Warum findet Kaepernick kein neues Team?

Von Adrian Franke
01. August 201709:58
Colin Kaepernick sorgte mit seinem Protest während der Nationalhymne in der vergangenen Saison für Aufsehengetty
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Auch wenn die Free Agency schon mehrere Monate im Rückspiegel liegt, bleibt Colin Kaepernick weiterhin ohne neues Team. Der Quarterback, der sich Anfang März von den San Francisco 49ers verabschiedet hatte, sorgt längst für explosiven Gesprächsstoff und die Frage stellt sich immer häufiger: Warum hat der 29-Jährige noch kein neues Team gefunden? SPOX beleuchtet die wichtigsten Fragen rund um die Situation des einstigen Shootingstars.

1. Wie ist die Situation um Kaepernick?

Die wichtigsten Fakten: Im März trennten sich Kaepernick und die 49ers, seitdem ist der Quarterback ein Free Agent und könnte theoretisch bei jedem Team einen Vertrag unterschreiben. Allein: Mit konkreten Angeboten war es bislang nicht allzu weit her.

Als einziges Team zeigte Seattle bislang ernsthaftes Interesse. Kaepernick erhielt ein Probetraining, allerdings keinen neuen Vertrag. Die anschließende Erklärung von Head Coach Pete Carroll wirkte etwas merkwürdig, schien er doch zu sagen, dass Kaepernick zu gut für einen Vertrag sei: "Colin war bisher ein fantastischer Footballer, und das wird er auch weiterhin sein. Er ist ein Starter in dieser Liga. Und wir haben schon einen Starter. Aber er ist ein Starter, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er nirgends eine Chance bekommen wird."

Colin Kaepernick sorgte mit seinem Protest während der Nationalhymne in der vergangenen Saison für Aufsehengetty

Seattle verpflichtete stattdessen Austin Davis als Backup für Russell Wilson, infolge der Verletzung von Joe Flacco sondieren jetzt die Baltimore Ravens als erst zweites Team wirklich konkret eine Kaepernick-Verpflichtung. Der 29-Jährige soll gewillt sein, auch als Backup nach Baltimore zu kommen - immerhin ist davon auszugehen, dass Flacco nur maximal einige Wochen lang ausfallen wird. Was das finanziell aus Kaepernicks Sicht bedeutet, ein wichtiger Aspekt, ist noch völlig unklar.

Weit vor Fragen um sein Gehalt und definitiv vor der rein sportlichen Beurteilung scheint jedoch ein anderer Aspekt zu stehen. Wenn man sich die Frage stellt, warum Colin Kaepernick noch immer keinen Job hat, kommt man an seinem - völlig legitimen, gewaltlosen und von zahlreichen aktiven Spielern verbal unterstützten - Protest in der vergangenen Saison längst nicht mehr vorbei.

2. Warum findet Kaepernick keinen Job?

Es ist seit Monaten zumindest medial ein offener Diskussionspunkt: Weil sich Kaepernick während der vergangenen Saison bei der Nationalhymne vor den Spielen hinkniete und so offen gegen soziale Ungerechtigkeiten und Polizeigewalt protestierte, sollen sich mehrere Team-Besitzer gegen eine Verpflichtung des Quarterbacks ausgesprochen haben. Dabei geht es längst nicht nur um ideelle Werte - vielmehr spielen die Einflüsse von Sponsoren und die Einstellung der Fan-Basis eine Rolle. Anders gesagt: Wie eigentlich immer geht es vor allem ums Geld.

Im Zuge des offenen Interesses der Baltimore Ravens war es jetzt Ravens-Besitzer Steve Bisciotti, der dieses Thema als erster NFL-Franchise-Boss ganz unverblümt adressierte: "Ich weiß, dass wir damit einige Leute verärgern. Und ich weiß, dass wir andere Leute glücklich machen, wenn wir uns dafür einsetzen. Er hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, gewaltloser Protest ist etwas, das wir alle begrüßen. Persönlich mochte ich die Art und Weise wie er es gemacht hat nicht. Aber es hat mir gefallen, als er vom Sitzen (auf der Bank) zum Knien übergegangen ist."

