Im Zeitalter von Tanking - wenn man es denn so nennen will - wird häufig von Prozessen geredet, die jahrelang dauern. Eines der Teams, das gerade an Siegen weniger Interesse zu haben scheint, als an der besten Aussicht auf eine frühe Wahl im nächsten Draft, sind die Cleveland Browns. Die warten seit 2007 auf eine Saison mit einer positiven Bilanz und haben sich mit der Hoffnung auf die effektivste Kehrtwende der Analytik und Ansammlung von Draft Picks verschrieben.
Wie die abgelaufene Saison der Browns, war auch die der Rams eine, die wenig von Erfolg geprägt war. Frisch nach Kalifornien umgezogen beendete man das erste Jahr in der alten und neuen Heimat mit elf Niederlagen aus den letzten zwölf Spielen. Die Offensive war die unproduktivste der Liga und der langjährige Head Coach Jeff Fisher musste in Week 14 seine Sachen packen.
Wie die Browns haben auch die Rams einen sehr jungen Kader - den zweitjüngsten nach Cleveland um genauer zu sein - und wären deshalb eigentlich prädestiniert dafür gewesen, nach dem Prinzip des Tankings weiteres Talent zu scheffeln und irgendwann in der Saison X bereit für einen Angriff zu sein. Die Rams aber hatten anderes im Sinn.
Los Angeles Rams mit aggressiver Offseason
Durch intelligente Moves in der Free Agency fügte man dem Kader Spieler mit Playoff-Erfahrung hinzu. So kamen für die defensive Seite Outside Linebacker Connor Barwin und Cornerback Kayvon Webster, um die bereits solide Defense zu ergänzen.
Die so schwache Offense wurde mit Left Tackle Andrew Withworth und Center John Sullivan in der Line verstärkt. Der Receiving Corps erhielt durch den Trade für Sammy Watkins, der Verpflichtung von Robert Woods und Drittrundenpick Cooper Kupp ein völlig neues Gesicht.
Auch eine der stärksten Special-Teams-Units der Liga konnten die Rams beisammen halten, doch war die wichtigste Verpflichtung eine andere. Und zwar die des Trainers. Die von Sean McVay.
Sean McVay reißt die Spieler mit und das Ruder herum
Der ehemalige Offensive Coordinator der Washington Redskins kam mit dem Auftrag, der Offense neues Leben einzuhauchen. Früh in der Saison erkannte man bereits eine klare Steigerung zur Vorsaison, doch war die sogenannte Sample Size noch zu gering. Nach der Hälfte der Saison sind die Rams in aller Munde. McVay stellt nach nur wenigen Monaten die vielleicht spektakulärste Offense der Liga aufs Feld. Der Turnaround ist in der Kürze der Zeit schlicht unglaublich.
In gerade einmal der halben Anzahl an Spielen hat man bereits mehr Punkte auf dem Konto als in der gesamten Vorsaison. Die schlechteste Offense (14,0) in der Kategorie Punkte pro Partie ist nun plötzlich die produktivste (32,9). McVay genießt die Aufmerksamkeit und Anerkennung des gesamten Teams. Fragen nach dem größten Unterschied zur Vorsaison beantworten die Spieler mit der durch den Coach geänderten Kultur.
McVay kam mit der klaren Vision nach L.A., was sein Team repräsentieren sollte. Und dabei konnte er das beste integrieren, das die Franchise bereits vor ihm besaß. So übernahm er die Kontrolle, stärkte aber gleichzeitig die Positionen von Defensive Coordinator Wade Philipps und Special Teams Coach John Fassel. Er pusht die Spieler an ihr Limit, weiß aber auch kontinuierlich an sich zu arbeiten. Er kommuniziert seine Botschaft, hört aber auch zu.
Turnaround? Verlässlichkeit, Erwartungen, Energie
Als die Spieler in den Exit-Interviews im Januar nach den Dingen gefragt wurden, die sich verändern müssen, um die Kultur in der Franchise zu ändern, lauteten die meisten Antworten wie folgt: Größere Verlässlichkeit, höhere Erwartungen, mehr Energie.
In McVay haben sie dies schnell gesehen.
Der Trainer wurde nach kurzer Zeit akzeptiert, weil die Art, wie McVay sein Football-Wissen weitergibt, einfach nachvollziehbar ist. Das Vertrauen bei Spielern und Trainern konnte er schnell aufbauen, weil er Schuld auf sich nehmen und es auch zugeben kann, wenn er etwas nicht weiß.
Vor vier Wochen wurde er gefragt, was Quarterback Jared Goff anders machen müsse, um Receiver Watkins besser involvieren zu können. McVay nahm die Bürde sofort auf sich. Er sei der offensive Playcaller, nicht der Quarterback. Stunden vorher saß McVay mit Watkins gemeinsam im Filmraum und ging jedes offensive Play aus der Niederlage von Week 5 gegen die Seattle Seahawks durch.
Rams mit bestem Start seit 2001
Geschäftsführer Kevin Demoff erklärt, dass das Spezielle am jüngsten Head Coach in der Geschichte der Liga nicht sein Alter oder seine Kenntnis über Offenses sei. Es ist seine Fähigkeit zu kommunizieren, eine Kultur aufzubauen und die Leute dazuzubringen, diese wirklich zu leben.
