Zweite Chance = letzte Chance?

Stefan Petri
13. Mai 201607:43
Platz im Fanclub der Nationalmannschaft gibt es für Björn Werner. Und bei den Jaguars?getty
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Der deutsche Pass Rusher Björn Werner hat nach seinem Abgang aus Indianapolis einen Einjahresvertrag bei den Jacksonville Jaguars unterschrieben? Ist es die letzte Chance für den 25-Jährigen, der bei den Colts nie ganz überzeugen konnte? Wie passt er in den Kader - und wie passt sein Spiel ins System von Head Coach Gus Bradley? SPOX beantwortet die fünf wichtigsten Fragen zu Werners neuer Heimat.

Warum hat sich Werner bei den Colts nicht durchgesetzt?

Im Nachhinein muss man wohl konstatieren, dass der ACC Defensive Player of the Year 2012, der bei den Florida State Seminoles die Fans überzeugt und als erster Deutscher überhaupt in der ersten Runde gedraftet worden war, schlicht und ergreifend nicht die erhoffte Leistung gebracht hat. 6,5 Sacks in 38 Einsätzen sind zu wenig, in der Saison 2015 gelang ihm sogar kein einziger Sack. Wenn man das mit seinen 20 Sacks in den letzten beiden Jahren auf dem College vergleicht, sind die Indianapolis Colts zurecht enttäuscht.

Warum Werner die Leistungen vom College nicht bestätigen wollte, hat wohl vor allem zwei Gründe. Der erste und wichtigste ist ebenso profan wie entscheidend: Verletzungen. "Die beiden wichtigsten Regeln in der NFL: Verletze dich nicht und verletze dich nicht", hatte Werner im Interview mit SPOX selbst noch vor wenigen Wochen festgestellt.

Gesund war er in seiner Zeit in Indianapolis nur zeitweise. Knie- und Fußprobleme in seiner Rookie-Saison, eine Schulterverletzung kam 2014 dazu, eine OP am Knie. "Seit ich in die Liga kam, war ich nicht einmal gesund", sagte er im April 2015 dem Indy Star. "Wenn ich da draußen bin und gesund bin, dann kann ich einiges bewegen", betonte er - und sein Coach Chuck Pagano sah es ähnlich: "Wir haben die Video-Aufnahmen. Wenn er gesund bleibt, wird er ein großartiges Jahr haben." Ein Jahr später zogen die Colts die Reißleine.

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Der zweite Grund: Werner passte nie so wirklich in das Defensivsystem der Colts. Während Werner bei den Seminoles in einer 4-3-Defense als Defensive End fungierte und sich vor allem darauf konzentrieren konnte, auf Quarterback-Jagd zu gehen, spielten die Colts und Head Coach Chuck Pagano eine 3-4-Defense, in der die Rolle des Defensive Ends in dieser Form nicht existiert. Werner musste sich auf mehreren Positionen versuchen, darunter als Outside Linebacker, also in einer weiter zurückgezogenen Position mit anderen Defensivaufgaben. Mit diesen wurde er nie so richtig warm, zumal er, wie viele Nicht-Amerikaner, vergleichsweise spät mit dem Football anfing.

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Seine beste Zeit bei den Colts erlebte Werner zu Beginn der Saison 2014, noch frei von Verletzungen. Gleich zwei Sacks und sechs Tackles etwa gelangen ihm am 5. Oktober gegen die Baltimore Ravens. Danach ging es stetig bergab. Sicherlich spielten auch die Erwartungen eine Rolle, die man gemeinhin an einen First-Round-Pick stellt - eine Auswahl in einer der späteren Runden hätte wohl etwas Druck von ihm genommen. Spätestens als das Team den Vertrag mit Pagano nach der vergangenen Saison verlängerte, war abzusehen, dass Werner keine Zukunft mehr bei den Colts hat.

Weshalb dauerte die Teamsuche so lange?

Am 8. März 2016 entließen die Colts den Pass Rusher aus seinem noch ein Jahr geltenden Vertrag. Rund zwei Monate später griffen die Jaguars zu. Ein First-Rounder in der NFL bekommt schon aufgrund seines Talents eigentlich fast immer eine zweite Chance bei einem anderen Team. Warum musste Werner bis zum Mittwoch warten?

