Im Football geht es durchaus komplex zu. Je tiefer man einsteigt, desto mehr entdeckt man - und die Fragen nach Strategie und Taktik sind nicht immer einfach zu beantworten. Ein maßgeblicher Aspekt dabei ist das Playbook, genau wie das Play-Calling, also das Ansagen der Spielzüge, und das Game-Planning, also das Vorbereiten auf einen bestimmten Gegner. In einer zweiteiligen Mini-Serie blickt SPOX auf genau diese zentralen Aspekte. Nach dem großen Interview in Teil 1 steht in Teil 2 das offensive Play-Calling im Fokus.
Wenn Fans den Football für sich entdecken, ist ihr Ansatz nicht selten recht ähnlich. Auf den ersten Blick beeindrucken die Physis, die Athletik und die Show. Auf den zweiten, dritten und vierten Blick aber kommt das taktische Element dazu. Dieses beginnt eigentlich schon beim Gestalten eines Playbooks, was Fans vor allem aber jede Woche sehen und fasziniert mitverfolgen können, ist das Play-Calling.
40 Sekunden haben die Coaches zwischen zwei Plays Zeit, um den nächsten Spielzug anzusagen. Dabei gilt es, eine enorme Vielfalt an Informationen zu verarbeiten: Welche Tendenzen offenbart der Gegner? Läuft man Gefahr, selbst Tendenzen zu entwickeln? Wo auf dem Feld befindet man sich, welche Stärken und Schwächen gilt es auf beiden Seiten des Balls zu beachten?
Oder anders gesagt: Im ultra-athletischen, von Emotionen hochgekochten, durch die Lautstärke der Fans geprägten Chaos auf dem Football-Feld ist das Play-Calling eine Kunst, welche dem Football seine großartige taktische Komponente verleiht und es zum ultimativen Rasenschach macht.
Um diese zu beleuchten, hat SPOX mit zwei Coaches gesprochen und erklärt darüber hinaus die Ansätze der großen Köpfe des Spiels, die das Play-Calling revolutioniert haben. Denn jede Woche gilt aufs Neue: In 40 Sekunden kann sich alles verändern.
Die große Vorreiterrolle von Paul Brown
In den 50er Jahren war die Football-Landschaft eine komplett andere. Die NFL und die AFL waren noch über zehn Jahre von ihrem Zusammenschluss entfernt, die College-Variante war dem Profi-Football im öffentlichen Standing deutlich überlegen, ehe "The Greatest Game Ever Played" 1958 schließlich einen Wendepunkt markierte. Und die Cleveland Browns waren ein jährlicher Titelkandidat.
Ja, diese Cleveland Browns. Nicht erst mit dem legendären Jim Brown waren sie ein Powerhouse, dafür sorgte vor dem spektakulären Halfback nämlich auch schon Clevelands legendärer Couch Paul Brown.
Ihm nämlich ist es, neben diversen anderen Innovationen die das Spiel bis heute prägen, unter anderem zuzuschreiben, dass Quarterbacks nicht mehr die Play-Calling-Verantwortung tragen. Das war zu Beginn der 50er Jahre noch Standard, der Einfluss der Coaches während eines Spiels somit ungleich geringer.
Brown änderte das. Er wollte mehr Kontrolle, er wollte die Spielzüge ansagen - und fing an, einen Spieler als eine Art Nachrichtenübermittler zu nutzen. Der Spieler kam also an die Seitenlinie, erhielt den Play-Call von Brown und gab ihn dann im Huddle an die Mitspieler weiter. Es dauerte dann nicht mehr lange, ehe Brown Funktechnologien nutzte, um die Spielzüge dem Quarterback so direkt in den Helm übermitteln zu können. Funktechnologien übrigens, die noch eine Weile in den Kinderschuhen steckten: Bei Spielen in New York etwa kam es so einige Male vor, dass der Quarterback plötzlich kurzzeitig andere Funkwellen - beispielsweise den Polizeifunk - im Ohr hatte.
