Hinweis: Dieser Text erschien in einer älteren Form erstmals am 31. Januar 2019 und wurde seitdem mehrfach - aufgrund aktueller Anlässe - überarbeitet.
Der Münzwurf hat im Sport eine lange Tradition, in vielen Regelwerken findet er bis heute Platz. Gleichzeitig ist er als Entscheidungsträger aber auch soweit wie möglich nach hinten gewandert, etwa bei Gleichstand nach der Gruppenphase eines Wettbewerbs. Direkter Vergleich, Torverhältnis, erzielte Tore, Weltranglistenposition, Fairplay-Wertung, etc. - und irgendwann, wenn alles nichts hilft, kommt der Münzwurf.
Warum? Weil ein Münzwurf per Definition reines Glück ist und dieser Glücksfaktor so wenig Einfluss wie möglich haben soll.
Natürlich wird immer noch einiges per Münzwurf entschieden. Wer hat zuerst Anspiel oder Anstoß? Wer beginnt das Elfmeterschießen? Dabei gilt aber immer: Ein Spieler beziehungsweise Team darf zuerst, aber das andere danach.
Lediglich bis zur NFL hat sich dieses Prinzip noch nicht herumgesprochen. Dort wird der Ballbesitz in der ersten und zweiten Hälfte per Münzwurf entschieden, in der Overtime kommt jedoch folgendes Konzept zum Einsatz: Erzielt das Team mit Ball im ersten Drive einen Touchdown, ist das Spiel vorbei und die Offense des Gegners bekommt keine Chance mehr, den Rückstand wettzumachen. Bis vor einigen Jahren war das Spiel sogar bei einem Field Goal im ersten Drive beendet.
Entschieden wird über diesen wichtigen, am Sonntag im Kracher zwischen den Bills und den Chiefs entscheidenden, ersten Ballbesitz per Münzwurf.
NFL-Overtime-Regel hat prominente Opfer gefordert
Diese Regel hat, gerade in jüngster Vergangenheit, zu mehr als unbefriedigenden Spielausgängen geführt. Sie hat epische Duelle geradezu ad absurdum geführt. Super Bowl LI vor vier Jahren ist das beste Beispiel, als die Patriots in der Overtime einen Touchdown erzielten, während MVP Matt Ryan von den Falcons hilflos zuschauen musste. Oder auch vor zwei Jahren, als damals die Chiefs um Shooting-Star Pat Mahomes das gleiche Schicksal ereilte. Es gibt genügend weitere Beispiele mit prominenten Opfern.
Bereits vor vier Jahren habe ich die Overtime-Regel der NFL scharf kritisiert, und ich war - und bin - nicht der Einzige. Sie hat erneut prominente Opfer gefordert und einen sportlichen Vergleich sabotiert. Gleichzeitig hat sie, für mich absolut unbegreiflich, immer noch viele Fürsprecher unter Fans und Medienvertretern.
Also auf ein Neues. Die Overtime-Regel in der NFL ist nicht nur unfair, sie widerspricht gleichzeitig dem Sportsgeist und dem Entertainment-Faktor. Und ihr Einfluss wird immer größer.
Ganz einfach: Sie muss weg.
NFL: Warum die Overtime-Regel unfair ist
Wie schon im Februar 2017 erklärt, liegt das Problem auf der Hand. Football besteht zu gleichen Teilen aus Offense und Defense (und natürlich den Special Teams). Offense und Defense haben ihren Teil dazu beigetragen, dass es nach 60 Minuten Unentschieden steht - ob nun im positiven, oder im negativen Sinne. Sie sollten auch in der Overtime eine Rolle spielen, und zwar beide.
Man kann es auch anders ausdrücken: Das Fundament dieser und ähnlicher Ballsportarten - quasi ein "Grundprinzip" - ist, dass man eine schlechte Offense durch eine gute Defense wettmachen kann, oder natürlich auch umgekehrt. Erst im Zusammenspiel dieser beiden Hälften ergibt sich eine Gesamtleistung, und diese Gesamtleistung entscheidet über Sieg oder Niederlage.
Der Grundgedanke einer Overtime ist doch dieser: "Beide Teams waren über die reguläre Spielzeit gleich gut, bzw. haben die gleiche Anzahl an Punkten erzielt. Also fangen wir wieder bei Null an und machen weiter - mit den gleichen Chancen für alle. Damit es am Ende einen würdigen, gerechten Sieger gibt."
Die aktuelle Overtime-Regel setzt dieses Grundprinzip außer Kraft.
Sie widerspricht außerdem dem Unterhaltungsgedanken, dem die Liga auch verpflichtet ist. Man erinnere sich an das letzte Viertel des AFC Championships Games vor zwei Jahren: "Wow, Touchdown Chiefs! Kann Tom Brady noch einmal kontern? Er kann, unfassbar! Jetzt ist wieder Mahomes gefragt! Hält er dem Druck Stand?"
Die Overtime-Regel hat diese Frage offen gelassen.
Offense ist Trumpf - die Overtime-Regel wird immer unfairer
Der NFL ist das Problem der Regel natürlich nicht unbekannt. Seit 2012 gilt in jedem Spiel, dass ein Field Goal nicht mehr zum Sieg reicht, es braucht einen Touchdown im ersten Drive. Aber sie hat das Prinzip der Regel und deren Einseitigkeit nicht verändert: "Punkte auf eine gewisse Art und Weise und das Spiel ist sofort vorbei."
Man stelle sich vor, im Elfmeterschießen würde bei Gleichstand nach je fünf Schüssen der nächste Treffer entscheiden. Oder im Tennis im Tiebreak der erste Punkt, wobei ein Münzwurf über das Aufschlagrecht entscheidet. Oder - für Fans des US-Sport - im Baseball gäbe es Walk-Off-Runs in der oberen Hälfte des zehnten Innings. Niemand, absolut niemand wäre mit einer solchen Regelung einverstanden.
Dazu kommt, dass die unfaire OT-Regel aufgrund der Entwicklung des Spiels immer öfter greift. Warum, hat mein Kollege Adrian Franke eindrucksvoll erklärt: Es wird immer mehr und besser gescort, der Sport verschiebt sich immer mehr in Richtung Offense - was den Vorteil, in der Overtime zuerst mit der Offense aufs Feld zu dürfen, immer größer macht.
Dieser Eindruck wird durch die Zahlen der letzten Jahre unterstützt: Seit der neuen OT-Regel hat das Team mit dem ersten Ballbesitz in den Playoffs sieben von acht Spielen gewonnen (Stand 2019). Noch viel wichtiger: Fünf Mal kam der gegnerische Quarterback nicht an den Ball.
Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.