Die seltsamen Experimente des Dr. Carlisle

Haruka Gruber
30. März 201114:33
Rick Carlisle ist seit 2008 Headcoach der Dallas Mavericks Getty
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Im Schatten von Dirk Nowitzki und Tyson Chandler hat sich Shawn Marion unersetzlich gemacht - dennoch ist er unzufrieden, weil er mit dem Zickzack-Kurs von Mavericks-Trainer Rick Carlisle nicht klarkommt. Und er ist nicht der Einzige, der darunter leidet...

Es ist ein grausamer Anblick. "Wenn ich es sehe, wird mir schlecht", sagt Mitspieler Roddy Beaubois. Und dem sonst wortstarken Klub-Besitzer Mark Cuban entfuhr lediglich ein schockiertes "Oh, scheiße", als er erstmals sah, wie ramponiert Shawn Marions kleiner Finger an der linken Hand ist.

Erstmals renkte ihn sich der Forward der Dallas Mavericks aus, als er neun oder zehn Jahre alt war und einen Football fangen wollte. Seitdem hat er sich am kleinen Finger derart oft verletzt, dass der obere Teil des Fingers jetzt in einem grotesken 70 Grad Winkel heruntergebogen ist.

Doch so entsetzt alle Betrachter sind, Marion selbst mag nicht all zu sehr darüber reden. "Wenn ich den Finger in eine Richtung dehne, tut es etwas weh. Aber was soll's? Ich will kein Hand-Model sein, von daher ist es okay", sagt er.

Marion fordert von Carlisle eine Entscheidung

Es ist eine erstaunliche Wandlung, die Marion seit dem Wechsel vor eineinhalb Jahren nach Dallas durchschritt. Anfangs wurde befürchtet, dass der vormals unbequeme All-Star schnell überdrüssig davon sei, dass er sich in Dallas hinter Dirk Nowitzki, Jason Kidd und Jason Terry einsortieren muss.

Anders, als es sein Leumund vermuten ließ, fügte er sich jedoch klaglos ein, obwohl sich vor dieser Saison mit Tyson Chandler ein weiterer Spieler in der Hierarchie vor ihn schob. Mehr noch: Marion ist weiterhin ein Muster an Pflichtbewusstsein. Er spielt selbstlos, effizient - und wenn nötig mit einem ausgerenkten kleinen Finger.

Vor einigen Tagen jedoch suchte Marion etwas überraschend den Weg in die Öffentlichkeit und beschwerte sich erstmals, seit er bei den Mavs spielt, über seine Verwendung und über die Rolle in der Mannschaft. Ihm sei es egal, ob er in der Starting Five steht oder auf der Bank beginnt, das Einzige, was er braucht, ist Klarheit von Coach Rick Carlisle.

"Er muss entscheiden, wie wir es handhaben wollen - jetzt und zukünftig. Ich fühle mich mit jeder Aufgabe wohl und bringe gute Leistungen, ich muss nur zuverlässig wissen, was meine Aufgabe genau ist."

Carlisle will sich partout nicht festlegen

Genau diese Beständigkeit auf Marions Small-Forward-Position geht den Mavs derzeit aber ab, weil Carlisle in den letzten Wochen die verschiedensten Rotationen proben wollte.

Marion war zu einem Großteil der Saison neben Terry die wichtigste Option von der Bank. Im März jedoch stand er plötzlich für vier Spiele in der ersten Fünf, kehrte dann wieder für drei Spiele auf die Bank zurück, nur um in den letzten drei Spielen wieder in die Starting Five beordert zu werden.

"Ich weiß es nicht genau, wann oder ob wir überhaupt eine klar definierte Rotation haben werden. Ich kann nur sagen: Nichts ist in Stein gemeißelt", sagt Carlisle, obwohl sich mit Marion einer seiner meist unterschätzten, aber eben auch wertvollsten Spieler unwohl fühlt.

Stojakovic auf einmal auf der Bank

Ähnlich ergeht es offenbar Peja Stojakovic, der nach dem Wechsel zu den Mavs - sofern er fit war - immer zur Starting Five gehörte, zuletzt aber von Marion ersetzt wurde. Dabei behagt es dem Serben nicht besonders, als Einwechselspieler ins Spiel zu kommen: "Dennoch muss man immer bereit sein, egal wie viele Minuten man bekommt. Als junger Spieler habe ich mir mehr Gedanken darüber gemacht, ob ich starte oder nicht."

Marion und Stojakovic sehnen sich zwei Wochen vor Beginn der Playoffs nach Klarheit über ihre Rolle bei Carlisle. Immerhin leidet der statistische Output der beiden nicht allzu sehr unter den Experimenten des Coaches - was bei DeShawn Stevenson nicht behauptet werden kann.

Der Small Forward/Shooting Guard war in der ersten Saisonhälfte eine feste Größe bei Carlisle, stand in der ersten Fünf, bekam konstant Einsattzeiten von 15 bis 20 Minuten und überzeugte als Verteidiger und eindimensionaler, aber zuverlässiger Dreierschütze.