Jüngstes Opfer der Euphorie um das Team des Anwärters auf den Coach-of-the-Year-Titel wurden die Giants bei einem demoralisierendem 17:51, das den Rams eine 6-2-Bilanz besorgte und damit den besten Start seit 2001. Damals erreichten die Rams den Super Bowl.
Was das Playcalling betrifft stellen die Rams eine der flexibelsten Offenses mit enorm hoher Geschwindigkeit. Zwar lobte McVay Goff nach der Partie für "sehr gutes Game-Management" und "exzellente Off-Schedule Plays", das dritte Spiel mit mindestens 40 erzielten Punkten in dieser Saison - in den letzten zehn Jahren gab es bei den Rams hiervon nur zwei - ist aber zum Großteil auf die kreative Offense zurückzuführen. Jeder Weg dazu ist recht:
Todd-Gurley-TD? "Hatte ich von Andy"
McVay sprach kürzlich eines der Plays an, welches ein ausschlaggebender Punkt für die bislang erfolgreiche Saison war. Mit fünf Punkten Rückstand im dritten Viertel in Week 4 in Dallas nahm Goff einen Shotgun-Snap auf. Tavon Austin lief einen Jet Sweep und Goff täuschte den Handoff an. Todd Gurley war auf einer für Running Backs typischen Back Wheel Route unterwegs, stoppte aber nicht sondern lief durch. Goff fand Gurley für einen 53-Yard-Score.
"Den hatte ich von Andy Reid", erklärte McVay. "Opening Night. New England gegen Kansas City."
"K.C. ist das Play am ersten Spieltag gelaufen", erklärte auch Goff. "Wir haben es von ihnen. Unsere Coaches machen das häufig und es macht wirklich Spaß. Wir treffen uns Samstags im Meeting vor dem Spiel und gehen die Plays durch. Es ist schwierig welche zu finden, die uns nicht gefallen oder von denen wir denken, dass sie nicht funktionieren würden."
Jared Goff unter McVay wie ausgewechselt
Goff spielt in seinem zweiten Jahr wie ein komplett ausgewechselter Quarterback. Neben der verstärkten O-Line und der kontinuierlichen Gefahr, die von Todd Gurley, dem Ligaspitzenreiter in erzielten Touchdowns (10) ausgeht, profitiert er enorm von der Vielseitigkeit in McVays Scheme.
"Wir verteilen den Ball an alle", erklärt Goff. "Das macht es mir sehr einfach. Es gibt immer eine gute Option. Wir haben hier so viele talentierte Spieler und für uns ist das dann wie Tiger Woods einmal sagte: 'Siegen heilt alles'."
Goff setzte beim Spiel gegen die Giants mit der besten Partie seiner Karriere ein dickes Ausrufezeichen. Er warf mit nur 14 erfolgreichen Pässen für über 311 Yards und vier Touchdowns. "Mich haben heute viele Dinge erfreut", fasste McVay nach dem Spiel zusammen. "Aber Jared zeigte heute eine Show. Er hat das Team sehr gut geführt und auswärts gegen einen starken Gegner eine hervorragende Balance gefunden."
Schwierige zweite Saisohälfte entscheidet über Playoffeinzug
Das Thema auswärts ist für L.A. ohnehin ein ebenfalls bemerkenswertes. In den letzten Wochen siegten die Rams auswärts in Jacksonville, in London gegen die Cardinals und nun in New York. Reisestrapazen scheinen dem jungen Team keine Probleme zu bereiten. Die Rams stehen nach einem Ausrutscher der Seahawks nun sogar an der Spitze der NFC West und verführen Experten zu Hypothesen, in welchen man in einem Satz mit dem Super Bowl genannt wird.
Von Zurückhaltung hält allerdings auch einer nichts, der sich mit der Postseason besser auskennt, als der Großteil seiner jungen Mannschaftskollegen. "Wir bringen alles mit, was ein Playoff-Team braucht", konstatiert Tackle Whitworth, der selbst sechsmal Teil eines Playoff-Teams in Cincinnati gewesen ist. "Ein gutes Special Team, eine Defense die Turnover forciert und es dem Gegner schwer macht, viele Punkte zu erzielen und eine Offense, die das Feld herunter marschiert."
Jedes Jahr reisen viele ambitionierte Schauspieler in der Hoffnung nach Hollywood, große Schauspieler zu werden. Die Rams führen ihre ganz eigene Transformation in Kalifornien durch. In weniger als einem Jahr sind sie von einer Lachnummer zu einem Playoff-Contender geworden. In weniger als einem Jahr sind sie vom Team, das die wenigsten Punkte erzielt, zu dem Team geworden, das die Liga in Punkten anführt.
Um die Saison zu krönen, muss man noch eine schwierige zweite Saisonhälfte überstehen. Auf dem Programm stehen die Texans, die Eagles, die Saints, die Titans und die Vikings - allesamt Division Leader. Dazu kommen noch Reisen nach Seattle und Arizona. In einer ohnehin verrückten Saison ist ihnen der Lauf allerdings absolut zuzutrauen. Und McVay, der jüngste Head Coach in der Geschichte der Liga, hätte seine ganz eigene Transformation zum Star von Hollywood geschafft.