"In den letzten Wochen ist ja viel Kritik auf unseren Quarterback Andrew Luck eingeprasselt. Da kann ich nur sagen: Alle reden immer über Andrew, weil er das Gesicht unserer Franchise ist. Aber man darf nie vergessen, dass es ein Teamsport ist."
Mit diesen deutlichen Worten verteidigte SPOX-Kolumnist Björn Werner in der vergangenen Woche seinen QB bei den Indianapolis Colts. Der hatte in den ersten drei Wochen ein Passer Rating von 65,0 aufgelegt. Platz 34 unter allen Quarterbacks, hinter Ryan Tannehill (77,1), Colin Kaepernick (67,7) - und auch hinter Ryan Mallett (65,3), Quarterback der Texans. Zum Vergleich: Aaron Rodgers steht nach vier Spielen bei einem Rating von 125,9.
Platz 34 für Andrew Luck (ESPNs Quarterback-Rating sieht ihn mit Platz 31 nicht sehr viel höher)? Dem ausgerufenen Quarterback-Superstar des kommenden Jahrzehnts? Dem Nachfolger Peyton Mannings, nicht nur in Indianapolis sondern - in den Augen vieler Experten - auch als Meister und Identifikationsfigur auf der wichtigsten Position des Sports?
Hatte man sich im 1,93-Meter-Mann mit dem ebenso bescheidenen Auftreten wie imposanten Raketen-Arm derart getäuscht? Wird aus ihm gar ein zweiter Robert Griffin III? "Im Football musst du bei den Turnovern einfach die Nase vorn haben", wusste auch Werner - aber mit Luck ist das dieser Tage schwer: Seit 2014 hat niemand mehr Ballverluste verzeichnet als er.
Luck: Sündenbock oder Opfer?
Eine solche Bewertung von Luck "im Vakuum" ist ebenso gängig wie komplett unfair. Schließlich prasselt auf den körperlich so beeindruckenden Athleten nicht nur Kritik ein, sondern auch ein ständiger Regen von zähnefletschenden Pass Rushern. Die Offensive Line ist seit Jahren ein Sieb und funktionierte schon zu Mannings Zeiten oft nach dem "Ach, wir kriegen das schon irgendwie hin. ER kriegt das irgendwie hin"-Prinzip. Dazu kommen ein malades Running Game, viele Verletzungen - und schwupp wird Luck vom Sündenbock zum schwächsten Glied einer porösen, verrosteten Kette.
Der Weg des größten Widerstandes: NFL-Defenses unter der Lupe
Natürlich liegt die Antwort - Achtung: Klischee - irgendwo dazwischen. Luck würde sich selbst ganz sicher kein gutes Zwischenzeugnis ausstellen. Einen Eintrag ins Klassenbuch bekommt aber auch General Manager Ryan Grigson, der mal wieder kein ausbalanciertes Roster auf die Beine stellen konnte. Nicht umsonst ätzte Head Coach Chuck Pagano nach zwei Wochen recht unverhohlen in Bezug auf die O-Line: "Das ist jetzt schon seit drei Jahren so. Oder etwa nicht?"
Am Fall Luck zeigt sich, wie schwer die Bewertung des Mannes hinter der Offensive Line oft fällt. Denn niemand beeinflusst das Spiel derart wie der QB - aber gleichermaßen wird auch niemand vom Geschehen um ihn herum derart beeinflusst.
Quarterback: Allzweckwaffe mit Cojones
Man mag darüber streiten, ob Quarterback "die am schwersten zu spielende Position" im Sport ist, eine zumindest in den USA geläufige Aussage. Nicht streiten kann man darüber, dass der heutige NFL-QB eine Allzweckwaffe sein muss. Ein (guter) Quarterback kennt nicht nur seine eigenen Aufgaben, sondern auch die aller Offensivspieler um ihn herum: welcher Lineman welchen Pass Rusher blockt, wie die Routen seiner bis zu fünf Receiver aussehen. Die wiederum von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängen können.
Gleichzeitig muss er über Tendenzen, Stärken und Schwächen der gegnerischen Defense Bescheid wissen: Wie sieht das Blitz-Muster aus? Was bedeutet das defensive Personal für unseren angedachten Spielzug? Das bedeutet einerseits büffeln, büffeln, büffeln - und andererseits, im Fokus heranstürmender Modellathleten zu organisieren, zu reagieren, zu improvisieren. Ein Supercomputer, mental eiskalt, mit "Cojones".