Weiter führte Bisciotti überraschend offen aus: "Sprecht mit euren Nachbarn, Freunden und Mitarbeitern, denn ich denke, dass ihr einen ähnlichen Eindruck bekommen werdet, wie auch ich: Immer, wenn ich negative Meinungen höre, höre ich auch positive Meinungen. Manchmal ist es schockierend, wo die herkommen. Ich hoffe, dass wir das Beste für das Team machen, und dass wir dabei die richtige Balance mit den Fans finden. Eure Meinung ist uns wichtig, und wir konnten da intern auch selbst keinen Konsens finden."

Die Ravens haben außerdem auch mit aktuellen und ehemaligen Spielern sowie Sponsoren gesprochen, um die Auswirkungen einer Verpflichtung des Quarterbacks auszuloten. Bisciotti widersprach damit NFL-Comissioner Roger Goodell, der noch Mitte Juni erklärt hatte, dass die Aspekte abseits des Platzes in der Frage, warum Kaepernick noch keinen Job hat, keine Rolle spielen. "Das sind Football-Entscheidungen. Ich glaube, wenn ein Team das Gefühl hat, dass Colin Kaepernick die Mannschaft verbessern würde, würden sie [ihn verpflichten]", betonte Goodell damals.

Kaepernicks NFL-Statistiken seit 2012:

Jahr
SpieleCompletionsYardsTouchdownsInterceptionsRunsYardsTouchdowns
201612196/3312.241164694682
20159144/2441.61565452561
201416289/4783.36919101046391
201316243/4163.197218925244
201213136/2181.814103634155

Ex-Teamkollegen verteidigen Kaepernick

Kaepernick hat bereits vermelden lassen, dass er in der kommenden Saison nicht mehr während der Hymne protestieren wird und mehrere Mitspieler aus der Vorsaison haben betont, dass sein Protest keine Ablenkung für das Team war.

Jüngst etwa sagte Ex-Niners-Coach Chip Kelly: "Er hat allen Spielern erklärt, warum er das macht. Manche haben ihm zugestimmt, andere haben ihm nicht zugestimmt. Aber nach diesem Punkt haben wir von außerhalb immer wieder gehört, was für eine Ablenkung das doch sei - und in Wirklichkeit war es das nie. Kaepernick hat daraus nie einen Zirkus gemacht, oder was auch immer die Leute denken."

Angst also vor Unzufriedenheit bei Sponsoren und anderen Partnern, Angst davor, dass Kaepernick eine Ablenkung im Team sein könnte, Ablehnung seiner Protest-Form - und doch gibt es noch einen weiteren, ganz praktischen Grund: Die Frage nach dem Gehalt. Bereits seit März kursieren Gerüchte, wonach sich Kaep ein Gehalt in Höhe von rund neun bis zehn Millionen Dollar vorstellt - deutlich mehr als das normale Backup-Quarterback-Gehalt.

Auch hier allerdings gilt es, die Augen offen zu halten und mit Spannung seinen tatsächlichen Vertrag abzuwarten. Zuletzt nämlich hieß es erneut, dass Kaepernick tatsächlich noch gegenüber keinem Team irgendwelche Gehaltswünsche geäußert hat. NFL-Network-Reporter Michael Silver bestätigte das gerade wieder am Wochenende, und das wirft umso stärker die Frage auf, weshalb so wenige Teams Interesse zeigen.

3. Was bringt Kaepernick auf dem Platz mit?

Seit 2012, als Kaepernick in San Francisco zunächst Alex Smith ersetzte und ihn schließlich permanent verdrängte, haftet Kaepernick der Ruf des Read-Option-Quarterbacks an. Und das zunächst auch gut begründet: Kaepernicks athletische Fähigkeiten als Runner hatten, genau wie in der Rookie-Saison von Robert Griffin III, maßgeblichen Anteil an seinem frühen Erfolg. Auch wenn von Kaepernicks 640 Snaps in jener 2012er Saison "nur" 69 klare Read-Option-Spielzüge waren - die Gefahr, die von Kaepernick als Runner ausging, war bereits die halbe Miete.

