"Wie stoppt man diesen Kerl?"

Michael Berndt
29. April 201616:42
Lawrence Taylor (M.) sorgte von 1981 bis 1993 für Angst und Schrecken in der NFL getty
Werbung
Werbung

Lawrence Taylor hat als Linebacker wie kaum ein zweiter in den 80er Jahren die Defenses der NFL geprägt. Auf dem Platz gewann "LT" mit den New York Giants alles, was es zu gewinnen gab. Abseits des Gridiron jedoch kämpfte die legendäre Nummer 56 gegen seine Dämonen - mit Folgen für ihn und sein Umfeld. SPOX beleuchtet eine der schillerndsten und gleichzeitig umstrittensten Persönlichkeiten des American Football.

SPOXGetty

Das Leben des Lawrence "LT" Taylor bietet den Stoff, aus dem Hollywood-Blockbuster gestrickt sind. Der Oscar-prämierte Spielfilm "The Blind Side" um den Offensive Tackle Michael Oher zeigt im Prolog deshalb auch eine Originalszene des Spiels der Giants gegen die Washington Redskins aus dem Jahr 1985. Diese trug zur Legendenbildung von Taylor bei - und stand symptomatisch für das meist faire, aber extrem harte Spiel des Outside Linebackers.

Ballbesitz Washington: Skins-Quarterback Joe Theisman probiert es mit einem Trick Play gegen die Giants-Defensive. Der Veteran bekommt den Ball von seinem Running Back zurück, wartet auf den richtigen Moment zum Wurf. Plötzlich schlägt es auf der linken Seite ein - der "Blind Side" eines mit rechts werfenden QBs. Taylor reißt Theisman zu Boden. Es ist ein Bild, das an einen Autounfall erinnert.

"Wie stoppt man diesen Kerl? Gar nicht!"

Mit der Kraft eines Löwen und der Schnelligkeit eines Geparden verspeiste LT die Quarterbacks der 80er und frühen 90er Jahre zuhauf. Oft kamen die mit dem Schrecken oder Prellungen davon. Theisman nicht. Seine Karriere war vorbei - der 36-Jährige brach sich beim Tackle das Bein.

Nicht erst seit diesem denkwürdigen Abend beschäftigten sich die Defensive Coordinator der NFL mit der Frage, wie die Hits des 1,93 Meter und 109 Kilogramm schweren Monsters zu bremsen waren. Ron Jaworski, QB der Philadelphia Eagles, hatte 1993 rückblickend eine wenig hoffnungsvolle Antwort parat: "Wie stoppt man diesen Kerl? Gar nicht!" Noch martialischer brachte es QB Terry Bradshaw nach seinen unfreiwilligen Bekanntschaften mit dem Pass Rusher zum Ausdruck. "Dieser Kerl hätte mich verdammt nochmal beinahe umgebracht. Wer ist der Typ? Er kam immer über meine Blind Side und hat meine Rippen in Einzelteile zerlegt", so der viermalige Super-Bowl-Champion der Pittsburgh Steelers.

"Er war ein Draufgänger"

Doch bevor aus Lawrence Taylor der unaufhaltsame Grenzgänger LT wurde, wuchs "Loonie" - so nannten ihn seine Eltern und Freunde - im Universitätsstädtchen Williamsburg in Virginia auf. Sein Vater verdiente sein Geld am Hafen von Newport News, seine Mutter war als Lehrerin tätig. Der am 4. Februar 1959 geborene Taylor war ein neugieriger und willensstarker Junge. "Er konnte nicht akzeptieren, wenn er etwas nicht tun konnte, sondern wollte alles unbedingt ausprobieren. Das gab Ärger, mehr als einmal", verriet seine Mutter in der Showtime-Doku "LT - Life and Times" 2013.

Trotz Ärger auf dem Schulhof wusste der Rabauke die Eltern stets mit seiner sonnigen Art zu beruhigen und versprach schließlich, ein Football-Stipendium zu ergattern. Gesagt, getan: Obwohl er erst in der 11. Klasse mit dem Football anfing, nahm ihn die University of Northern Carolina at Chapel Hill 1977 in ihr Athleten-Programm auf. Dort holte er 1980 als Team-Captain die NCAA-Meisterschaft und wurde zum besten Spieler der Atlantic Coast Division gewählt.

