Die Liste der Mr. Irrelevants aus den letzten Jahren liest sich abwechslungsreich. Da waren Spieler, die durchaus Potential mitbrachten - etwa Titans-Cornerback Kalan Reed oder Cardinals-Tight-End Gerald Christian - mehrere Namen, von denen man nie wieder etwas gehört hat, und auch einige Ausnahmen, die sich in der Liga halten konnten. Kicker Ryan Succop (Chiefs/2009) wäre so ein Kandidat.
Doch keiner dieser Spieler kam mit dem Maß an Faszination, geschweige denn dem Bekanntheitsgrad, den der diesjährige Mr. Irrelevant mit sich bringt: Als die Broncos Chad Kelly mit dem letzten Pick im 2017er Draft wählten, endete eine sichtbar lange und zermürbende Wartezeit für den Quarterback. Kurz zuvor war noch ein unvorteilhaftes Foto aus dem Wohnzimmer der Kellys im Internet kursiert, auf welchem die Frustration und das tagelange Warten förmlich zu greifen waren.
Beschäftigt man sich allerdings mit den letzten drei Tagen im Kelly-Haushalt, erhält das Bild etwas Kontext: Chad Kelly hatte in der Nacht von Donnerstag auf Freitag auf dem Fußboden im Keller geschlafen, gegenüber der Buffalo News erklärte er: "Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein. Ich hätte auch im Bett schlafen können, aber ich wollte diesen Reiz spüren."
Das gleiche Spiel wiederholte sich von Freitag auf Samstag. Dass Kelly kein Erstrunden-Pick sein würde, war abzusehen. Dass er es nicht in die dritte Runde schaffte, ärgerte ihn. "Ohne die Verletzung wäre ich denke ich in der ersten oder zweiten Runde gedraftet worden", erklärte er noch am Freitagabend.
Die Frustration erreichte ihren Höhepunkt schließlich kurz vor dem Ende des Drafts am Samstag. Mit noch drei Picks auf dem Board in der siebten Runde verließ Kelly das Wohnzimmer und ging in den Garten, um sich abzulenken. Plötzlich klingelte sein Telefon - die Denver Broncos waren am Apparat. Er würde als Mr. Irrelevant den Draft abschließen.
Enormes Pech im Draft-Prozess
Um Kellys Frustration besser verstehen zu können, muss man einige Monate zurückblicken. Etwa zum 9. Februar, als die NFL ihn darüber informierte, dass er doch nicht zur Combine eingeladen werden würde.
Die Chance, sich athletisch, aber vor allem auch in den Gesprächen mit den Teams zu beweisen und seine Draft-Aktie so nach oben zu treiben, war plötzlich weg. Die Liga wollte damit ein Zeichen setzen, mehrere Prospects, die in der Vergangenheit Ärger abseits des Platzes gehabt hatten, wurden nicht eingeladen.
Das rückte seinen Pro Day am 3. April noch stärker in den Fokus - und der nächste heftige Rückschlag folgte. Kelly, der sich nach 2013 auch 2016 das rechte Kreuzband gerissen hatte, brach den Pro Day nach zwölf Würfen aufgrund einer Verletzung an der Hand ab. Er musste gar operiert werden und wird wohl bis Mitte Juli überhaupt nicht werfen können.
Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Verkettung unglücklicher Umstände Kellys Draft-Chancen empfindlich trafen. Dennoch aber darf seine Einschätzung, er wäre ohne Verletzungen ein Erst- oder Zweitrunden-Pick gewesen, zumindest kritisch hinterfragt werden.
Ärger, Ärger, Ärger
Denn wer sich mit Kelly, dessen Onkel der berühmte frühere Bills-Quarterbacks Jim Kelly ist, beschäftigt, der wird sich früher oder später an den Kopf fassen. Der Quarterback flog bereits aus seinem ersten High-School-Team raus. Er stürmte das High-School-Spielfeld seines Bruders nach einem späten Hit und mischte sich in eine handfeste Schlägerei auf dem Platz ein.
Im College ging es dann gerade so weiter. Kelly, Teil der Clemson-Recruiting-Klasse 2012, wurde nach dem Spring Game 2014 rausgeworfen, nachdem er sich mehrfach mit den Coaches angelegt hatte - und machte so den Weg frei für Deshaun Watson.
"Wenn ich es jetzt nicht raffe..."
Es folgte der Abstieg ins Niemandsland an das East Mississippi Community College, wo er endlich wieder Football spielte: 3.906 Yards, 47 Touchdowns und nur acht Picks bedeuteten eine makellose 12-0-Bilanz und den NJCAA-National-Titel. Anschließend klopfte Ole Miss an und Kelly sagte dankbar zu. Doch der Ärger war prompt wieder da.
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Im Dezember 2014 wurde Kelly vor einer Bar in Buffalo festgenommen, nachdem er in eine weitere Schlägerei verwickelt war, einem Mann ins Gesicht schlug und lauthals gedroht hatte: "Ich gehe gleich an mein Auto, hole meine AK-47 und baller hier in der Gegend rum." Er plädierte später auf schuldig.
