Wenn Wilson am Sonntag mit Seattle auf die Denver Broncos trifft, geht es für den 25-Jährigen auch gegen einen alten Mentor. Als 16-jähriger High-School-Schüler nahm er bereits an Peyton Mannings Passing Academy teil. "Da waren tausende Kinder", erinnerte sich Wilson: "Aber ich war tatsächlich mit zwölf bis 15 anderen Jungs in seiner Gruppe."
Noch vor seinem ersten NFL-Spiel traf er Manning wieder - und wäre sogar beinahe in Denver gelandet. "Wir haben uns mit ihm getroffen, wir waren verrückt nach ihm", erinnert sich Broncos-Vizepräsident John Elway. Und Wilson berichtete weiter: "Während der Draft-Vorbereitungen haben die Broncos mich nach Denver eingeladen. Peyton war in der Umkleide und ich habe ihn angesprochen."
Manning habe ihn sogar wiedererkannt: "Er fragte mich: 'Habe ich dich schon mal gesehen? Woher kenne ich dich?' Ich antwortete, dass ich bei der Passing Academy war und er sagte: 'Ja, stimmt. Schön dich wieder zu sehen.' Er ist eine tolle Persönlichkeit und ein großer Spieler. Ich habe extrem viel Respekt vor ihm."
Im Kindergarten ein Schlitzohr
Doch Wilson war längst nicht immer der vorbildliche Bilderbuchprofi. So erinnerte sich seine Kindergärtnerin aus Virginia, wo Wilson aufgewachsen ist, bei "CBS": "Wir nannten ihn lebendig. Das ist das Lehrer-Codewort für ein Schlitzohr. 80 Prozent meiner Tage habe ich damit verbracht zu sagen: 'Russell, mach langsam, hör auf zu rennen.'"
Manchmal habe der kleine Russell aber laufen müssen. "Wenn er und seine Freunde Mist gebaut hatten, haben wir sie ein paar Runden laufen lassen. Vielleicht ist er deshalb so schnell", schmunzelte die Erzieherin: "Und heute sitze ich vor dem Fernseher und rufe 'Lauf, Russell!'"
Geläutert durch einen Traum
Doch auch nach dem Kindergarten war Wilson keineswegs ein Musterknabe. "Ich war kein braves Kind", blickte der 25-Jährige in der TV-Kurzserie "The Making of a Champion" zurück: "Ich habe andere die ganze Zeit verprügelt und gebissen und solche Sachen."
Allerdings habe ihn sein Glaube auf den richtigen Weg gebracht: "Als kleines Kind nahmen meine Eltern mich immer mit in die Kirche. Ich wusste zwar von Gott, aber mir ging es immer nur um Sport. Doch dann hatte ich einen Traum: Ich träumte, dass mein Vater gestorben sei und Jesus in den Raum kam. Er sagte mir, ich solle mehr über ihn herausfinden. Am folgenden Sonntag ging ich in die Kirche und wurde gerettet. Das war, als ich 14 war."
2010, sechs Jahre später, starb Wilsons Vater an Komplikationen verursacht durch Diabetes. Dennoch schöpft er bis heute viel Kraft aus seinem Glauben: "Ich denke, das hat mir durch viel Widerstand geholfen. Wie gesagt, ich war kein braves Kind. Aber ich merkte, dass Gott mir so viele Talente gegeben hat, die ich ihm zu Ehren nutzen wollte."
Improvisator von Beginn an
Das größte dieser Talente ist sicher Wilsons Fähigkeit auf dem Platz. "Mein erstes Spiel war im siebten Schuljahr für die Tockahoe Tomahawks in Richmond", erzählte er: "Ich habe im Training geworfen und alle waren geschockt, wie weit ich werfen konnte. Im nächsten Spiel verletzte sich der Quarterback beim ersten Spielzug und so bekam ich meine Chance."
Schon damals lernte der 1,80-Meter-Mann zu improvisieren: "Ich hatte keine Ahnung, wie die Spielzüge waren, aber ich wusste so viel über Football, dass ich einfach mit dem Finger welche auf den Boden zeichnete und wir haben 60:3 gewonnen. Das war meine erste echte Football-Erfahrung."
Klare Prioritäten in der Jugend
Die sportlichen Talente wurden Wilson zweifellos bereits in die Wiege gelegt. Sein Bruder Harrison spielte Football und Baseball im College, seine Schwester wird voraussichtlich für Stanford Basketball spielen. Wilsons Vater, ein Wide Receiver, schaffte es nach seinem Jura-Abschluss bei den San Diego Chargers im Auswahltraining bis zum letzten Cut. Sein Großvater spielte für Kentucky State.