Gegenüber ESPN äußerste sich College-Trainer Bobby Cale fast schon ehrfürchtig über die aggressive Spielweise seine Schützlings: "Er war ein Draufgänger, waghalsig und rücksichtslos. Schon als Freshman sprang er bis zu zwei Meter hoch, um einen Punt zu blocken - selbst wenn er danach mit dem Nacken voran auf den Boden prallte."

Taylor weckt die Riesen

Diese aggressive und extravagante Lebensweise setzte sich auf dem College fort. Taylors erste Frau Linda, die an der Uni kennen lernte, sprach von Trinkgelagen und Frauenbekanntschaften - tatsächlich erwartete sogar eine andere Kommillitonin ein Kind vom Uni-Star. Doch obwohl die Giants von seinen Privataktionen wussten, wählte ihn General Manager George Young an zweiter Stelle - er war einfach zu gut. Spieler und Presse sahen diesem Draft allerdings argwöhnisch entgegen. Sie hätten einen Offensiv-Akteur, der die 18-jährige Playoff-Durststrecke der Franchise beenden sollte, bevorzugt.

Sie sollten sich täuschen: Taylor strafte seine Kritiker Lügen, der Big Apple hatte wieder eine Siegertruppe. Die Nummer 56 zeigte sofort seine physischen und mentalen Fähigkeiten auf dem Spielfeld. In seinem Rookie-Jahr ging er reihenweise auf QB-Hatz und machte sich als Defensive Player of the Year und späterer Pro-Bowler einen Namen in der Liga. In den darauffolgenden Jahren wurde klar: Taylor würde das Spiel verändern.

Vom H-Back zum Left Tackle

Der erste, der seine Defense umstellte, um die kolossalen Attacken des Giants-Stars zu kontern, war Redskins-Trainer Joe Gibbs. Um seine Signal Caller vor Ballverlusten und Verletzungen zu schützen, machte er die Position des H-Backs populär: Ein zusätzlicher Tight End, der an Stelle eines gewöhnlichen Backs - normal waren Halfback und Fullback - ins Spiel kam und das Missmatch gegen Pass Rusher ausgleichen sollte. Deshalb war der H-Back in der Regel schwerer und größer als die Running Backs.

In den 1990er Jahren gewann dann die Position des Left Tackles - die meisten QBs werfen mit rechts und brauchen somit zwei weitere Augen auf ihrer linken Seite - taktisch und gehaltstechnisch immer mehr an Bedeutung. Ihre Aufgabe besteht im Passing Game ausschließlich darin, den Outside Rusher zu blocken. Heute übernehmen NFL-Champions wie Sebastian Vollmer und der genannte Michael Oher die Aufgabe des QB-Bodyguards.

Von LT zum MVP

Wie Gibbs bei den Skins bereiteten sich die Teams in der Folge bei direkten Aufeinandertreffen fast ausschließlich auf Taylor und seine "Big Blue Wrecking Crew" vor. Meist ohne Erfolg. Nach regelmäßigen Postseason-Auftritten gelang den Giants 1986 mit Coach Bill Parcells und Defensive Coordinator Bill Belichick der große Wurf - trotz des tragischen Krebstodes von Running Back John Tuggle. Nach einer 14-2 Regular Season, bei der die Defense um LT die eher durchschnittliche Offense von Playmaker Phil Simms wettmachte, erreichten die Giants durch deutliche Siege über die 49ers (49:3) und die Washington Redskins (17:0) Super Bowl XXI.

Da hatte CBS-Kommentator und NFL-Ikone John Madden die Stärken der Franchise längst erkannt: "Ich dachte, die Bears hätten die beste Defense. Aber nach den letzten zwei Wochen habe ich das Gefühl, dass die Giants wohl über die beste Abwehr verfügen, die je in der NFL gespielt hat." Im Rose Bowl von Pasadena führten LT und die wiedererstarkte Offense von QB Phil Simms die G-Men zu einem 39:20-Erfolg über John Elway und die Denver Broncos.

Gleichzeitig wurde Taylor mit 20,5 Sacks zum MVP der Regular Season gewählt. Eine Ehrung, die kein weitererer Defensivspieler in den folgenden 30 Jahren einheimsen sollte. Er war auf dem absoluten Höhepunkt angekommen.

