NFL: Ex-Referee Blandino im Interview: "Der Fußball kann von der NFL lernen"

Florian Regelmann
29. November 201811:59
Ex-NFL-Referee Dean Blandino sprach exklusiv mit SPOX - über Fußball, Videobeweis und Stand-Up-Comedy.getty
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Dean Blandino war jahrelang der oberste Referee-Boss in der NFL, ehe er zum Fernsehen wechselte und jetzt als Experte bei FOX arbeitet.

Im SPOX-Interview spricht Blandino über seine bemerkenswerte Karriere, furchteinflößende Momente in New York und die Geschichte des Video Replays in der NFL. Außerdem diskutiert der Juve-Fan mit SPOX über den VAR im Fußball.

SPOX: Dean, bevor wir über Video Replay in der NFL und den VAR im Fußball sprechen, müssen wir uns über Ihre bemerkenswerte Karriere unterhalten. Was haben Sie denn bitte im New York Comedy Club gemacht?

Dean Blandino: (lacht) Ich war Stand-up-Comedian. Es war wirklich so. Als ich bei der NFL als Praktikant anfing, hatte ich nebenher Auftritte und versuchte, Leute zum Lachen zu bringen. Es machte unglaublich Spaß. Und es half mir für meine spätere Karriere tatsächlich sehr, weil ich lernte, in der Öffentlichkeit vor Menschen zu sprechen. Aber ganz ehrlich: Es war auch das Furchteinflößendste, das ich in meinem Leben je gemacht habe. Wenn du das erste Mal vor einer Gruppe Fremder stehst, ein Mikrofon in der Hand hast und Witze reißt, ohne zu wissen, wie die Leute reagieren, schlottern dir die Knie. Aber es war eine tolle Herausforderung, es war cool.

SPOX: Wie sind Sie überhaupt zu Ihrem Praktikum bei der NFL gekommen?

Blandino: Ich hatte mein ganzes Leben lang selbst Football gespielt, in der High School als Tight End, danach folgte ein Abschluss in Kommunikation und dann wollte ich bei der NFL einen Fuß in die Tür bekommen. Bei der NFL war eine Praktikumsstelle im Officiating-Bereich ausgeschrieben. Das interessierte mich eigentlich gar nicht so sehr, aber letztlich war mir die Abteilung egal, Hauptsache, ich war bei der NFL. Wie es sich für einen Praktikanten gehört, musste ich alles Mögliche machen. Das Beste war, dass ich die Chance hatte, mich intensiv mit den Regeln auseinanderzusetzen und sie zu lernen. Damals war ja alles noch analog, ich schaute mir ständig Tapes an, bereitete sie auf und lernte dabei so viel. 20 Jahre später sollte ich in die Rolle als Senior Vice President of Officiating schlüpfen, das hätte ich mir damals natürlich nicht erträumt.

Blandino über die NFL vor dem Video Replay

SPOX: Vielleicht als kurzer Einschub: Zu der Zeit, als Sie Praktikant waren, gab es in der NFL gar kein Video Replay.

Blandino: Richtig. Nach der Einführung 1986 wurde Video Replay 1991 erst einmal wieder abgeschafft, ehe es 1999 das Comeback gab. Daran sieht man sehr gut die Evolution. Dass es im Fußball jetzt in den Anfangsjahren ein paar Kinderkrankheiten gibt, ist für mich deshalb auch völlig normal.

SPOX: Als Video Replay 1999 in der NFL wieder eingeführt wurde, haben Sie schon eine entscheidende Rolle gespielt.

Blandino: Für mich war es das perfekte Betätigungsfeld, weil ich einerseits einen technologischen Background und andererseits das Spiel über den Referee-Aspekt gelernt hatte. Es passte einfach. Also nutzte ich meine Chance und arbeitete zunächst einige Jahre als Replay Official, ehe ich in der Folge in höhere Aufgaben hineingewachsen bin.

SPOX: Dazwischen waren Sie aber einige Jahre nicht mehr bei der NFL.

