Die Fans der New England Patriots dürften bald endgültig wissen, wie lange sie ohne ihren Golden Boy auskommen müssen: In Tom Bradys Bewährungsanhörung steht eine Entscheidung bevor. Stand jetzt würde Backup-Quarterback Jimmy Garoppolo die Offense für das erste Saisonviertel aufs Feld führen - und das mit großen Vorschusslorbeeren. Doch Bradys designierter Erbe hat noch viel zu lernen und viele Fragen zu beantworten.
Sieben-gegen-Sieben-Drill, Pats-Training Mitte Mai. Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern um Stadion-Lärm zu imitieren, plötzlich unterbricht Head Coach Bill Belichick die Einheit jäh. Ein Wechselfehler ist ihm nicht verborgen geblieben, es folgte ein kurzer aber umso deutlicherer Vortrag für die ganze Offensive.
Das erste Play nach der unangenehmen Unterbrechung hätte für Garoppolo nicht schlechter laufen können - sein Wurf landete direkt in den Armen von Safety Devin McCourty.
"Ich werde bei einer Interception nie zufrieden sein, egal in welcher Situation", knirschte der Quarterback anschließend und fügte hinzu: "Aber du musst in den sauren Apfel beißen und daraus lernen. Du musst aus jedem Fehler und aus allem, was du gut machst, lernen." Eine Devise, die für den 23-Jährigen in diesem Sommer mehr gilt denn je.
Ein ungewohntes Bild
Zum ersten Mal seit 13 Jahren wird Tom Brady zum Saisonauftakt wohl nicht der Starting-Quarterback der Patriots sein und der Fokus beim schon jetzt intensiv antizipierten Eröffnungsspiel gegen die Pittsburgh Steelers voll auf den Schultern von Garoppolo ruhen. So bietet sich dem Youngster eine große Chance - und für die Patriots die unerwartete Gelegenheit, ihren möglichen Quarterback der Zukunft eier Feuerprobe zu unterziehen.
Fall Brady: Die Entscheidung naht
Gleichzeitig ist es aber eine Phase großer Ungewissheit. Nicht wenige Experten loben Garoppolo schon jetzt über den grünen Klee. Dabei ist das tatsächlich vorzeigbare NFL-Tape, welches er bislang zu bieten hat, noch klein. Er stach zwar den langjährigen Backup Ryan Mallett im Vorjahr aus, was ihm durchaus anzurechnen ist, und zeigte im vergangenen Jahr Ansätze seiner ruhigen Art in der Pocket sowie seines präzisen Passspiels.
Und doch bleiben viele Fragen offen, wie auch Pats-Eigentümer Robert Kraft dem MMQB jüngst bestätigte: "Mein Bauchgefühl ist das gleiche wie eures. Er ist ein sehr harter Arbeiter, ein netter junger Mann. Aber bis ihm die Kugeln um die Ohren fliegen und er da draußen ist, kann man kein echtes Urteil abgeben. Denkt doch nur einmal daran, wie viele Erstrunden-Draftpicks es nicht schaffen. Aber er arbeitet hart."
Feuerprobe auch im College
Zumindest ein wenig Aufschluss darüber, was für ein Typ Garoppolo eigentlich ist, liefert ein Blick in seine College-Zeit. In Eastern Illinois, wo er also indirekt auf Cowboys-QB Tony Romo nachfolgte, legte er ebenfalls eine Art Kaltstart hin.
Nachdem er sich den Startplatz erkämpft hatte, warf Garoppolo in seinen ersten vier Spielen zwei TD-Pässe und neun Picks, bei insgesamt 587 Passing-Yards. Doch die Coaches hielten an ihm fest - und je mehr Spiel- und Trainingspraxis Garoppolo erhielt, desto besser wurde er.