Seite 1: Taylor küsst die Riesen wach

Seite 2: Die Schattenseiten des LT

SPOXGettyIm Licht und Schatten des Big Apple

Sein Alter Ego "LT" half dem Modellathlet, furchtlos und aggressiv die Reihen des Gegners zu sprengen. Die Zuschauer liebten sein spektakuläres Spiel, die Sprechchöre im Stadion waren kaum zu überhören. Nachdem in den 80ern weder die Yankees noch die Knicks in den All-American Sports einen Titel holen konnten, war der Big Apple wieder wer - und Taylor sein größter Star.

Doch abseits der Mannschaft konnte Lawrence Taylor diesen "LT", seine aggressive, überbordende, unbekümmerte Seite, nicht mehr abschalten. "Als Football-Spieler weiß ich alles über Football. Ich weiß jeden Spielzug auf dem Platz, weiß was jeder Spieler zu tun hat, ich weiß vorher schon was passiert. Im Spiel des Lebens habe ich allerdings meine Schwierigkeiten", musste er später zugeben.

Die ihm zu Füßen liegende Großstadt, die niemals schlief, tat ihr Übriges. "Von 8 bis 16 Uhr gehörte ich Bill Parcells, danach war meine Zeit. Eine problematische Zeit, in der ich machen konnte, was ich wollte. In New York gab es keine Grenzen, keine Disziplin. Dort habe ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen", so Taylor, der in zwei Autobiographien später schonungslos auspacken sollte. Er blieb bis in die frühen Morgenstunden in den angesagten Klubs, traf Stars und Sternchen. Dann kamen Kokain, Crack und Alkohol dazu, er vernachlässigte seine Familie auf der anderen Seite des Hudson in New Jersey. Keine halben Sachen - diese Parole galt nicht nur für den Sport, sondern auch für Frauen und (il-)legale Drogen. SPOX

"Die Begeisterung sinkt"

Diese Facette seiner Persönlichkeit zeigte er nicht nur in der High Society, sondern auch bei Defensive Coach Bill Belichick. Der damals noch unerfahrene Coach hatte mit Taylors Art zu kämpfen. "Er schlief oft während meines Taktikunterrichts. Er meinte, er wüsste alles über die Defense, war gereizt", so der heutige Star-Trainer der New England Patriots. Auch Bill Parcells bekam Probleme mit seinem Superstar, nahm ihn aber stets in Schutz. "Wir hatten oft Meinungsverschiedenheiten bezüglich der taktischen Ausrichtung, aber bei der Nationalhymmne stand er immer neben mir."

Bereits nach dem Gewinn der Vince Lombardi Throphy 1986 hatte der psychische Zustand des MVPs Fragen aufgeworfen: "Alle waren glücklich, aber ich fühlte mich ausgelaugt. Ich habe jede Auszeichnung gewonnen, war MVP und habe den Super Bowl geholt. Ich war ganz oben, oder? Was kommt als nächstes? Nichts. Die Begeisterung sinkt, wenn die Jagd vorbei ist." Also holte er sich den Kick auf andere Art und Weise. Und auch sein Team und die NFL hatten schnell genug von ihm. Nach seinem zweiten positiven Drogentest wegen Kokain suspendierten die Giants ihren Franchise-Spieler 1988 für dreißig Tage, nachdem der erste Vorfall 1987 noch unter Verschluss gehalten worden war.

Der zweite Ring und das Karriereende

Nach einem Aufenthalt in einer Entzugsklinik kehrte LT auf den Platz zurück, als wäre nichts gewesen. Seine Sack-Statistik zeigte die gewohnte Marke von 15 pro Saison. 1988 und 1989 reichte es nicht zum großen Wurf, doch ein Jahr später war erneut die Defensive Garant für den 13-3-Run der Giants in die Postseason. Zum Vergleich: Die Offense um QB Jeff Hostetler hatte nur zweimal über 30 Punkte erzielt.

In der Postseason setzte sich das Spiel fort. Ein souveränger Sieg über die Bears, ein Thriller gegen die Niners - und dann krönten sich die Giants erneut zum Champion, weil Bills-Kicker Norwood Sekunden vor Schluss das Field Goal zum Sieg verfehlte. Verantwortlich für den Ring zeigte sich erneute die Defense, da die Offense zwar mit 40:33 Minuten einen neuen Ballbesitzrekord aufstellen, aber mit nur 20 Punkten das Spiel nicht frühzeitig entscheiden konnte.