50 LIVESTREAMS: Das NFL-Programm auf SPOX
Der QB muss obendrein die Fähigkeit haben, das Ei mit Kraft und Genauigkeit über eine Entfernung von bis zu 50 Metern zu schleudern - und zwar oft so, dass zwischen den Händen seines Receivers und denen der Gegner oft nur Zentimeter liegen. All das passiert erst, nachdem er in Sekundenschnelle die Laufwege der übrigen 21 Spieler auf dem Feld kalibriert und ein offenes Fenster für den Pigskin gefunden hat (Grau ist schließlich alle Theorie: Niemand bestreitet Mannings theoretische Fähigkeiten - aber weil sein Arm nicht mehr will, steht plötzlich Denvers Defensive im Fokus). Vom Umgang mit der Öffentlichkeit und der nötigen Führungspersönlichkeit in der Kabine ganz zu schweigen.
Wer macht wen besser?
Ein solcher Quarterback macht die Spieler um ihn herum besser: Er kompensiert die Schwächen seiner Line, indem er den Ball schnell abgibt oder den Pass Rushern davonläuft. Schlechtes Running Game? Kurze Pässe, Screens oder eine Spread Formation, um in der Box Platz zu schaffen. Keine hochklassigen Receiver? Eine Menge Training, exakt abgestimmte Routes, Play-Action - oder einfach Aaron Rodgers.
Kein Wunder also, dass es die QBs sind, die die MVP-Listen bevölkern. Dass ihre Statistiken eifriger gewälzt werden als die ihres Teams. Dass die Werbepausen gefüllt sind mit "Discount Double-Checks", Manning-Melodien und Quarterbacks mit Kabelanschluss.
Im Gegenzug gilt aber ebenso: Ein gutes Team macht den Quarterback besser. Mit einem gesunden Julio Jones wird aus Matt Ryan wieder "Matty Ice". Hinter der O-Line der Cowboys könnte sich Tony Romo manchmal einen Cocktail mixen, bevor er den Ball mit Grußkarte in Richtung Dez Bryant schickt. Und während Tom Brady vor genau einem Jahr noch abgeschrieben wurde, ist er heute Champion und MVP-Kandidat. Und so kann das Team den eigenen Star und Leitwolf auch schlechter machen. So wie es bei Luck derzeit - zumindest teilweise - der Fall ist.
Angebot und Nachfrage
Die Fokussierung auf den Quarterback, sei es bei Sieg oder bei Niederlage, ist also verkürzt gedacht. Und doch ist sie verständlich: Er ist der Spieler, der den größten Unterschied machen, der Spiele im Extremfall eben auch einmal im Alleingang entscheiden kann - schließlich geht der Ball bei jedem Spielzug durch seine Hände. Und mit der Fokussierung der Liga auf das Passspiel, die No-Huddle-Offense und improvisierte Spielzüge ist seine Rolle in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten um ein vielfaches wichtiger geworden.
Das Problem dabei ist: Der verfügbare Grundstock an fähigen Quarterbacks ist nicht in gleichem Maße mitgewachsen. Das College-Spiel ist nur vereinzelt eine lehrreiche Vorbereitung auf den großen Bruder: Heisman-Gewinner wie Tim Tebow oder Johnny Manziel bleiben oft ganz außen vor. Dazu absolvieren immer weniger Spiele die vollen vier Jahre an der Uni.
So bleibt eine Handvoll großer Namen in der NFL, die ein Spiel im Alleingang entscheiden können und sollen. Dahinter kommt ein gutes Dutzend an Quarterbacks, die mit dem richtigen Team im Rücken im Idealfall um den Titel mitspielen können - und schon hier kann man sich fragen, ob diese Zahl nicht zu hoch gegriffen ist. Wie auch immer: Danach wird es ganz schwer. Die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Monsterverträge: Hoffnung und Panik
Und nur so lässt sich verstehen, warum immer wieder dicke, fette Verträge an Signal Caller ausgeschüttet werden, die man nicht zur Beletage zählen würde. Warum ein Jay Cutler einen 126-Millionen-Dollar-Kontrakt unterschreibt, ein Colin Kaepernick bis zu 114 Millionen bekommt, ein Andy Dalton 96 Millionen und ein Ryan Tannehill in Miami 77 Millionen.
Money Talks: SPOX erklärt NFL-Verträge und den Salary Cap
Natürlich, die Gehaltsobergrenze steigt an, und die wichtigsten Spieler erhalten die Schecks mit den meisten Nullen. Aber die Franchises zahlen in solchen Fällen nur bedingt für bisherige Leistungen. Es geht einerseits um Hoffnung: Die Hoffnung, einen Quarterback des "zweiten Levels" gefunden zu haben. Einer, der zumindest das Potenzial hat, am Ring zu schnuppern, wenn alles passt. Auch wenn die Chance klein ist, die Alarmglocken läuten, die Schwachpunkte offensichtlich sind.