Schon damals ließ Jeff Christensen, der seit knapp zehn Jahren als Garoppolos QB-Mentor fungiert, seinen Schützling immer wieder Videos von Brady scouten. "Im College ist er gut mit allem klargekommen. Er hat nicht viele Emotionen gezeigt und war nicht der Typ, der an der Seitenlinie seinen Helm wegschmeißt. Das wird eine ungleich größere Bühne, aber er ist reifer geworden und kann damit umgehen", ist sich Roy Wittke, Garoppolos College-Offensive-Coordinator, der ihn und auch Romo rekrutiert hatte, sicher.
Belichick begeistert
Rein taktisch wird schnell klar, warum die Patriots Garoppolo 2014 schon in der zweiten Runde wählten: In vielerlei Hinsicht scheint der 23-Jährige in das Patriots-Scheme zu passen. Auch im College agierte er aus einer blitzschnellen Offense heraus und bewies großes Spielverständnis sowie einen präzisen Wurfarm. Ein Problem war und ist die Fußarbeit, da Garoppolo im College meist aus der Shotgun eine Spread-Offense dirigierte.
Pats-Offensive-Coordinator Josh McDaniels investierte daher von Beginn an viel Zeit in die Fußarbeit under Center - während Garoppolo parallel das Playbook lernte. Immerhin hatte er im letzten College-Jahr überhaupt kein Playbook mehr gehabt und gab zu: "Es war definitiv eine Umstellung, aber so ist es eben wenn man in die NFL kommt. Es ist, als ob man eine andere Sprache lernt. Aber man muss das schnell verinnerlichen."
Und genau das tat er. "Jimmy hat hart gearbeitet und sich konstant verbessert. Er spielt im Scout-Team verschiedene Offenses und bleibt gleichzeitig bei unseren wöchentlichen Game Plans im Bilde. Er ist hartnäckig und jeden Tag da draußen", lobte Head Coach Bill Belichick gegen Ende der Vorsaison ungewöhnlich ausführlich.
Schneller Wurf dringend empfohlen
Der Lohn: Garoppolo durfte 27 Regular-Season-Pässe verteilt auf drei Spiele werfen (19 Completions, 182 YDS, TD). Vor allem im Saisonfinale gegen Buffalo, die Pats hatten den Division-Titel schon sicher, durfte sich der Rookie ausführlicher zeigen. Das erste Fazit: Garoppolo agierte ruhig in der Pocket, traf gute Entscheidungen und, wichtig für einen jungen Quarterback, ging durch seine Reads.
Walter Payton: Ikone ohne Happy End
Das geht Hand in Hand mit seinem hohen Spielverständnis, welches auch Belichick bereits ausdrücklich lobte. "Er hatte die Offense gut im Griff und die Jungs richtig aufgestellt. Gleichzeitig hat er nach einigen Hits eine gewisse Härte bewiesen", fasste McDaniels zusammen.
Das überschwängliche Lob, das rund um die Brady-Sperre auf Garoppolo einprasselte, ist allerdings auch mit Vorsicht zu genießen. McDaniels fügte nämlich auch hinzu: "Er muss noch lernen, den Ball im richtigen Moment weg zu bekommen. Natürlich sollte er keine Sacks oder negative Plays in den falschen Situationen kassieren."
Kurzum: Das Timing passt längst noch nicht immer und Garoppolo wird auch in dieser Saison die natürlichen Fehler eines unerfahrenen Quarterbacks machen. Umso mehr, da New Englands O-Line in der Vorsaison stark von Bradys schnellem Release abhing.
Der heikle Drahtseilakt
So wartet auf Garoppolo weiter viel Arbeit und Belichick muss, je intensiver die Vorbereitung wird, einen Drahtseilakt vollbringen: Es gilt zu entscheiden, welcher der beiden Quarterbacks wie viel Zeit mit der ersten Offense bekommt. Ein nicht zu unterschätzender Faktor - und Belichick ist bekannt dafür, dass vor allem während der Saison nahezu ausschließlich die Starter mit dem ersten Team trainieren.