Blandino: Ja, 2009 verließ ich die NFL und startete in Kalifornien mein eigenes Business mit dem Namen "Under the Hood". Aber auch da ging es wieder um das Thema Video Replay. Wir bildeten Referees dafür aus und boten Trainings an. Außerdem arbeitete ich in der Zeit sehr viel mit den Conferences im College Football zusammen, was meinen Horizont sehr erweiterte.

SPOX: So wurden Sie 2013 der oberste Referee-Chef, obwohl Sie selbst niemals als Offizieller auf einem Feld gestanden haben. War das kein Problem?

Blandino: Am Anfang gab es diese kritischen Töne definitiv. Aber durch meine Arbeit als Replay Official hatte ich mir einen gewissen Respekt verdient. Dazu wusste ich immer, dass ich mich auf diesem Gebiet beweisen muss, also habe ich das Regelwerk der NFL gelernt wie kein anderer. Ich kannte jede Regel aus dem Effeff.

SPOX: Und das Regelbuch der NFL ist komplex.

Blandino: Sehr komplex. Dieses Know-how half mir, aber es ist meiner Meinung auch so, dass die wichtigste Qualifikation für den Job ganz woanders liegt. Du musst vor allem ein guter Kommunikator sein und mit Menschen umgehen können. Mit Menschen, die sauer auf dich sind, weil du ihrer Meinung nach eine völlig falsche Entscheidung getroffen hast. In gewisser Weise half mir da auch meine Zeit als Stand-up-Comedian, weil ich immer versuchte, ein bisschen Humor in die Situation zu bringen. So schaffte ich es das eine oder andere Mal, das Gespräch etwas aufzulockern und wieder auf eine etwas sachlichere Ebene zu bringen.

NFL: Dez Bryant und Co. - "als Referee gewinnst du nie"

SPOX: In Ihrem Job wurden Sie von Fans gehasst, von Coaches und GMs attackiert und von den Medien kritisiert.

Blandino: Wenn ich kurz einhaken darf: Ich werde heute noch auf den Dez Bryant Call aus den Playoffs 2014 angesprochen, an den sich sicher alle erinnern können.

SPOX: Natürlich, vor allem die Cowboys-Fans. Wie sind Sie damit umgegangen, phasenweise als Prügelknabe herhalten zu müssen?

Blandino: Im Allgemeinen muss ich sagen, dass Referees über alle Sportarten hinweg noch nie so im Feuer gestanden sind wie heute. Durch Social Media hat sich viel verändert, jeder ist in der Lage, sofort seine Meinung kundzutun. Und der Anspruch ist immer Perfektion. Das ist aber nicht machbar. Ich habe mich immer darauf konzentriert, die Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen. Aber natürlich ist es nicht einfach. Als Coach oder Spieler gewinnst oder verlierst du, als Referee gewinnst du nie. Dieses Gefühl gibt es nicht. Also kann ich nur versuchen, meine Aufgabe so gut es geht und so fair es geht zu erfüllen. Mir war es auch immer wichtig, dass bei allen meinen Entscheidungen die Gesundheit der Spieler im Vordergrund steht und sie keinen unnötigen Risiken auszusetzen. Aber natürlich passieren Fehler. Einige Male bekam ich unter der Woche plötzlich einen Anruf von einem Offiziellen eines Teams, der die Crew beim letzten Spiel lobte. In solchen Momenten wusste ich dann immer, dass es doch die Mühe wert ist.

SPOX: Sie waren zweimal der Replay Official beim Super Bowl und in Ihrer Zeit als Referee-Chef wahrscheinlich nach Commissioner Roger Goodell die Person der NFL, die am meisten in der Öffentlichkeit stand. War der Stress am Ende der Grund, ins TV-Business zu wechseln?

