"Begeistert" sei er gewesen, "großartige Neuigkeiten!" So fiel die erste Reaktion von Sam Hinkie aus, als er von der Entscheidung der Philadelphia 76ers erfuhr, Daryl Morey als neuen President of Basketball Operations einzustellen. "Das ist eine großartige Verpflichtung und ein wichtiger Schritt für die Franchise", sagte Hinkie in einem seiner äußerst seltenen Interviews bei ESPN.
Ebenjener Hinkie, der 2013 mit seiner Ankunft in der Stadt der brüderlichen Liebe den Sixers den wohl striktesten Rebuild der NBA-Historie auferlegt hatte. In seinen drei Jahren an der Spitze des Front Office gewann Philadelphia 47 Spiele und verlor 199, die "Belohnung" folgte in Form von Joel Embiid und Ben Simmons und einigen weiteren hohen Draft-Picks, die sich allerdings nicht bezahlt machten.
Nach diesen drei Jahren wurde Hinkie Jerry Colangelo vor die Nase gesetzt, wenig später trat er zurück. Kein Team hat in den vergangenen neun Jahren mehr Veränderungen an der Spitze des Front Office durchgemacht als die Sixers, "Trust the Process" lebte durch Embiid und Simmons aber weiter. Nun soll mit Morey endlich Stabilität an der Spitze einkehren - und der Prozess vollendet werden.
Morey und Hinkie: Gleiche Schule, andere Vorgehensweise
Es kommt nicht von ungefähr, dass Hinkie in den höchsten Tönen von seinem Nach-Nach-Nachfolger schwärmt. Beide verbindet eine gemeinsame Vergangenheit bei den Houston Rockets, die Morey die vergangenen 13 Jahre als General Manager leitete und in der Hinkie sich erstmals einen Namen machte. Morey etablierte sich als das Aushängeschild der Analytics-Bewegung, Hinkie folgte dicht dahinter.
Die Vorgehensweise der beiden unterschied sich allerdings enorm, auch bedingt durch die komplett unterschiedlichen Ausgangssituationen. Nachdem Hinkie seinen Job in Philadelphia antrat, stürzte er sich in jahrelanges Tanking, um das Team von Grund auf über den Draft neu aufzubauen. Morey dagegen pickte in seiner Zeit in Houston nie unter der Top-10 und probierte stattdessen mit zahlreichen Blockbuster-Trades verschiedenste Superstar-Kombis aus.
In seinen 13 Jahren als Hauptverantwortlicher in Texas fädelte Morey, der sich über die Jahre einen exzellenten Ruf erarbeitete, insgesamt 77 Trades ein, eine irre Zahl, die in der Association ihresgleichen sucht. Nun übernimmt der 48-Jährige ein Team, das zwar ein Superstar-Duo bereits in seinen Reihen hat, das aber spielerisch nicht hundertprozentig zusammenpasst.
Schon in den vergangenen Jahren kamen bei jeder Niederlagenserie oder einem verfrühten Playoff-Aus der Sixers wildeste Trade-Spekulationen um Embiid und Simmons auf. Manche sind überzeugt, das Duo müsse aufgebrochen werden, will Philly einen Titel holen. Manche sehen in ihnen das Fundament eines Championship-Teams - sofern richtig in Szene gesetzt.
Bleibt nur die Frage: Zu welchem Lager gehört Morey? Und was hat er in der Offseason mit den Sixers vor?
Sixers: Was passiert mit Ben Simmons und Joel Embiid?
Morey war kaum fünf Minuten im Amt, da lief vielerorts die Trade Machine auf Hochtouren. In erster Linie ploppte oftmals der Name James Harden auf. Kein Spieler ist so eng verbunden mit Morey wie The Beard.
Tim MacMahon (ESPN) ließ diese Seifenblase aber platzen, eine Quelle aus der Rockets-Organisation habe ihm mit ein paar deutlichen Schimpfwörtern zu verstehen gegeben, dass es einen Harden-Trade nicht geben werde. Dennoch: Eine Combo bestehend aus Harden und Embiid klingt für viele Sixers-Fans vielversprechend.
Schließlich ist Harden die Personifizierung des Morey-Balls, mit dem Houston in den vergangenen Jahren die Liga revolutionierte. Simmons und Embiid sind auf den ersten Blick das genaue Gegenteil. Harden versenkte vergangene Saison beispielsweise 299 Dreier - und damit 292 Triples mehr als Simmons überhaupt auf die Reise schickte.
Daryl Morey: Wer gewinnen will, braucht Superstars
Doch Moreys präferiertes System ist nicht zu verwechseln mit einem Dreier-Wettbewerb. Ihm geht es nicht explizit nur um Distanzwürfe, ihm geht es darum, die Effizienz seines Teams zu steigern. Das ermöglichen in der Offense natürlich einerseits viele Triples, aber gleichzeitig auch Abschlüsse am Ring und Freiwürfe.