Die 31 Konkurrenten registrierten die Entlassung Werners natürlich. Dann galt es erst einmal, die eigenen Hausaufgaben zu machen: Woran ist Werner in Indianapolis gescheitert - und wie gut ist die Chance, dass es bei uns besser läuft? "Dir wird immer klar, dass es eben ein Geschäft ist. Die Leute fragen natürlich, warum ich entlassen wurde", musste Werner zugeben. Da werden Fühler ausgestreckt und Möglichkeiten abgeklopft.

So oder so: Vor dem Draft war ein Deal unwahrscheinlich. Dafür ist die Talente-Auswahl eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten: Gleich 14 Draft Picks hatten etwa die Cleveland Browns Ende April in Chicago im Köcher, mit denen getradet und/oder die Löcher im eigenen Kader gestopft werden. Danach geht es darum, die nicht gedrafteten Spieler abzugreifen und ins eigene Training Camp und die Practice Squad zu verfrachten.

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Wenn sich der Staub gelegt hat, wird schließlich Bilanz gezogen: Wo hat man noch Lücken, wo würde man die Konkurrenzsituation im eigenen Kader gerne erhöhen, und sei es nur für die sommerlichen Trainingseinheiten? Und wo gibt es bei der Konkurrenz eventuell interessante Spieler, die nach dem Draft überflüssig geworden sein könnten?

Kein Wunder also, dass Werner sich erst einmal in Geduld üben musste. Bei anderen Ex-NFL-Profis kann das auch noch länger dauern. Einige kommen erst im Laufe der Regular Season bei Teams unter, wenn diese durch Verletzungen dezimiert worden sind.

Für Werner machte es gleichermaßen keinen Sinn, zu früh zu unterschreiben. Auch für ihn war es die bessere Lösung, auf eine passende Gelegenheit zu warten und nicht sofort beim ersten Team zu unterschreiben - sowohl in Sachen Gehalt, als auch im Hinblick auf die Chancen, es in den Kader zu schaffen. Die zweite Chance könnte dann doch die letzte sein. Es galt also, ein erneut unpassendes System wie in Indy möglichst zu vermeiden.

Welche Chancen hat Werner bei den Jaguars?

Das ist noch schwierig einzuschätzen. Grundsätzlich gilt: Werner hat bei den nun anstehenden "Organized Team Activities", den OTAs Ende Mai und in der ersten Juni-Hälfte, die gleichen Chancen wie alle anderen Neuzugänge auch. Die NFL ist eine knallharte Leistungsgesellschaft, lediglich die Top-Picks bekommen ob des Talents und des investierten Gehalts wohl eine etwas längere Leine - wie es auch bei Werner bei den Colts der Fall war.

"Erst einmal muss ich es in den Kader schaffen", war sich Werner dieser schwierigen Situation auch bewusst. Dazu kommt: Die Jaguars (2015: 5-11), die nach mehreren Jahren voller Fehlschläge personell massiv aufgerüstet haben, gelten mittlerweile sogar als kleiner Geheimtipp auf die Playoffs. Besonders in die Defense hat General Manager David Caldwell investiert, nachdem man 2015 28 Punkte im Schnitt zuließ und in dieser Hinsicht die Rote Laterne gab. Zehn Defensivspieler wurden in Draft und Free Agency bereits nach Florida geholt.

Das heißt: Auf der Suche nach Zählbarem auf den Pass-Rusher-Positionen bekommen viele Spieler eine Chance, auch Werner. 36 Sacks markierten die Jags in der letzten Saison, Platz 20 in der NFL. Die Konkurrenz ist jedoch groß: So kehrt unter anderem Dante Fowler Jr., der Erstrundenpick des Drafts 2015, nach einem Kreuzbandriss zurück. Im Draft wurden zudem mit Yannick Ngakoue und Tyrone Holmes zwei weitere Pass Rusher verpflichtet.

Die Konkurrenz ist also hochkarätig, Werner ist vorerst sicher nicht als Starter vorgesehen. Bei ihm wird es darum gehen, sich im Kampf um die Backup-Rollen durchzusetzen und einer limitierten Rolle gute Leistungen abzuliefern. Den Kopf in den Sand stecken wird er trotzdem nicht: Nach einer langen Pause sollte er körperlich fit in den Kampf um einen Kaderplatz eingreifen können. Auch der Tapetenwechsel könnte helfen: Jacksonville ist nur zweieinhalb Autostunden von seiner früheren Wirkungsstätte in Tallahassee entfernt, zudem spielen mit Jalen Ramsey, Rashad Greene und Telvin Smith gleich drei weitere Seminoles für die Jags.