Blandino: Natürlich weißt du beim Super Bowl, dass jetzt über 100 Millionen Menschen verfolgen, was du hier für eine Entscheidung triffst, aber auch wenn es eine Floskel ist: Ich bin den Super Bowl genauso angegangen wie ein Preseason-Spiel. Ja, der Hype im Vorfeld des Spiels ist gigantisch, aber nach dem Kickoff habe ich es wie jedes andere Spiel betrachtet. Ich würde auch nicht sagen, dass mein Privatleben in der Zeit gelitten hat. Klar wird man mal beschimpft, aber das gehört zum Job dazu. Ich wusste immer, dass der Schritt zum Fernsehen möglich und sehr reizvoll sein würde, es eröffnete sich mir nur schneller eine Möglichkeit, als ich dachte. Aber es stimmt, mein jetziger Job ist sicherlich weniger stressig und ich genieße es auch, dass ich jetzt mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen kann.

SPOX: Wenn wir auf die aktuelle Saison zu sprechen kommen: Wie zufrieden sind Sie mit den Referees?

Blandino: Ich glaube nicht, dass die Leistungen im Vergleich zur letzten Saison besser oder schlechter geworden sind. Zu Beginn der Saison haben wir uns alle Sorgen über die Helmet-Regel gemacht, aber die Refs und Spieler haben sich daran gewöhnt, es ist kein großes Thema mehr.

SPOX: Dafür aber schon immer wieder die Roughing-the-Passer-Strafen, die teilweise einfach nicht zu erklären sind.

Blandino: Das stimmt. Da wurde es den Refs aber auch zu kompliziert gemacht meiner Meinung nach. Wir sehen Strafen, für die du zwar aus technischer Regelbuch-Sicht argumentieren kannst, aber selbst dann musst du dich fragen: Ist es wirklich das, was wir wollen? Eine Zeit lang wurden zu technische Calls gemacht, zum Glück hat sich das Competition Committee zusammengeschlossen und es ist in den vergangenen Wochen besser geworden.

SPOX: Klar ist, dass eigentlich alle Regeln zu Gunsten der Offense verändert wurden. Ich bin aber ein Defense-Liebhaber.

Blandindo: Ich habe auch viel für gute Defense übrig, aber wir müssen ehrlich sein: Der Liga geht es gut, weil die Fans vor allem elektrisierende Offenses sehen wollen. Sie wollen Touchdowns sehen, neue Passing-Yards-Rekorde, das ist der Lauf der Zeit. Aber es ist schon wichtig, die richtige Balance zu finden. Ich hoffe, dass es nicht vor jeder Saison Regeländerungen gibt. Dann müssen sich wieder alle daran gewöhnen. Ich wäre generell dafür, die Regeln so gut es geht zu vereinfachen, das würde auch den Offiziellen helfen.

Blandino über Fußball: "VAR im Fußball funktioniert ganz gut"

SPOX: Kommen wir zum Fußball. Sie haben italienische Vorfahren, wie stark ist denn Ihre Bindung zum Fußball?

Blandino: Meine Mutter war 17 Jahre alt, als sie nach New York gekommen ist. Als ich aufgewachsen bin, lief die Serie A bei uns rauf und runter. Ich bin großer Juve-Fan. Es ist zwar nicht immer einfach, weil es sich oft mit der NFL überschneidet zeitlich, aber ich verfolge die Spiele so oft es geht. Vor allem haben wir jetzt Ronaldo! (lacht) Hoffentlich gewinnen wir in dieser Saison die Champions League, das wäre großartig.

SPOX: Dann haben Sie also auch bestimmt verfolgt, wie der VAR im Fußball bislang aufgenommen wurde.

Blandino: Ja, ich habe es mit großem Interesse verfolgt und auch mit einigen Leuten gesprochen, die von der technischen Seite bei der Entwicklung beteiligt waren. Was man klar sagen muss: American Football ist wahrscheinlich der perfekte Sport für Video Replay, einfach weil es so viele Unterbrechungen gibt. Dagegen willst du ja beim Fußball zu viele Unterbrechungen vermeiden. Das ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung. Es gibt am Anfang immer Probleme, aber ich denke, dass der VAR im Fußball ganz gut funktioniert.

SPOX: Na ja, das würden deutsche Fußball-Fans nicht wirklich unterschreiben. Je nach Bundesliga-Spieltag will ihn die Mehrheit eigentlich eher wieder sofort abschaffen.

