Als ich Tim Tebow treffe, ist der Locker Room der Broncos bereits leer. Kein Spieler hält es nach der bitteren Niederlage länger als unbedingt nötig in den Katakomben aus. Sie wollen weg. Alle. Nur Tebow steht noch da und beantwortet seelenruhig die Fragen der Journalisten.
Wenn man ihn nicht kennt, dann könnte man den 23-Jährigen in seiner abgewetzten Jeans und dem viel zu weiten T-Shirt auch für einen der Rowdies halten, die um uns herum bereits die Habseligkeiten des Teams in großen schwarzen Roll-Containern verstauen.
Überall liegen leere Becher, Handschuhe und Tape herum, türmen sich Gatorade-Fässer und Trainings-Equipment. Es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld - und es riecht auch so. Nach einer Mischung aus nassem Rasen, Desinfektionsmittel und Schweiß.
Tebow: "Das ist es, was ich immer wollte"
Es ist kein Ort, an dem man sich nach einer Niederlage freiwillig aufhält. Jedenfalls die meisten Menschen nicht. Die meisten - nur nicht Tebow.
"Genau das, diese Atmosphäre, das ist es, was ich immer wollte", begrüßt er mich und atmet einmal tief durch die Nase ein. Ganz so, als wolle er sich vergewissern, dass das alles hier kein Traum ist. "So lange ich mich erinnern kann, habe ich davon geträumt," sagt er. "Davon geträumt, in der NFL zu spielen."Und genau das tut er jetzt. Am Sonntag (22.05 im LIVESCORE) steht er gegen die Houston Texans zum zweiten Mal als Starting-Quarterback der Denver Broncos auf dem Platz - und soll beweisen, dass er die Zukunft des Krisen-Klubs aus Colorado sein kann.
Tebow, ein typischer Amerikaner?
Dabei wäre Tebow fast am kompletten Football-System der USA vorbeigeraucht. Weil er von seinen Eltern zu Hause unterrichtet wurde - und deshalb in vielen US-Bundesstaaten nie an einem High-School-Spiel hätte teilnehmen dürfen. Und so niemals jemandem aufgefallen wäre.
Nur weil in Florida, der Heimat der Tebows, das umstrittene Gesetz 1996 gekippt wurde und Tebow mit seiner Mutter in ein Appartement in die Nähe eines der besten Football-Programme des Staates zog, wurde er zum Star.
Aber wie kommt der auf den Philippinen geborene Sohn einer Missionars-Familie überhaupt zum Football? Er muss lachen. "Am Ende sind wir eben doch typische Amerikaner", sagt er nach einer Weile. "Wir haben so oft wie möglich Football geschaut. Dabei habe ich mich in den Sport verliebt. Und in die Florida Gators." Sein späteres College-Team.
Eine Legende, zu beliebt fürs Fernsehen
An der University of Florida wird er zur Sport-Ikone. Tebow erzielt als erster Spieler in der College-Geschichte mehr als 20 Pass- und Rushing-Touchdowns in einer Saison, holt mit den Gators zwei College-Meisterschaften, gewinnt 2007 als bis dato jüngster Athlet aller Zeiten die begehrte Heisman-Trophy als bester Spieler des Landes. Doch das ist längst nicht alles.
Seine Motivationsreden sind legendär. Die berühmteste seiner Ansprachen ist mittlerweile auf einer großen Gedenktafel am Eingang zum Football-Komplex der Gators verewigt. Schon mit 20 Jahren ist er einer der einflussreichsten Sportler der USA. Als er sich während des College-Endspiels 2009 die Worte "John 3:16" aufs Gesicht malt, schlagen binnen kürzester Zeit 92 Millionen Menschen den entsprechenden Bibel-Vers im Internet nach.
Kurz darauf wird das Tragen solcher Nachrichten im College-Football verboten. Der Einfluss auf andere Menschen sei einfach zu groß. Die Medien nennen es: "The Tebow-Rule".
Er wird die NFL revolutionieren
In der NFL ist Tebow jedoch umstritten. Als ihn Denver 2010 in der ersten Runde draftet, sorgt das für einen Aufschrei. Und eine Spaltung in zwei Lager.
Die einen sagen: Tebow wird die NFL revolutionieren, nennen ihn den aufregendsten Rookie seit Michael Vick. So wie die ehemaligen NFL-Trainer Jon Gruden und Tony Dungy. "Er ist das stärkste menschliche Wesen, das jemals als Quarterback gespielt hat. Und er kann werfen", sagt Gruden.