Auch in den vergangenen Wochen gab er sich betont reumütig. So habe er, wie er bei PFT Live berichtete, den NFL-Teams klar gemacht, "dass ich gerade meinen 23. Geburtstag hatte. Wenn ich es jetzt nicht raffe, dann wird das nie passieren. Ich denke, die Teams haben meine ernsthafte Entschuldigung für diese dummen Fehler verstanden."
Ein Gunslinger - positiv wie negativ
Man darf dennoch getrost davon ausgehen, dass auch ein komplett fitter Chad Kelly nicht in der ersten Runde gedraftet worden wäre - aber wo wäre er gedraftet worden? Selbstredend eine reine Spekulation, sportlich aber bringt Kelly durchaus einige interessante Eigenschaften mit und hat mehrere Tapes, die Spaß machen.
In einem Wort: Er ist ein Gunslinger, mit allen positiven und negativen Implikationen. 13,6 Prozent seiner Pässe flogen in den letzten beiden College-Spielzeiten über 20 Yards - mehr als etwa bei DeShone Kizer. Er sucht immer wieder den langen Ball und kann jeden Wurf, dabei zeigt er eine gute Beinarbeit, geht durch seine Reads und änderte auch Spielzüge eigenständig an der Line of Scrimmage.
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Die andere Seite der Gunslinger-Medaille: Kelly spielt, wenn man es in einem Wort zusammenfassen wollte, rücksichtslos. Teilweise wirkt er völlig überhastet und läuft auch gerne mal voreilig aus der Pocket raus, bei dem Versuch, den Homerun-Pass zu werfen, scheint ihn die Coverage manchmal überhaupt nicht zu interessieren.
Und doch wurde er 2015 der erste Ole-Miss-Quarterback, der Alabama, Auburn und LSU sowie insgesamt fünf Top-25-Teams in der gleichen Saison schlagen konnte. Ole Miss gewann zehn Spiele, die meisten seit 1959, und Kelly war der Mittelpunkt der Offense mit den meisten Punkten, Yards, Touchdowns und Passing-Yards in der Schulgeschichte.
"Mein Lieblings-Quarterback im Draft"
Das Potential ist ohne Frage da, auch in der NFL erfolgreich zu sein, selbst wenn die vergangene Saison insgesamt eher seine Kritiker stärkt. Doch auch hier hilft Kontext: Ole Miss verlor im Vorjahres-Draft zahlreiche Stützen an die NFL, darunter Kellys Left Tackle Laremy Tunsil sowie Nummer-1-Receiver Laquon Treadwell.
Trotzdem kam die Erklärung von Broncos-Coach Vance Joseph am Wochenende in ihrer Bestimmtheit durchaus überraschend: "Er war mein Lieblings-Quarterback in diesem Draft. Er hat Alabama geschlagen, das ist nicht einfach. Er ist ein harter Kerl und er ist klug. Er hat in der Vergangenheit einige kindische Fehler begangen, aber daraus hat er gelernt. Ich habe ein gutes Gefühl bei ihm."
Team-Geschäftsführer John Elway verriet zudem, dass er sich mit Kellys berühmtem Onkel vorher ausgetauscht hatte - beide waren 1983 in der ersten Runde des Drafts ausgewählt worden: "Jim hat mir gesagt, dass er ein guter Junge ist. Das hat mir gereicht. Ich vertraue Jim da. Wir haben uns sehr gefreut, dass er am Ende noch da war, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber wir sind froh, dass wir ihn bekommen haben."
Eine interessante Quarterback-Situation
Natürlich gebe es, fuhr Elway dann schließlich doch fort, eine "gewisse Geschichte" mit Vorfällen abseits des Platzes. "Aber wir glauben, dass Chad verstanden hat, was passiert ist, und dass er bereit ist, den nächsten Schritt zu machen. Wir haben vollstes Vertrauen, dass Chad die Situation, in die er hier rein kommt, voll verstehen wird."
Es ist eine gute Überleitung, denn die Quarterback-Situation in Denver ist jetzt durchaus interessant. Verletzungsbedingt dürfte Kelly in diesem Jahr kein allzu großer Faktor sein, doch weder Trevor Siemian, noch Vorjahres-Erstrunden-Pick Paxton Lynch sitzen bisher als fester Starter im Sattel - ganz im Gegenteil. Sollte sich hier 2017 nichts drastisch verändern, könnte ein interessantes Quarterback-Duell entstehen.
Und Kelly selbst? "In den letzten Wochen hatte ich einige Rückschläge zu verkraften", gab er in der Buffalo News offen zu, "aber da muss man sich einfach durcharbeiten. Letztlich bin ich in der richtigen Situation gelandet. Gott hat einen Plan - ich meine, wie hoch ist die Chance, dass ich mich am bisher wichtigsten Tag meiner Karriere am Handgelenk verletze? Ich werde alles geben, sobald ich gesund bin."
Einen Artikel zu seinem Clemson-Rauswurf hatte er im Junior College stets in seinem Zimmer aufbewahrt und sich jeden Tag angeschaut, um sich den Vorfall erneut bewusst zu machen. Kelly versteht, dass jeder seiner Schritte bis ins Detail beobachtet und gegebenenfalls gegen ihn verwendet wird. Jetzt muss er nur zeigen, dass er das tatsächlich auch verinnerlicht hat. Dann könnte er in einigen Jahren wirklich der interessanteste Mr. Irrelevant aller Zeiten sein.