Dabei legte die Familie aber stets großen Wert auf die Bildung. Als Wilson auf der Collegiate School in Richmond mit starken sportlichen Leistungen das Interesse größerer Schulen weckte, beruhigte Vater Harrison Trainer Charlie McFall: "Er sagte zu mir: 'Lass mich eines klarstellen. Ich habe Russell nicht wegen des Sports hier her geschickt, sondern damit er die bestmögliche Bildung erhält.'"
"Ich wusste, ich muss mich beweisen"
Nach der Collegiate School entschied sich Wilson schließlich 2006 für die North Carolina State University, wo er ein Football-Stipendium erhielt. Schnell zeigten sich sein Willen und sein Durchsetzungsvermögen, so dass er in seiner zweiten Saison zum Starter wurde. Wilson stellte einen neuen NCAA-Rekord mit 379 Pässen ohne Interception auf und schloss sein Studium in Kommunikationswissenschaft im Mai 2010 ab.
Anschließend belegte er Aufbaukurse und wollte zurück an die Universität, doch seine vielen Begabungen wurden ihm zum Verhängnis: Da Wilson auch Baseball spielen wollte - 2010 drafteten ihn die Colorado Rockies in der vierten Runde für ihr Class-A-Team - entließ Coach Tom O'Brien seinen Quarterback mit der Begründung, er könne nicht alle Off-Season-Workouts mitmachen. "Ich wollte zurück. Als das nicht ging, musste ich mir etwas einfallen lassen", blickte er zurück.
Plötzlich war Wilson ein College Free Agent und musste sich ein neues Team suchen. Die Wahl fiel auf Wisconsin, da er in der Pro-Style-Offense mit der großen Offensive-Line die ideale Vorbereitung auf die NFL sah. "Ich wollte so viel wie möglich lernen", so Wilson: "Denn ich wusste, als 1,80 Meter großer Quarterback musste ich mich beweisen. Dafür war die Pro-Style-Offense perfekt."
"Er war wie ein Roboter"
Wilson schlug in Wisconsin ein wie eine Bombe. Er führte das Team mit 3.175 Pass-Yards, 33 Touchdown-Pässen und nur vier Interceptions in den Rose Bowl (38:45 gegen Orgeon) und zeigte, dass er auch im Running Game eine Gefahr darstellt: Bei 79 Versuchen lief er für 338 Yards und sechs Touchdowns. Eine Fähigkeit, die auch in Seattles Run-intensives Spiel perfekt passt.
Einmal mehr waren es seine Hingabe und Vorbereitung, die das Team so beeindruckten, dass Wilson sofort zum Kapitän gewählt wurde. "Sobald er ankam, lief er mit Bildern von Spielzügen rum und solche Sachen", erinnert sich Broncos-Running-Back Montee Ball, Wilsons Mitspieler in Wisconsin: "Nach den ersten Trainingseinheiten wussten wir: Okay, dem Jungen müssen wir folgen. Die meiste Zeit war er wie ein Roboter."
"Sei einfach cool"
Ähnlich wie in Wisconsin eroberte Wilson auch die NFL im Sturm. Aufgrund seiner geringen Größe rutschte er bis in die dritte Runde, wo Seattle schließlich zuschlug. Doch schon in der Vorbereitung zeigte er was er kann und schnappte Matt Flynn, der erst im Sommer einen Dreijahresvertrag über 20 Millionen Dollar unterschrieben hatte, den Stammplatz weg. Wilson schaffte es, ähnlich wie Manning, innerhalb eines Jahres die Schwäche eines Teams zu dessen Stärke umzumünzen.
Außerdem übersprang er einfach das befürchtete schwere zweite Jahr in der NFL und führte Seattle mit seiner ruhigen Art ohne Star-Receiver in den Super Bowl. "Er ist überragend in allem, was wir von ihm verlangen", fasste Hawks-OC Darre Bevell zusammen. Doch Wilson will sich längst nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen und stellte seine Arbeitsmoral nach dem Conference Final gegen San Francisco unter Beweis.
Noch auf dem Feld fragte er den vierfachen SB-Champion und TV-Experten Terry Bradshaw: "Was muss man machen, um das Spiel zu gewinnen? Was ist anders?" Bradshaw antwortete: "Es ist kein normales Spiel, aber du kannst es zu einem machen. Sei einfach cool." Zweifellos wird Manning seinen Gegenüber am Sonntag genau erkennen. Es liegt aber einmal mehr an Wilson, alle zu überraschen.
Russell Wilson im Steckbrief