Walshs Selbsterkenntnis und die Simplifizierung
Nichtsdestotrotz war der Fortschritt unaufhaltsam und immer mehr Coaches übernahmen die Play-Calling-Verantwortung. Aktuell sind es in der NFL von 18 offensiv geprägten Head Coaches 13, die die Offense-Plays im Spiel ansagen: Ben McAdoo (Giants), Sean Payton (Saints), Mike McCarthy (Packers), Andy Reid (Chiefs), Jay Gruden (Redskins), Bruce Arians (Cardinals), Doug Pederson (Eagles), Kyle Shanahan (49ers), Dirk Koetter (Buccaneers), Bill O'Brien (Texans), Adam Gase (Dolphins), Hue Jackson (Browns) und Sean McVay (Rams).
"Der Coach, der die Plays ansagt, muss die volle Kontrolle über alle Spielzüge haben", brachte es der legendäre Niners-Coach Bill Walsh, der selbst unter Brown gelernt hat, im Gespräch mit der New York Times 1996 auf den Punkt. Und er müsse stets einen kühlen Kopf bewahren: "Als ich früh in meiner Karriere noch in Cincinnati für das Play-Calling zuständig war, habe ich an der Seitenlinie andauernd mit Running-Backs-Coach Bill Johnson gestritten. Er wollte nur Runs ansagen, wäre es nach mir gegangen, hätten wir die ganze Zeit nur geworfen. Das hat mich gelehrt, dass du schnell Probleme bekommst, wenn du als Coach deine Philosophie unbedingt durchsetzen willst."
Gleichzeitig sprach Walsh von einer zunehmend "kultivierteren" Methode im Umgang mit dem Sport, die dank Brown Einzug erhalten hatte. McVay, unter dem Jared Goff und die Rams-Offense nicht wiederzuerkennen sind, brachte es jüngst bei The Ringer so auf den Punkt: "Es gibt nichts Besseres, als wenn du ein Play ansagst, die Defense dir die gewollte Formation gibt und du deine Spieler in Position bringst, aus der sie Erfolg haben können."
Hierbei hat ein Prozess der Simplifizierung Einzug erhalten - zumindest teilweise. Das Ansagen der Plays wurde effizienter und kürzer, dabei jedoch auch differenzierter. Mario Campos Neves blickt auf eine lange Erfahrung als Head Coach und Offensive Coordinator in der GFL zurück und durfte sich im Trainerstab von Nick Saban in Alabama weiterbilden. "Mein genereller Ansatz ist es, die Dinge so einfach wie möglich zu halten", erklärte er im Gespräch mit SPOX. "Im Idealfall sollten ein bis drei kurze Signale reichen, um ganz klar zu sagen, was du willst. Ich bin kein Fan davon, ewig lange Play-Calls zu verwenden."
West Coast, Coryell und Erhardt-Perkins
Unter Brown war genau das anfangs noch der Fall: In den ersten Schritten bestand das Wording eines Spielzugs noch aus dem kompletten Einzelteilen des jeweiligen Spielzugs - also jede Route, jedes Konzept innerhalb des Plays wurde einzeln angesagt. Ganz so spezifisch sind Play-Calls heute nicht mehr, ein einziges einheitliches System gibt es dabei aber nicht. Vielmehr bestimmen drei übergreifende Schulen das Bild.
In der West Coast Offense bekommen Spielzüge Code-Namen, die alle notwendigen Informationen erhalten. "Brown Left 22 Texas" kann etwa die Formation ("Brown Left"), die meisten Routes (die erste "2"), das Blocking-Scheme (die zweite "2) und eine spezifische Route innerhalb des Plays ("Texas") beinhalten. In der Coryell Offense hat jede Route eine Zahl zugewiesen, die dann im Play-Call durch die Route des Running Backs erweitert wird. "847 H-Shallow" wäre ein typischer Play-Call dafür. Jeder Receiver auf dem Platz weiß dabei, ob er der erste (in dem Fall "8"-Route), zweite ("4") oder dritte ("7") Receiver ist und muss dementsprechend nur auf seine Zahl achten.