Dem neuen starken Mann in Philly wird daher nicht gefallen, dass die Sixers vergangene Saison bei den Freiwürfen (21.), bei den Dreierversuchen (22.) sowie den Abschlüssen in der Restricted Area (Platz 22) nur im unteren Drittel der Liga landeten und dafür die achtmeisten Mitteldistanzwürfe nahmen. Genau das ist das Gegenteil vom Offensiv-Verständnis eines Daryl Morey, genau dieses Problem wird er angehen - ohne dabei aber Simmons oder Embiid zu traden.
Denn Morey ging es in der Vergangenheit auch immer darum, so viel Superstar-Talent anzuhäufen wie möglich. Er hatte Yao Ming und Tracy McGrady, wollte Pau Gasol nach Texas lotsen, tradete für Harden und für Dwight Howard. Er war an Chris Bosh dran und holte später Chris Paul und Russell Westbrook (auch wenn letzteres angeblich nicht seine Entscheidung war).
In Philly findet er erneut zwei All-NBA-Kaliber in seinem Kader vor, deren Stärken gerade in der vergangenen Saison allerdings nicht ausgeschöpft wurden. Mit 24 (Simmons) beziehungsweise 26 Jahren (Embiid) haben sie ihren Zenit vermutlich aber noch vor sich.
Philadelphia 76ers: Jetzt schon das teuerste Team der Liga
Die Sixers werden deshalb in der Offseason alles dafür tun, um einen Kader um Simmons und Embiid aufzubauen, der das Beste aus den beiden All-Stars herausholt. Dafür sind zwangsläufig Veränderungen nötig.
Die Akquisition von Al Horford im Sommer 2019 machte sich nicht bezahlt, Tobias Harris blieb vergangene Saison unter seinen Möglichkeiten und generell fehlte es um Simmons und Embiid an Shooting. Morey hat in Houston gezeigt, dass er in der Lage ist, gute Spieler von der Resterampe abzugraben (u.a. Gerald Green, Danuel House, Ben McLemore), das wird auch in dieser Offseason nötig sein.
Besseres Shooting bedeutet besseres Spacing und damit mehr Platz für das Star-Duo, ihre Stärken auszuspielen. Zum Beispiel auch im Post, wo Embiid 2019/20 der mit Abstand effizienteste Scorer der Liga war (1,10 Punkte pro Possessions). Zum Vergleich: Harden kam in seinen Isolations auf 1,12 Punkte pro Ballbesitz.
Zusätzlich würde ein weiterer Playmaker den Sixers guttun, der das Pick'n'Roll laufen und für sich und andere im Halbfeld Würfe kreieren kann (jemand wie Jimmy Butler zum Beispiel ...). In der Free Agency wird aber wohl kaum bedeutende Verstärkung kommen, die Sixers sind derzeit das teuerste Team der Liga und haben nur die Taxpayer-Midlevel-Exception (etwa 6,1 Millionen Dollar) zur Verfügung.
Die Top-Gehälter der Philadelphia 76ers im Überblick (in Millionen Dollar)
Name | 2020/21 | 2021/22 | 2022/23 | 2023/24 | 2024/25 |
Ben Simmons (PG) | 30,6 | 33,0 | 35,4 | 37,9 | 40,3 |
Josh Richardson (SG) | 10,9 | 11,6 (Spieler-Option) | - | - | - |
Tobias Harris (F) | 34,4 | 36,0 | 37,6 | 39,3 | - |
Al Horford (F/C) | 27,5 | 27,0 | 26,5 | - | - |
Joel Embiid (C) | 29,5 | 31,6 | 33,6 | - | - |
Sixers: Trade-Zauberer Daryl Morey ist gefordert
Muss also Trade-Zauberer Morey ans Werk? Immerhin stehen ihm fünf Picks im diesjährigen Draft (Nr.21, Nr.34, Nr. 36, Nr.49 und Nr.58) und alle zukünftigen eigenen Erstrundenpicks zur Verfügung. Ansonsten mangelt es aber an Assets, in einem Trade werden die Sixers zudem die Verträge von Horford (noch 3 Jahre/81 Mio. Dollar) oder Harris (4 Jahre/147,3 Mio.) loswerden wollen.
Um zum Beispiel einen Chris Paul, einen Jrue Holiday oder einen Buddy Hield, um den sich schon länger Trade-Spekulationen ranken, zu landen, müssten Morey und GM Elton Brand also noch einiges an Picks draufpacken, um das Paket interessant zu machen.
Wie das Front Office an den Rollenspielern im Kader feilt, wird in der Offseason die deutlich interessantere Frage sein, als ob Simmons oder Embiid ihre Koffer packen müssen. Schließlich wird auch der neue Head Coach Doc Rivers eine Chance bekommen, die beiden Superstars zu einer komplementären Einheit zu formen.
Mit den Neuerungen im Front Office und an der Seitenlinie gehören die Sixers wohl schon jetzt zu den Gewinnern der Offseason. Laut Keith Pompey vom Philadelphia Inquirerer war die Euphorie in der Stadt lange nicht mehr so groß wie aktuell. Das sieht offenbar auch Sam Hinkie so. Der "Process" soll endlich vergoldet werden.