Was haben die Jaguars vom Werner-Deal?

Für das Team von Head Coach Gus Bradley ist der Deal kein großes Risiko. Ein Einjahresvertrag für Werner ist finanziell problemlos zu verkraften, würde man sich von ihm trennen, wäre der Verlust minimal.

Grundsätzlich passt Werner in die Strategie des Front Office, die da heißt: Probiere alles zur Verfügung stehende Spielermaterial aus - und behalte das, was passt. In den letzten vier Jahren war das Team in der DVOA-Metrik der Analytics-Seite Footballoutsiders.com nie besser als Platz 20. Für den von den Seattle Seahawks gekommenen Bradley, der dort unter anderem die "Legion of Boom" etabliert hatte, ein Unding. Auch für ihn sind zwei Faktoren entscheidend für eine potente Defense: ein starker Pass Rush und eine gute Secondary. Denver hat es im Super Bowl erneut vorgemacht.

Für die Secondary ist mit Jalen Ramsey der 5. Pick des Drafts vorgesehen, den Pass Rush sollen Fowler Jr. und Co. flottmachen. Wenn man dann noch einen ehemaligen College-Star und First-Rounder für wenig Geld bekommen kann - warum nicht?

Passt Werner ins System der Jaguars? Ja und nein. Im Gegensatz zu Pagano lässt Bradley eine 4-3-Defense spielen, die zwei Defensive Ends Platz bietet. Gut also für Werner. Gleichzeitig bietet das Scheme aber anspruchsvolle Rollen, da es, ähnlich der berühmten 4-6-Defense der Chicago Bears, für einen, oder gar gleich zwei "Leo"-Pass Rusher ausgelegt ist.

Dieser "Leo" wird auf der Weak Side der Offense aufgeboten, also der Seite ohne Sonderbewachung durch den Tight End, und das meist mit einem gehörigen Abstand zum Offensive Tackle. Um von dort als reiner Pass Rusher zum QB durchzustoßen, muss man eine Menge Athletik mitbringen - und die muss Werner erst einmal unter Beweis stellen. Ist er für die Rolle des Ersatz-"Leo" ungeeignet, würde er auf der anderen Seite der Line doch eher den verkappten Linebacker gegeben, der vor allem gegen den Run zuständig ist.

Wie gesagt: Die Jaguars können bei einem Einjahresvertrag eigentlich nur gewinnen, selbst wenn Werner nicht perfekt ins eigene System passt. Und wenn alle Stricke reißen, ist Werner immer noch von einem Division-Rivalen gekommen, gegen den man am 2. Oktober (in London) und 1. Januar antreten muss. Und deshalb womöglich für den einen oder anderen Tipp gut.

Und wenn es für Werner nicht reicht?

"Natürlich macht das keinen Spaß, aber jetzt bin ich eben in dieser Position und man muss positiv denken." So schätzte der Ex-Colt seine Situation gegenüber SPOX ein. Es hätte Werner schlechter treffen können, als bei einem aufstrebenden Team in der Nähe seiner College-Heimat zu landen. Einem Team, das geradezu nach Pass Rushern lechzt.

Für Werner gilt es nun, im internen Konkurrenzkampf bei den Jaguars alles abzurufen und sich, auch wenn es nicht reichen sollte, zumindest für andere Teams zu empfehlen. Derzeit ist der Kader 90 Mann stark, und das wird er auch über die OTAs, das Minicamp und schließlich das Training Camp, welches Mitte Juli beginnt, bleiben.

Bis zum 1. September muss der Kader auf 75 Mann, bis zum 5. September schließlich auf die finalen 53 Mann heruntergekürzt werden.

Der Schedule für die kommende Saison: Und so schließt sich der Kreis

Sollten sich die Jags, aus welchem Grund auch immer, im Laufe dieser Zeit gegen Werner entscheiden und ihn aus dem Kader entlassen, kann er immer noch bei anderen Teams oder in den Practice Squads unterkommen. Dort gilt es dann zu beherzigen, was er schon im April betont hatte: "Irgendwann werde ich eine Chance bekommen und die muss ich nutzen."

Gleichzeitig wäre eine zweite Entlassung innerhalb so kurzer Zeit auch ein herber Rückschlag und würde die übrigen Teams wohl von einem Angebot zurückschrecken lassen. Zweite Chancen gibt es im Football fast immer. Dritte sind allerdings rar gesät.

Werners Statistiken im Überblick