Und andererseits geht es um Panik: Die Panik, am Ende ganz ohne Franchise-Quarterback dazustehen. Panik vor Jahren ohne Postseason, mit lediglich der Hoffnung, beim Draft irgendwie einen Rohdiamanten zu finden - dass das auch schiefgehen kann, zeigt der Fall RG3 eindrucksvoll. Da ist der Übergang von Manning zu Luck in Indianapolis eher Ausnahme denn Regel.
Houston im QB-Limbo
Wie ein Team ohne Franchise-Quarterback aussehen kann, zeigen die Texans. Nach Jahren mit Matt Schaub, der zumindest teilweise am "Franchise-QB"-Label schnuppern konnte, behalf man sich in den letzten Jahren mit Case Keenum, Ryan Fitzpatrick und nun Ryan Mallett respektive Brian Hoyer. Bezeichnend, dass auch ein J.J. Watt in MVP-Form 2014 nicht die Playoffs bringen konnte - ohne guten Quarterback steht man in der NFL schlicht und ergreifend auf verlorenem Posten.
Dieser wird von Coach Bill O'Brien weiter gesucht. Nach Week 1 war er von Hoyer auf Mallett umgeschwenkt, der dieses Vertrauen bislang nicht rechtfertigen konnte (52,3 Prozent der Pässe kommen an) - gegen die Falcons war es am vergangenen Sonntag so schlimm, dass Hoyer in Halbzeit zwei von der Bank kam. Obwohl der gut spielte, bleibt Mallett erst einmal die Nummer eins. O'Brien stellte ihm jedoch kein überragendes Zeugnis aus: "Wir müssen alle besser Spielen Das ist Mallett auch klar."
Luck-Einsatz nicht sicher
Im Heimspiel gegen die Colts liegt der Fokus neben Andre Johnsons Rückkehr vor allem auf Running Back Arian Foster, der sein zweites Spiel in dieser Saison bestreitet, sowie auf dem Defensiv-Duo Watt und Jadeveon Clowney, das sich bereits auf die Bewacher von Luck freuen dürfte.
Wenn Luck denn spielen wird. Seine Schulterverletzung machte einen Auftritt gegen die Jaguars unmöglich, in der kurzen Woche ging es beim 26-Jährigen auf und ab. Gut möglich, dass er noch einmal zuschauen muss. Weil Ersatzmann Matt Hasselbeck (krank) ebenfalls auf der Kippe steht, könnte am Ende sogar der von der Straße geholte Josh Johnson zum Einsatz kommen. Nicht dabei ist definitiv Björn Werner, der mit Oberschenkelproblemen ausfällt.
In einer überschaubaren AFC South können sich beide Teams trotz des durchwachsenen Saisonstarts Hoffnungen auf die Playoffs machen. Eine große Rolle ist derzeit beiden allerdings nicht zuzutrauen. Den Texans fehlt der Quarterback. Und die Colts beweisen, dass ein guter QB zwar die Grundlage für den Erfolg ist - aber eben nicht mehr.
Das SPOX-NFL-Tippspiel, Week 5:
Florian Regelmann | Stefan Petri | Adrian Franke | Marcus Blumberg | Bastian Strobl | |
Colts @Texans | Colts | Colts | Colts | Colts | Colts |
Bears @Chiefs | Chiefs | Chiefs | Chiefs | Chiefs | Chiefs |
Seahawks @Bengals | Seahawks | Bengals | Bengals | Bengals | Bengals |
Redskins @Falcons | Falcons | Falcons | Falcons | Falcons | Falcons |
Jaguars @Bucs | Bucs | Bucs | Bucs | Jaguars | Jaguars |
Saints @Eagles | Eagles | Saints | Eagles | Saints | Eagles |
Browns @Ravens | Ravens | Ravens | Ravens | Ravens | Ravens |
Rams @Packers | Packers | Packers | Packers | Packers | Packers |
Bills @Titans | Bills | Titans | Titans | Bills | Bills |
Cardinals @Lions | Cardinals | Cardinals | Cardinals | Cardinals | Cardinals |
Patriots @Cowboys | Patriots | Patriots | Patriots | Patriots | Patriots |
Broncos @Raiders | Broncos | Broncos | Broncos | Broncos | Broncos |
49ers @Giants | Giants | Giants | Giants | Giants | Giants |
Steelers @Chargers | Steelers | Chargers | Chargers | Chargers | Chargers |
Bye: Dolphins, Vikings, Jets, Panthers | |||||
Letzte Woche | 12-3 | 12-3 | 10-5 | 9-6 | 9-6 |
Insgesamt | 43-20 | 38-25 | 41-22 | 33-30 | 33-30 |