Defenses müssen diesen Faktor respektieren und sich dementsprechend aufstellen, was wiederum die Reads im Passspiel für Kaepernick einfacher macht. Inzwischen wird die Read Option schon wieder deutlich seltener eingesetzt, Kaepernick aber ist als Runner nach wie vor eine große Bedrohung. Das gilt umso mehr, da er sich inzwischen wieder auf sein gewohntes Gewicht hoch trainiert hat, nachdem er infolge mehrerer Operationen an Power eingebüßt hatte.

Kaepernicks Tape der vergangenen Saison aber zeigt gerade als Passer Fortschritte, die möglichen Interessenten Mut machen sollten.

Kaepernicks Fortschritte als Quarterback

Diese Entwicklungen betreffen ganz besonders das Pocket-Spiel des 29-Jährigen. Kaepernick bewegt sich deutlich besser in der Pocket und wirft auch gegen Pressure und aus einer zusammenbrechenden Pocket heraus, anstatt, wie früher gerne mal, überhastet loszulaufen. Zudem traut er sich mehr Pässe über die Mitte in enge Fenster, seine Reads wirken hier schneller und entschlossener.

All das kommt in Kombination mit seinen nach wie vor vorhandenen athletischen Fähigkeiten. Kaepernick setzt, so wirkt es, seine Runs effizienter ein, während er bei Rollouts und Play-Action-Spielzügen noch immer brandgefährlich ist. Hiermit kann er helfen, die Offensive Line und den Running Back zu entlasten.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Kaepernick ohne jeden Zweifel ein Starting-Quarterback ist. Er wird sich, wo auch immer, beweisen und um seine Snaps kämpfen müssen. Denn auch wenn er sich als Passer weiterentwickelt hat, ist er noch immer ungenau bei langen Pässen, während 2,1 Prozent seiner Würfe in der Vorsaison als "Interceptable Passes" eingestuft werden - die zweithöchste Quote. Aber Kaepernick hat die notwendigen Ansätze gezeigt, mit denen ein fähiger Trainerstab perspektivisch arbeiten können sollte.

4. Welche Teams kommen in Frage?

Der große Teil der Free Agency ist längst vorbei, die 32 Kader allesamt noch gnadenlos überfüllt. Das lässt im Umkehrschluss eine Vermutung zu: Kaepernicks beste Chance, jetzt noch vor Saisonbeginn bei einem Team unter zu kommen, dürfte eine Verletzung bei einem anderen Quarterback sein. Die Ravens mit den Rückenproblemen von Flacco sind hierfür ein gutes Beispiel, wie schnell es letztlich für Kaep doch gehen könnte.

Gleichzeitig aber braucht es noch weitere Zutaten, abgesehen von einer plötzlichen Quarterback-Baustelle. Das Team müsste gewillt sein, womöglich den einen oder anderen Sponsor oder Fan zu verärgern. Auch deshalb hätten die Seahawks, die grundsätzlich einen sehr progressiven Ansatz mit Spielern, die in der Öffentlichkeit unverblümt ihre Meinung sagen (dürfen), Sinn gemacht.

Darüber hinaus muss es natürlich auch sportlich passen. Offenses wie etwa die der Indianapolis Colts, der New England Patriots oder auch der Arizona Cardinals, die entweder sehr schnelle, oder sehr komplexe (oder beides) Pre- und Post-Snap-Reads vom Quarterback verlangen, passen nicht zu Kaepernick. Offense-Schemes mit einem starken Run Game und vergleichsweise simpleren Reads für den Quarterback oder zumindest dem Willen, sich auf einen solchen Stil stärker einzulassen, machen eher Sinn.

Kaep: Wiedervereinigung mit Greg Roman?

Baltimore würde unter anderem passen, weil Ex-49ers-Offensive-Coordinator Greg Roman inzwischen bei den Ravens arbeitet. Unter Roman, der sich in der 2015er Saison für das starke Bills-Run-Game verantwortlich zeigte, verzeichnete Kaepernick in San Francisco ein Quarterback-Rating von 70. Unter allen anderen Coordinators fiel das auf 52. Roman hat gezeigt, dass er in der Lage und gewillt ist, mit seinem Run Game kreativ zu werden und die Offense stärker auf einen laufenden Quarterback wie Kaepernick oder auch Buffalos Tyrod Taylor auszurichten.