Doch zumindest hat Garoppolo, wie McDaniels ausführte, "die meisten Dinge, die er gesagt bekommt, vorher schon einmal gehört. Und ich würde sagen, er hat sie schon oft gehört. Erfahrung ist etwas, das du niemandem beibringen kannst, die muss er auf dem Feld gewinnen. Er hat jetzt in der Saisonvorbereitung nochmals die Chance, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Er ist schon viel weiter, trifft schnellere Entscheidungen. Gleichzeitig macht er immer noch jeden Tag Fehler. Aber die können wir dann korrigieren und daraus lernen."
McDaniels in der Pflicht
Auf McDaniels wird gleichzeitig ebenfalls eine große Verantwortung ruhen. Immerhin werden die Patriots zum Saisonauftakt auch auf den ebenfalls gesperrten Running Back LeGarrette Blount verzichten müssen, während Pass-Catching-RB Shane Vereen zu den Giants wechselte. Somit liegt es am Offensive Coordinator, Garoppolo das Leben möglichst leicht zu machen - und er hat bereits bewiesen, dass er es kann.
Als sich Brady 2008 beim Saisonauftakt das Kreuzband riss, half er Backup Matt Cassel enorm dabei, mit kleinen Veränderungen am Game Plan die eigenen Stärken zu betonen und die Schwächen zu kaschieren. In Garoppolos Fall dürfte das trotz der Blount-Sperre eine stärkere Fokussierung auf das Running Game und daraus resultierend Play Action und Bootlegs bedeuten, die mit dem athletischen Garoppolo sogar besser klappen dürften als mit Brady.
Darüber hinaus wird McDaniels auch die Anzahl der Plays herunterschrauben, denn trotz all der Vorschusslorbeeren fehlt Garoppolo schlicht der Rhythmus einer NFL-Offense. Viele kurze, schnelle Pässe und WR-Screens, welche die Pats ohnehin gerne verwenden, sollten gegen die Blitze helfen, die ihn, wie fast jeden jungen Quarterback, unweigerlich erwarten.
"Es gibt keine schlechten Tage"
Natürlich kamen rund um die Brady-Garoppolo-Story auch Vergleiche zu 2001 auf. Als Patriots-QB Drew Bledsoe damals von Mo Lewis zerlegt wurde, fiel er für einige Wochen aus. Brady, damals ebenfalls in seinem zweiten Jahr, sprang ein - und gab seinen Platz nie wieder her. Eine ähnlich rasante Entwicklung von Garoppolo zu erwarten, wäre allerdings weder realistisch, noch fair dem Youngster gegenüber.
Immerhin, und auch das gilt es nicht zu vergessen, sind die Patriots seit Jahren als langsame Starter bekannt. Das ganze Team benötigt häufig die ersten drei, vier Spiele, um in der Saison anzukommen. Gleichzeitig ist allerdings eine Lernkurve zu erwarten, denn eines klingt immer wieder unweigerlich durch: Garoppolo lernt aus seinen Fehlern, und das gilt auch in der laufenden Saisonvorbereitung.
So folgte auf den schlecht getimten Pick gegen McCourty Mitte Mai zwar zunächst eine desolate Einheit mit fünf Interceptions. Mitte Juni aber, beim zweiten medial zugänglichen Training, glänzte Garoppolo mit 26 Completions bei 32 Würfen in der 11-gegen-11-Einheit und hinterlässt bislang einen zunehmend starken Eindruck.
McDaniels brachte es zuletzt auf den Punkt - und die Devise könnte für den bisherigen Backup vor dem schweren Kurzzeit-Erbe nicht eindeutiger sein: "Ich denke in Jimmys Situation gibt es keine schlechten Tage. Wir lernen entweder aus unseren Fehlern, oder wir machen den nächsten Schritt und freuen uns darüber."
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