Nach dem Herzschlagfinale legte Coach Parcells sein Amt nieder, was auch bei Taylor einen bleibenden Eindruck hinterließ. Die Lust ließ nach, die Leistungen ebenso. Nach einer 49:3-Schlappe gegen die 49ers beendete er 1993 mit 34 Jahren seine beispiellose Laufbahn. Er wurde von den Fans feierlich aus dem Giants-Stadium begleitet - und seine Nummer 56 nie mehr vergeben.

Von Dämonen verfolgt

Auf dem Platz war Taylor also keine Gefahr mehr für seine Gegner - doch privat blieb LT eine ständige Bedrohung. Seine Ehe zerbrach am erneuten Drogenrückfall, nur ein Entzug rettete ihn 1996 vor einer Gefängnisstrafe. Vom "Fall des Riesen" war zu lesen: Taylor, der vor Kameras mit einem breiten Grisen zu Höchstform auflief, sei in Wahrheit depressiv. Auch um seine finanziellen Probleme zu kaschieren, versuchte sich er sich in Hollywood und trat in Filmen wie "An jedem verdammten Sonntag" und "Waterboy" als Schauspieler in Erscheinung.

Um den Versuchungen zu widerstehen, zog er schließlich von New Jersey ins Privatier-Paradies Florida. Dort versuchte er mit seiner zweiten Frau in Ruhe seinen Adoptivsohn aufzuziehen, und widmete sich dem Golfen.

Mit Drogen und dem Partyleben hat er heute nach eigener Aussage nichts mehr am Hut: "Ich brauche keinen Alkohol mehr, um Spaß zu haben. Ich habe ihm abgeschworen, solange meine Gesundheit auf dem Spiel steht. Es war gar nicht so schwer." Die "Dämonen" der Drogensucht würden ihn jedoch für den Rest seines Lebens verfolgen.

Skandale folgten ihm ebenfalls: 2010 ließ er sich mit einer minderjährigen Prostituierten ein und kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Sein gleichnamiger Sohn musste nach der Vergewaltigung einer 13-Jährigen im Mai 2015 für zehn Jahre ins Gefängnis.

Ein "LT" für LT

Allen Skandalen und Verfehlungen zum Trotz: Als vielleicht bester Defensivspieler aller Zeiten bleibt Lawrence Taylor eine Legende. Als er am 7. November 1999 in die Hall of Fame aufgenommen wurde, blieb heftiger Gegenwind nicht aus - die "Hall of Shame" sei ein angemessenerer Platz für ihn, gifteten Kritiker. Den Fans war das egal. Sie feierten seinen schmallippigen Auftritt ("Ich danke ihnen, dass sie mir erlauben, hier zu sein.") mit stehenden Ovationen und skandierten seinen Spitznamen, den er stets als Ohrring trug. "LT! LT! LT!".

Den Respekt seiner Gegner hatte er ohnehin nie verloren. "LT war aggressiv und hat mich hart getroffen. Aber es war nie unter der Gürtelllinie", so sein Lieblingsopfer Ron Jaworski. Und New York Times-Autor Dave Anderson schrieb: "Die Essenz von Lawrence Taylor ist seine unbedingte Ehrlichkeit. Wenn du ihm eine Frage stellst, bekommst du eine Antwort. Nicht immer das, was Trainer und General Manager hören wollen, aber entwaffnend ehrlich."

Als Football-Spieler hat Taylor alles erreicht. Das Spiel des Lebens führte er mit der gleichen Härte und Rücksichtlosigkeit - und fügte dabei nicht nur sich selbst Schaden zu, sondern auch seinem Umfeld. LT, der selbsternannte "Bad Motherfucker", hätte wohl selbst einen "LT" gebraucht: Einen Left Tackle, der seine Schwachstellen, seine Blind Side im Auge behält. Mit seinem Alter Ego hat er abgesschlossen - doch gewonnen ist dieser Kampf noch lange nicht.

Seite 1: Taylor küsst die Riesen wach

Seite 2: Die Schattenseiten des LT

Alles zur NFL