Schwieriger wird es in der Erhardt-Perkins Offense, die extrem flexibel ist und die man am prominentesten von den New England Patriots kennt. Zum einen deshalb, weil die Receiver innerhalb eines Plays verschiedene eingebaute Optionen haben. Als Reaktion auf die Defense können sie ihren Laufweg ändern und anpassen, dabei spricht man von sogenannten "Option Routes".
Andererseits aber ist die Komplexität auch ganz konkret im Play-Calling selbst zu finden: Route-Kombinationen erhalten feste Namen und so sind Plays extrem austauschbar und flexibel, erfordern von den Receivern und dem Quarterback allerdings auch ein großes Maß an Lernarbeit. Ein Spielzug könnte so etwa "G Brown RT 80 Hot Delay Utah" heißen. das Armband mit den Spielzügen von Tom Brady im Patriots-Museum bietet eine kleine Kostprobe.
Play-Calling im Detail: "Players over Scheme"
Letztlich geht es beim Play-Calling und dem Entwerfen der Offense aber auch darum, nicht stur in einer Schiene zu verharren. Die Sprache des Playbooks - also die Bezeichnung der Spielzüge - sind der eine Aspekt. Die Umsetzung und die Anpassung der Plays an das eigene Team ein ganz anderer
Der langjährige College- und CFL-Coach Jeff Reinebold brachte das gegenüber SPOX so auf den Punkt: "Man muss verstehen, wer die eigenen Spieler sind und was sie gut können, um sie darauf aufbauend in eine Position zu bringen, in der sie ihre Stärken nutzen können. Wenn dein Running Back gerne und gut nach außen läuft, weil er die nötige Explosivität mitbringt, dann lass ihn nicht konstant zwischen den Tackles nach innen laufen! Gleiches gilt auch andersherum, wenn man einen Power Back hat."
Mario Campos Neves konkretisierte weiter: "Ich bin grundsätzlich der Meinung: Players over Scheme. Wenn meine Spieler also bestimmte Dinge nicht mögen, dann macht es keinen Sinn, wenn ich das durchdrücken will. Natürlich soll man Dinge nicht aufgeben, nur weil sie ein Mal nicht geklappt haben. Aber die generelle Einbindung der Spieler und offensiv eben vor allem des Quarterbacks ist extrem wichtig. Wer offensiv für das Play-Calling verantwortlich ist, muss mit dem Quarterback auf einer Wellenlänge sein. Die Spieler müssen auch verstehen, was du von ihnen willst und ein situatives Verständnis entwickeln."
Beim Play-Calling geht es um einige zentrale Elemente: Es geht darum, die eigenen Spieler in die bestmögliche Position zu bringen. Darum, über den Lauf eines Spiels bestimmte Plays vorzubereiten, etwa indem man aus der gleichen Formation immer wieder ein Play läuft - und plötzlich etwas ganz anderes ansagt. Es geht auch darum, gegnerische Tendenzen auszunutzen und eigene Tendenzen zu verbergen.
Und ultimativ geht es darum, im Rasenschach-Duell nicht nur im einzelnen Spielzug, sondern auch mit Blick auf das große Ganze über den Gegner zu triumphieren. Das schließt auch das Erkennen guter Matchups ein. Hier sei nochmals Kyle Shanahan erwähnt, unter dem die Falcons diese Disziplin in der vergangenen Saison besser beherrschten als irgendein anderes Team. Das Musterbeispiel waren die beiden aufeinanderfolgenden Auswärtsspiele in Denver und in Seattle gegen zwei der besten Defenses der Liga: Gegen die Broncos attackierte Shanahan immer wieder die in Coverage anfälligen Linebacker mit seinen Running Backs, gegen die Seahawks griff er die Zonen-Deckung Seattles gezielt mit seinen Tight Ends an - eine Taktik, die die Falcons noch heute nutzen.