und seiner Frisur: Auch Lue trug Cornrows) im Training derjenige, der die Iverson-Rolle simulieren sollte. Und der sein Idol nun stoppen sollte.
"Wenn Philly eine Runde zuvor gegen Milwaukee verloren hätte, wäre ich in den Finals wahrscheinlich nicht zum Einsatz gekommen. Das hätte mein letztes Jahr in der NBA sein können", reflektierte Lue später bei Bleacher Report. "Die Leute verstehen das nicht. Diese Sache hat mich berühmt gemacht."
"Die Sache" war in dem Fall nämlich nicht nur ein Moment, in dem er nicht gut aussah. In den Minuten zuvor schaffte Lue es tatsächlich, den zuvor brandheißen Superstar zu nerven und aus dem Rhythmus zu bringen. Bis zum Ende der regulären Spielzeit traf Iverson nur noch einen von sieben Würfen, was den Lakers ein Comeback ermöglichte.
Allen Iverson erklärt den Stepover
Iverson war damals fast allein für die Produktion der Sixers-Punkte verantwortlich, entsprechend hart wurde Philly davon getroffen, dass Lue ihn nun kurzzeitig aus dem Spiel nahm. "Er kam raus und war richtig giftig", erinnerte sich Iverson später. "Ich wäre aber nicht so abgekühlt, wenn er mich nicht fast die ganze Zeit festgehalten hätte. Der Schiri hat ihm einfach alles durchgehen lassen."
Er blieb nicht kalt. In der Verlängerung verfehlte Iverson zwar seinen ersten Wurf, 1:19 vor Schluss brachte er die Sixers jedoch mit zwei Freiwürfen sowie einem Dreier wieder mit 2 Zählern in Front. Rick Fox leistete sich einen Turnover, dann wanderte der Ball wieder zu Iverson. Und dann wurde es legendär.
In der Ecke hielt The Answer den Ball gegen Lue. Fake, ein Dribbling nach vorne Richtung Grundlinie, dann durch die Beine wieder zurück - und dann hoch zum Jumper. Nichts als Netz, 4 Punkte Führung, ein riesiger Schritt näher dran am Upset. Und dann der Schritt über den am Boden liegenden Lue, mit einem verächtlichen Blick, als hätte ihn dieser gerade zum Training eingeladen.
Warum der Schritt? "Ich weiß nicht mehr, warum ich das getan habe. Es war einfach eine Reaktion", erklärte Iverson später. "Das war sozusagen ich, der sagt: ‚Yeah, motherfucker.' Aber ich könnte das nie im Leben wiederholen." Das war auch nicht nötig.
Allen Iverson und Tyronn Lue sind Freunde
Der Moment wurde sofort unsterblich, wird heute noch in Memes hervorgekramt, wenn ein Rap-Battle besonders eindeutig läuft. Dabei liegt das Iverson gar nicht, wie er 2016 gegenüber ESPN erklärte. "Ich mag das nicht, wenn Leute sich über ihn lustig machen, weil das mein Freund ist", sagte Iverson. Der Angesprochene selbst hat für sich jedoch seinen Frieden mit der Aktion gemacht.
Lue fand seine Nische in der NBA, hatte auch in den Finals weiterhin seinen Anteil daran, dass Iverson nur 40,7 Prozent aus dem Feld traf. Bis 2009 spielte er für verschiedene Teams, später gewann er als Head Coach mit den Cleveland Cavaliers eine Meisterschaft und posierte in Philly sogar mal mit einem Fan für ein Foto, der ein T-Shirt mit dem berühmten Stepover-Foto trug.
Eine Klarstellung ist ihm jedoch bis heute wichtig. "Man kann im Video sehen, dass ich gute Defense gespielt habe", sagte Lue zu ESPN. "Ich habe seinen Wurf contested, dann auf den Ball geblickt und bin dabei hingefallen. Dann steigt er über mich. Die Leute tun so, als wäre ich wegen eines Crossovers hingefallen. Aber das ist egal. Wir haben die Meisterschaft gewonnen."
Allen Iverson: Immun gegen die Ringzzz-Kultur
In fünf Spielen gewannen die Lakers die Finals, Spiel 1 blieb das einzige in dieser Postseason, welches das beste Team der ShaKobe-Ära nicht für sich entscheiden konnte. Ironischerweise ist genau diese Partie diejenige, die Vielen als erstes in den Sinn kommt, wenn man über die 2001er Playoffs sinniert.
Das ist der Iverson-Faktor. Der beste "little guy" der Liga-Historie war so eine transzendente Figur, dass ihm nicht einmal die Ringzzz-Kultur nachhaltig etwas anhaben konnte, die für gewöhnlich jeden titellosen Spieler zu verschlingen versucht und Spieler ausschließlich daran misst, wie viele Ringe sie an ihren Fingern tragen.
Iverson hat nie eine Meisterschaft gewonnen - aber er hat in gewisser Hinsicht sogar mehr erreicht.