Tebows Kritiker aber sagen: Er wird sich nie in der NFL durchsetzen. Einer von ihnen ist CBS-Kolumnist Mike Freeman. Der schrieb damals: "Jedes Jahr gibt es ein Team, das sich beim Draft total lächerlich macht. Diesmal waren es die Broncos. Tebow war der mit Abstand bescheuertste Quarterback-Draft aller Zeiten. Das werden sie noch lange bereuen."
Ein Ende auf der Ersatzbank?
Grund für die Kritik: Tebow spielte bei den Gators in einem System, das sich stark von dem der meisten NFL-Teams unterscheidet. Seine Pass-Routine, seine Beinarbeit, sein kompletter Spiel-Stil sind nur schwer auf die NFL übertragbar.
Außerdem bemängeln seine Kritiker, dass Tebow trotz seines bulligen Körperbaus über einen zu schwachen Arm verfügt. Seine langen Pässe würden trudeln, seien ungenau und damit leicht abzufangen, heißt es.
Droht dem einstigen College-Star also das gleiche Schicksal wie seinem großen Kindheitsidol, Danny Wuerffel? Auch der war ein gefeierter Held in Florida, bevor er in sechs Jahren NFL auf magere 25 Spiele kam und seine Karriere frühzeitig beendete.
Wuerffels persönliches Highlight: Der World-Bowl-Sieg mit Düsseldorf Rhein Fire in der NFL Europe. Heute arbeitet er für eine Wohltätigkeits-Organisation in New Orleans.
Immer 100 Prozent - und mehr
Soweit will es Tebow nicht kommen lassen. Er weiß, dass er noch hart an sich arbeiten muss. "Jedes einzelne Training für mich ist entscheidend", sagt er. "Ich muss die Offense- und Defense-Varianten verstehen, um schneller zu werden - in meinen Reads und meinen Entscheidungen genau so wie in meinen Bewegungen. Ich konzentriere mich darauf, jeden Tag etwas zu lernen. Jeden Tag als Chance zu sehen, mich selbst zu verbessern."
Und das sieht man. Jeder, der Tebow schon einmal vor einem Spiel bei seiner Pregame-Routine beobachtet hat, ist beeindruckt. Selbst bei der vermeintlich unwichtigsten Trainingseinheit zieht er immer voll durch, steht durchgehend in der ersten Reihe.
Dass er dabei nicht von allen gemocht wird, spornt ihn nur noch weiter an. "Natürlich gibt es viele Kritiker", räumt er ein. "Aber das motiviert mich nur noch mehr. Die sollen alle ruhig diskutieren. Ich benutze ihre Kritik dann, um mich weiter zu pushen."
Auf einer Stufe mich Michael Vick
Mit Erfolg. Bei seinem Debüt als Starting-Quarterback der Broncos (einer 23:39-Niederlage gegen die Oakland Raiders) hinterließ er einen guten Eindruck. Jedenfalls für einen Rookie - besonders wenn man bedenkt, welche Fragezeichen hinter seinen Fähigkeiten standen.
Bereits nach seinem ersten Spiel in der NFL ist Tebow einer von nur drei Quarterbacks in der Liga-Geschichte, die in einem Spiel sowohl einen 40-Yard-Touchdown-Pass geworfen, als auch einen 30-Yard-Touchdown erlaufen haben.
Die beiden anderen: Kordell Stewart (Pro-Bowl-Selection mit den Steelers) und Michael Vick. Tebows Pass-Rating von 100,5 ist bei weitem die beste Debüt-Leistung aller in diesem Jahr eingesetzten Rookie-Quarterbacks.
Eine Große Zukunft?
Und auch wenn ein Spiel als Bewertungsgrundlage nicht ausreicht (NFL-Scouts sagen, dafür benötigt man mindestens vier Spiele) und sich Tebow einige Fehler erlaubte (der Spielzug, der zu seinem Rushing-Touchdown führte, war z.B. überhaupt nicht so geplant), zeigte er im Vergleich zu seiner College-Zeit und Preseason-Auftritten eine deutlich verbesserte Technik.