Sollte es aber nach Seattle auch mit Baltimore nicht klappen, wäre die Liste Stand jetzt schon deutlich kleiner. Auch bei den jährlichen Quarterback-Kandidaten: Die Jets beispielsweise - über deren vermeintliche Verpflichtung von Kaepernick am Wochenende eine Fake-Meldung durch Twitter und Facebook geisterte - machen bei genauerem Hinschauen nur bedingt Sinn: New York befindet sich nach zahlreichen Entlassungen am Nullpunkt und will sich neu aufbauen, was zu einem eher spezifischen Quarterback wie Kaepernick nicht passt.

Darüber hinaus hat Gang Green trotz diverser Einsparungen Geld in die Hand genommen, um Josh McCown als Übergangslösung zu verpflichten. Dahinter wartet Christian Hackenberg, der in der kommenden Saison endlich ebenfalls spielen soll. Die Browns haben ihrerseits bereits ein Trio, das um den Startplatz kämpft.

Womöglich eine interessante Option sind die Jacksonville Jaguars. Dort wackelt der Stuhl von Blake Bortles endgültig und die Jags scheinen mehr als gewillt, um Leonard Fournette eine Running-Offense aufzubauen. Der vergleichsweise kleine Markt in Jacksonville käme Kaepernick ebenfalls entgegen und mit Nathaniel Hackett ist ein ehemaliger Quarterbacks-Coach Offensive Coordinator.

5. Fazit und Prognose: Wann unterschreibt Kaepernick einen Vertrag?

Colin Kaepernick ist definitiv einer der besten 64 Quarterbacks und sollte rein sportlich betrachtet schon längst ein neues Team gefunden haben. Seine Fortschritte als Quarterback sind unbestreitbar, physisch präsentierte er sich in der vergangenen Saison wieder klar verbessert und insbesondere als Passer hat er sich weiterentwickelt.

Folglich muss man auf die finanzielle und die politische Seite der Dinge schauen: Wie viel Gehalt will Kaepernick? Ist er bereit, für ein Jahr und Backup-Geld zu unterschreiben? Stimmen gar die Berichte, wonach er bislang noch keinem Team seine Gehaltsvorstellungen mitgeteilt hat, müssten sich mehrere Franchises doch deutlich hinterfragen. Allein die Tatsache, dass bislang kaum Teams ihn auch nur zum Probetraining eingeladen haben, verwundert angesichts von Kaepernicks Qualitäten auf dem Platz doch sehr.

Gleichzeitig sind diese Qualitäten auch der größte Grund für Optimismus. Kaepernick wird im Laufe der kommenden Wochen mutmaßlich noch vor dem Start der Regular Season ein neues Team finden, weil der sportliche Aspekt letztlich überwiegt und je näher die Saison rückt, desto weiter entfernt erscheint sein Protest im Rückspiegel. Das gilt umso mehr, wenn er während der Hymne ab jetzt wieder steht.

Doch bleibt, das lässt sich nicht von der Hand weisen, ein Beigeschmack. Ohne jedes hinter den Kulissen verhandelte Detail zu kennen, war das Maß an Desinteresse, welches Kaepernick vonseiten der Teams entgegengebracht wurde, gelinde gesagt unschön. Und die Tatsache, dass die Ravens das Thema aus nicht-sportlichen Aspekten derart öffentlich machen und sich nicht nur auf dieser Schiene Feedback einholen, sorgt ebenfalls für Stirnrunzeln.

Allerdings gilt auch: Man sollte nicht pauschalisieren und jedes Team, das in den vergangenen Monaten einen Backup-Quarterback zum Sparpreis verpflichtet hat, direkt verurteilen - neben finanziellen Aspekten spielen auch Scheme-Anforderungen eine Rolle.

Und der Business-Aspekt? Ein schwieriges, weil sehr weites Feld. In einem Punkt darf man sich aber wohl sicher sein: Wohin Kaepernick auch geht, sein Trikot sollte sich jedenfalls innerhalb kürzester Zeit zum Verkaufsschlager entwickeln. Und das dann wiederum eher nicht aufgrund seiner sportlichen Fähigkeiten.