Stevenson der große Verlierer

Seit dem Kommen von Stojakovic und später Corey Brewer wird Stevenson jedoch nach Carlisles Gusto nach einer ordentlichen Leistung im Spiel darauf gar nicht eingesetzt, nur um in der nächsten Partie überraschend in der Startformation aufgeboten zu werden - und dann wieder auf der Bank zu landen.

Es ist zu spüren, wie Stevenson unter dieser Unbeständigkeit leidet, alleine abzulesen an seiner Dreierquote: Von 50,0 Prozent im November und 48,8 Prozent im Dezember sank sie auf besorgniserregende 25,0 Prozent im März.

Umso unverständlicher, dass Carlisle zwischenzeitlich den bitter enttäuschenden Brewer Stevenson vorzog und diesen so weiter verunsicherte. Anfangs von den Mavs als Verteidiger und Überathlet mit gutem Drive zum Korb gerühmt, erwies sich Brewer bereits in den ersten Spielen als untauglich.

Mittlerweile ist offensichtlich, warum ihn die Knicks so bereitwillig ohne eine Gegenleistung ziehen ließen - und dass das angebliche Interesse von Boston, San Antonio oder Oklahoma City an Brewer womöglich nur lanciert war, um sich für Dallas begehrlicher zu machen. Der 25-Jährige bekam von den Mavs einen Drei-Jahres-Vertrag und ist wegen fehlender Klasse doch perspektivlos. In den letzten drei Partien wurde er nicht einmal in den Zwölf-Mann-Kader berufen.

Jetzt sogar Small Ball eine Variante

Marion, Stojakovic, Stevenson, Brewer: Es ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass Carlisle einiges ausprobiert. Butler war seine Ideallösung als Starting-Small-Forward, entsprechend ratlos war der Coach nach dessen schwerer Verletzung.

Marion hat seine Stärken im Rebounding sowie in der Defense und punktet hochprozentig in Brettnähe, aber ihm geht Butlers Gefährlichkeit aus der Mitteldistanz ab. Stojakovic gehört noch immer zu den gefährlichsten Dreierschützen, sein nicht vorhandener Antritt bedeutet jedoch ein großes Risiko in der Verteidigung. Stevenson ist nicht mehr als eine solide Lösung, Brewer ein Reinfall.

Doch Ende März, mit dem anstehenden Roadtrip nach L.A. mit den Partien bei den Clippers und den Lakers, zwei Wochen vor den Playoffs, ist es befremdlich, dass Carlisle sich noch immer nicht dazu entschließen kann, aus den vier suboptimalen Lösungen die akzeptabelste auszusuchen und an dem Plan festzuhalten.

Im Gegenteil: Statt für Gewissheit zu sorgen, möchte Carlisle womöglich die nächste Variante verstärkt testen: eine kleine Startformation ohne einen echten Small Forward, dafür mit drei den Guards Kidd, Terry und Beaubois. "Das ist eine denkbare Aufstellung, wir haben im Sommer häufig darüber gesprochen", erzählt Terry.

Zieht Carlisle die Lehren aus dem Playoff-Aus?

Carlisle ist ein zweifelsfrei herausragender Basketball-Lehrer. Die vorbildliche Umsetzung der Zonenverteidigung, das Reagieren in Auszeiten und nicht zuletzt die Bilanz von 52 Siegen bei 21 Niederlagen: Dallas wird vom einem der besten Coaches der NBA trainiert. Einem Coach jedoch, dessen größte Schwäche die Handhabung der Rotation ist.

Die Mavs verfügen von Spieler eins bis zwölf über einen der tiefsten Kader der NBA, vielleicht ist es sogar der tiefste überhaupt. In den Playoffs, wo zwischen zwei Spielen drei oder vier Tage liegen, ist es anders als in der hektischen Regular Season jedoch entscheidend, eine kurze, aber bewährte und eingespielte Acht-Mann-Rotation aufzubieten.

Dies erfuhren die Mavs in den letzten Playoffs, als sie gegen die nicht ganz so breit aufgestellten Spurs in der ersten Runde ausschieden, weil bei San Antonio jeder seine Aufgaben kannte, während sich Carlisle vor lauter Tiefe verzettelte und dem formstarken Beaubois viel zu wenig Einsatzzeiten gewährte.

Dirk Nowitzki verriet zuletzt, dass sein Coach am liebsten das Wort "Beharrlichkeit" nutzt, um der Mannschaft seine Kernbotschaft zu vermitteln. Carlisle sagt: "Wir müssen dahin kommen, dass wir immer so beharrlich wie möglich unser Ziel verfolgen und nicht nachlassen. Auch wenn man nicht die größte und toughste Mannschaft ist, muss man beharrlich weiterarbeiten." Etwas mehr Beharrlichkeit bei der Aufstellung würde den Mavs jedoch auch nicht schaden.

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