"Dafür hat er viel Respekt verdient", sagt Raiders-Tackle Tommy Kelly, der ihm beim Debüt gegenüberstand. "Er ist ein besserer Spieler als alle denken und hat da draußen viele überrascht. Ich glaube, dass er eine große Zukunft vor sich hat." Davon ist auch Oaklands Safety Michael Huff überzeugt. "Wenn Tebow erst einmal etwas mehr Erfahrung im Passspiel hat, dann wird er ein richtig guter Quarterback."
Und genau die soll Tebow jetzt sammeln. Dabei zählt nicht, ob er das nächste Spiel gewinnt. Oder ob er eine Interception wirft. Es geht darum, wie er die Offense führt. Ob er sich weiterentwickelt.
Er hat gezeigt, dass er mit einem Gameplan, der genau auf seine Stärken abgestimmt ist, erfolgreich sein kann. Jetzt muss er beweisen, dass er auch gegen Teams bestehen kann, die genau wissen, wie dieser aussieht. Aus diesem Grund erklärte ihn Interims-Coach Eric Studesville ungewöhnlich früh zum Starter für das Texans-Spiel.
"Wenn man sich selbst verrät, wird man scheitern"
Eines will Tebow auf dem Weg zum anerkannten NFL-Quarterback aber auf jeden Fall vermeiden: Sich umkrempeln zu lassen. "Mann muss sich treu bleiben", sagt er. "Das hat einen schließlich überhaupt erst soweit gebracht. Man muss, um erfolgreich zu sein, zwar immer viel an sich arbeiten, aber wenn man sich selbst verrät, dann wird man scheitern."
Doch selbst davor hätte der 23-Järhige laut eigener Aussage keine Angst. Vor dem Spiel gegen die Raiders postete er auf Twitter und Facebook: "Psalm 23:4". Even though I walk through the valley of the shadow of death, I will fear no evil..." Ich fürchte mich nicht.
Kein Wunder. Denn für Tebow geht es ohnehin um viel mehr als den sportlichen Erfolg. "Am Ende des Tages geht es nicht nur um Touchdowns und Meisterschaften", erklärt er mir. "Ein Sportler hat die Aufgabe - nein, die Pflicht - als Vorbild zu dienen. Erst das, was man abseits des Spielfelds tut, gibt den sportlichen Erfolgen überhaupt einen Rahmen."
Gut. Vielleicht zu gut?
Tebow der Gutmensch. So sehen ihn seine Fans. Kein Sex vor der Ehe, keine wilden Partys - stattdessen Freiwilligenarbeit in der Offseason und regelmäßige Besuche in der Kirche. So anständig kann niemand sein, sagen dagegen seine Kritiker.
Tebow selbst interessiert das alles nicht. "Ich mache das schließlich nicht, damit ich mir vor anderen toll vorkommen kann. Ich will nur meine Möglichkeiten nutzen, anderen zu helfen. So wurde ich nunmal erzogen."
Außerdem hilft es ihm dabei, auf dem Boden zu bleiben. "Wenn du siehst, wie schlecht es vielen Menschen auf der Welt geht, die keine Häuser oder keine Zukunft haben, dann möchtest du ihnen helfen. Und ich weiß, dass jeder Mensch etwas verändern kann."
Alle rechneten mit einer Totgeburt
Das weiß er aus eigener Erfahrung. Denn das Leben des Timothy Richard, genannt Tim, Tebow hätte auch ganz anders aussehen können. Hätte seine Mutter nicht etwas Entscheidendes verändert, dann hätte sein Leben nämlich gar nicht erst begonnen.
Als Pam Tebow mit Tim schwanger ist, erkrankt sie an einer lebensbedrohlichen Infektion und fällt ins Koma. Die Ärzte retten ihr zwar das Leben, doch die verabreichten Medikamente verursachen eine Ablösung der Plazenta. Alle rechnen mit einer Totgeburt - und raten zu einer Abtreibung, um wenigstens Pams Leben nicht zu gefährden.
Sie lehnt ab. Für Tim. Der Rest ist Geschichte - oder soll es noch werden.
Danke für Deine Zeit
Der Locker Room ist mittlerweile übrigens vollkommen leer. Keine anderen Journalisten mehr, und keine Arbeiter. Auch Tim Tebow muss jetzt langsam los. Der Bus wartet.
Doch beim Rausgehen sagt er noch: "Danke, dass Du Dir so viel Zeit für mich genommen hast." Ich stutze. Sollte ich das nicht eigentlich sagen?
Als Tebow das bemerkt, kann er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Und bevor er den Raum verlässt, atmet er noch einmal ganz tief ein.