Ein solches Spiel vergisst man nicht.
Dafür sorgen einmal natürlich auch die Geschichtsbücher: Ein 16-Punkte-Vorsprung wurde in der Geschichte der NFC und AFC Title Games noch nie verspielt. Russell Wilson ist der erste Quarterback seit 1981, der trotz vier Interceptions ein Playoff-Spiel gewinnen konnte. Man wird lange suchen müssen, um in den 94 Jahren Packers-Geschichte eine weitere derart bittere Niederlage zu finden. Vielleicht vergebens.
Doch an Geschichtsbüchern und Statistiken hat wohl keiner der Green Bay Packers am Tag nach dem spektakulären 22:28 Interesse. Die braucht es nicht, um zu wissen, welche Chance man im CenturyLink Field von Seattle liegen ließ. Die zweite Super-Bowl-Teilnahme in vier Jahren war auf dem Silbertablett serviert. "Wir hatten alle Möglichkeiten", sagte etwa der geschockte Cornerback Tramon Williams, der in der Verlängerung den Touchdown von Jermaine Kearse nicht verhindern konnte.
Quarterback Aaron Rodgers, dessen Leistung adäquat mit "Licht und Schatten" beschrieben werden kann (TD, 2 INTs) ging noch einen Schritt weiter. "Daran werde ich mich für den Rest meiner Karriere erinnern. Wir waren das bessere Team und haben eigentlich gut genug gespielt. Wir waren so kurz davor."
In fünf Minuten alles verspielt
So kurz davor. 55 Minuten lang bot die Defense der Gelb-Grünen ihre mit Abstand beste Saisonleistung und hatte den Titelverteidiger am Boden. Als Morgan Burnett beim Stand von 19:7 fünf Minuten vor dem Ende nahe der Mittellinie Wilsons vierte Interception abgriff und jubelnd zu Boden ging, verließen die ersten Fans der Seahawks frustriert das Stadion. Der "12th Man" hatte den Glauben an die elf Spieler auf dem Turf verloren.
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Die Packers ihrerseits hielten es nicht mehr für möglich, das Spiel noch aus der Hand zu geben. "Niemand an der Seitenlinie glaubte zu dem Zeitpunkt noch daran, dass wir das Spiel irgendwie verlieren könnten", musste Guard T.J. Lang zugeben. Es war aber möglich. Zweimal Three-and-out der Packers, Touchdown Seahawks, erfolgreicher Onside-Kick, Touchdown Seahawks, Spiel gedreht, historisches Comeback geglückt.
"Nicht so aggressiv wie sonst"
Im Football gewinnt zumeist das bessere Team. Dennoch ist es ein Spiel voller Zufälle und mikroskopischer Entscheidungen: Hat man das First Down - oder fehlt der entscheidende Zentimeter? Wo springt der Ball hin, wer sichert den Fumble, wer hält den Pass gerade noch fest - oder eben auch nicht? Je ausgeglichener die Mannschaften sind, desto mehr rücken diese Momente in den Fokus. Und damit die unbequemen Fragen, gerade beim Unterlegenen.
Diesen Fragen musste sich Packers-Coach Mike McCarthy nach dem Spiel stellen. Zweimal hatte er in der ersten Halbzeit von der 1-Yard-Line der Seahawks ein Field Goal versuchen lassen, statt volles Risiko zu gehen und die Entscheidung zu suchen. Dann, angesichts der hohen Führung, spielte er die Uhr herunter, setzte auf extrem konservative Spielzüge. Weitere Punkte waren so ausgeschlossen. "Wenn man zurückschaut, dann waren wir manchmal nicht so aggressiv wie sonst", sinnierte Rodgers auf der Pressekonferenz - leise Coach-Kritik zwischen den Zeilen.
Auch die Tatsache, dass der angeschlagene Cornerback Richard Sherman in der Schlussphase nicht attackiert wurde, wirft Fragen auf. Sherman, der sich bei einem Tackle am linken Ellbogen verletzte, blieb im Spiel, seine Schmerzen waren jedoch offensichtlich. Trotzdem flog kein Ball mehr in seine Richtung. "Wir hätten es wohl probieren können", gab Rodgers zu. "Wir haben unser Spiel einfach nicht gut umgesetzt." Eine weitere Spitze in Richtung Coaching Staff?
Special Teams als Sündenbock
McCarthy selbst setzte auf polternde Rhetorik. "Ich bereue nichts. Verdammt, ich habe damit gerechnet, dass wir das Spiel gewinnen, die Ausgangsposition war gut, es hat nicht gereicht." Wenn im Football hinterfragt wird, geschieht das vor allem hinter verschlossenen Türen. Bloß keine Schwäche zeigen. "Hey, wenn ihr mein Play-Calling hinterfragen wollt - ich werde es nicht tun", wehrte der 51-Jährige ab.
Stattdessen suchte er den Sündenbock bei den Special Teams. "Die Big Plays der Special Teams waren auf jeden Fall ein Faktor." Da war zum einen der Fake-Punt, mit dem die Seahawks im dritten Viertel dem Team - und dem Publikum neues Leben einhauchten. Hätte man damit angesichts der schwächelnden Seattle-Offense nicht rechnen können? "Wir haben einen Kick erwartet", so Safety Sean Richardson. Man hätte ein spezielles Signal für potenzielle Fakes, doch sei keine Warnung erfolgt.
Ungleich mehr Kritik prasselte auf Onside-Kick-Versager Brandon Bostick ein. Dessen Aufgabe war es eigentlich, den Weg für Jordy Nelson freizublocken. Stattdessen wollte er selbst zum Helden werden - und wurde zum Sündenbock. "Was Brandon angeht: In solch kritischen Situationen ist es entscheidend, dass jeder seinen Job macht. Das war leider nicht der Fall", watschte McCarthy den 25-Jährigen ab. Der Gescholtene selbst war untröstlich: "Ich habe alle im Stich gelassen: Mein Team, meine Familie, ganz Green Bay."
Wann gibt es die nächste Chance?
So bleibt Green Bay ein weiteres Jahr ohne Titel. Große Änderungen wird es nicht geben: Rodgers, McCarthy und GM Ted Thompson stehen alle noch mindestens vier Jahre unter Vertrag. Es wird in den kommenden Monaten darum gehen, die üblichen personellen Entscheidungen zu treffen. Welchen Vertrag verdient Receiver Randall Cobb? Was ist mit dem alternden Linebacker Julius Peppers? Mit Right Tackle Bryan Bulaga? Und wie verstärkt man die zweitschlechtesten Special Teams der NFL? Coordinator Shawn Slocum sollte wohl besser seinen Lebenslauf aktualisieren...
Das Fenster ist beileibe nicht zu: Mit 31 ist Rodgers im besten Football-Alter, mindestens fünf Jahre auf allerhöchstem Niveau bleiben ihm noch. Auch weitere Leistungsträger wie Jordy Nelson oder Clay Matthews sind an die Franchise gebunden. Und doch: Gelegenheiten wie diese kommen selten. Die Seahawks stricken an der Dynasty, Green Bay macht nach diesem Winterabend einen Schritt ins zweite Glied.
Zukunftschancen hin oder her: Zunächst gilt es, diesen Nackenschlag zu verdauen. Ein Patentrezept dafür gibt es nicht. "Man geht nach Hause, denkt drüber nach, und hakt es dann ab", erklärte Rodgers. Aber der Stachel sitzt tief: "Das wird noch eine ganze Weile weh tun."
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