Blandino: Das ist interessant zu hören. Der Fußball kann sicher von der NFL lernen. So wie wir uns auch mit der NBA, NHL oder MLB über Best Practices ausgetauscht haben. Was sind die größten Probleme?

SPOX: Fangen wir mit der Transparenz an. Während in der NFL die Stadionbesucher genau wissen, was gerade passiert, hat in der Bundesliga kein Fan einen Schimmer. Zumal es viel zu oft grundlos viel zu lange dauert, bis etwas entschieden ist.

Blandino: Das ist sicher ein großes Problem. Wir hatten eine ähnliche Situation in der NFL, deshalb waren auch irgendwann alle so sauer, dass Video Replay erst mal gestoppt wurde. Dass die Fans im Stadion genau das Bild sehen können, das sich der Ref gerade anschaut, ist elementar wichtig. Genauso die Bekanntgabe übers Mikrofon. Das hat uns enorm geholfen.

SPOX: Außerdem darf der VAR im Fußball laut Definition nur eingreifen, wenn eine glasklare Fehlentscheidung vorliegt. Aber was ist eine glasklare Fehlentscheidung? In der NFL haben Coaches die Möglichkeit der Challenges. Warum soll das im Fußball nicht möglich sein?

Blandino: Ich halte die Challenge im Fußball für möglich. Man müsste sich aber überlegen, wie das genau aussehen soll. Was passiert, wenn eine Challenge verloren geht? In der NFL verlierst du ein Timeout, aber was wäre das Äquivalent im Fußball? Aber es ist meiner Meinung nach definitiv eine Diskussion wert. Zu sehr sollte aber nicht ins Spiel eingegriffen werden, dafür ist der Fußball viel zu abhängig vom Spielfluss, der darf nicht zerstört werden. Gleichzeitig ist Video Replay ein Teil der heutigen Sportkultur geworden und wird auch nicht mehr zu eliminieren sein. Entscheidend ist die Balance. Der Eingriff muss limitiert sein.

Blandino: Videobeweis muss konstant ausgelegt werden

SPOX: In der NFL sind fast alle Fouls ausgenommen und können nicht per Review angesehen werden. Im Fußball müsste das aber vielleicht eine andere Geschichte sein.

Blandino: Das kann sein. In der NFL haben wir damals gesagt, dass wir Replay auf objektiv beurteilbare Situationen beschränken. Zum Beispiel, ob ein Ball den Boden berührt hat oder nicht.

SPOX: Wobei selbst das je nach Kameraeinstellung noch zu verschiedenen Meinungen führen kann.

Blandino: Das wird niemals ganz zu verhindern sein. Aber wir wollten es nicht zu sehr öffnen und das Urteil eines Offiziellen durch das Urteil eines anderen ersetzen, so wird es nicht besser und gerechter. Im Fußball muss aber aus meiner Sicht schon die Möglichkeit gegeben sein, dass ein Foul, das keines war, es vielleicht nicht mal einen Kontakt gab, überprüft wird. Aber wenn es um die Schwere eines Fouls geht, sind wir wieder bei der Frage unterschiedlicher Auslegungen.

SPOX: Auch die Verantwortlichkeit ist ein großes Thema. Der Fußball beharrt stur darauf, dass der Referee auf dem Feld das letzte Wort hat. Warum ist das in der NFL inzwischen anders?

Blandino: Anfangs war es auch unsere Überzeugung, die Entscheidungsgewalt im Stadion zu lassen. Aber wir haben 17 verschiedene Referee-Crews, im Fußball haben wir an einem Spieltag in der Bundesliga neun verschiedene Crews in neun verschiedenen Stadien, wie soll da konstant gleich entschieden werden? Das Wichtigste ist, dass die gleiche Situation in zwei Stadien nicht unterschiedlich ausgelegt wird. Diese Konstanz erreichst du aber nur, wenn es an einem zentralen Ort wie jetzt in der NFL in NY eine kleine Gruppe an Leuten gibt, die letztlich das Sagen hat. Es können zwar immer noch Fehler passieren, aber wenigstens sind wir dann konsistent in unseren Entscheidungen.