NFL: Eine Abrechnung mit der aktuellen Overtime-Regel

Stefan Petri
24. Januar 202218:00
Josh Allen schied mit den Buffalo Bills in der Overtime aus.getty
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In einem wahnsinnigen Spiel setzten sich die Kansas City Chiefs in der Divisional Round der Playoffs gegen die Buffalo Bills durch. Dass das spektakuläre Aufeinandertreffen am Ende in der Overtime entschieden wurde, ohne dass der bis dahin herausragende Josh Allen nochmal in Ballbesitz kam, hinterließ bei vielen NFL-Fans jedoch einen faden Beigeschmack. Es war nicht das erste Mal, denn die OT-Regel ist unfair, unsportlich und der NFL nicht würdig. Warum sämtliche Argumente für die Regel an den Haaren herbeigezogen sind - und wie eine faire Verlängerung aussehen könnte: Eine Abrechnung von SPOX-Redakteur Stefan Petri.

Hinweis: Dieser Text erschien in einer älteren Form erstmals am 31. Januar 2019 und wurde seitdem mehrfach - aufgrund aktueller Anlässe - überarbeitet.

Der Münzwurf hat im Sport eine lange Tradition, in vielen Regelwerken findet er bis heute Platz. Gleichzeitig ist er als Entscheidungsträger aber auch soweit wie möglich nach hinten gewandert, etwa bei Gleichstand nach der Gruppenphase eines Wettbewerbs. Direkter Vergleich, Torverhältnis, erzielte Tore, Weltranglistenposition, Fairplay-Wertung, etc. - und irgendwann, wenn alles nichts hilft, kommt der Münzwurf.

Warum? Weil ein Münzwurf per Definition reines Glück ist und dieser Glücksfaktor so wenig Einfluss wie möglich haben soll.

Natürlich wird immer noch einiges per Münzwurf entschieden. Wer hat zuerst Anspiel oder Anstoß? Wer beginnt das Elfmeterschießen? Dabei gilt aber immer: Ein Spieler beziehungsweise Team darf zuerst, aber das andere danach.

Lediglich bis zur NFL hat sich dieses Prinzip noch nicht herumgesprochen. Dort wird der Ballbesitz in der ersten und zweiten Hälfte per Münzwurf entschieden, in der Overtime kommt jedoch folgendes Konzept zum Einsatz: Erzielt das Team mit Ball im ersten Drive einen Touchdown, ist das Spiel vorbei und die Offense des Gegners bekommt keine Chance mehr, den Rückstand wettzumachen. Bis vor einigen Jahren war das Spiel sogar bei einem Field Goal im ersten Drive beendet.

Entschieden wird über diesen wichtigen, am Sonntag im Kracher zwischen den Bills und den Chiefs entscheidenden, ersten Ballbesitz per Münzwurf.

NFL-Overtime-Regel hat prominente Opfer gefordert

Diese Regel hat, gerade in jüngster Vergangenheit, zu mehr als unbefriedigenden Spielausgängen geführt. Sie hat epische Duelle geradezu ad absurdum geführt. Super Bowl LI vor vier Jahren ist das beste Beispiel, als die Patriots in der Overtime einen Touchdown erzielten, während MVP Matt Ryan von den Falcons hilflos zuschauen musste. Oder auch vor zwei Jahren, als damals die Chiefs um Shooting-Star Pat Mahomes das gleiche Schicksal ereilte. Es gibt genügend weitere Beispiele mit prominenten Opfern.

Bereits vor vier Jahren habe ich die Overtime-Regel der NFL scharf kritisiert, und ich war - und bin - nicht der Einzige. Sie hat erneut prominente Opfer gefordert und einen sportlichen Vergleich sabotiert. Gleichzeitig hat sie, für mich absolut unbegreiflich, immer noch viele Fürsprecher unter Fans und Medienvertretern.

Also auf ein Neues. Die Overtime-Regel in der NFL ist nicht nur unfair, sie widerspricht gleichzeitig dem Sportsgeist und dem Entertainment-Faktor. Und ihr Einfluss wird immer größer.

Ganz einfach: Sie muss weg.

NFL: Warum die Overtime-Regel unfair ist

Wie schon im Februar 2017 erklärt, liegt das Problem auf der Hand. Football besteht zu gleichen Teilen aus Offense und Defense (und natürlich den Special Teams). Offense und Defense haben ihren Teil dazu beigetragen, dass es nach 60 Minuten Unentschieden steht - ob nun im positiven, oder im negativen Sinne. Sie sollten auch in der Overtime eine Rolle spielen, und zwar beide.

Man kann es auch anders ausdrücken: Das Fundament dieser und ähnlicher Ballsportarten - quasi ein "Grundprinzip" - ist, dass man eine schlechte Offense durch eine gute Defense wettmachen kann, oder natürlich auch umgekehrt. Erst im Zusammenspiel dieser beiden Hälften ergibt sich eine Gesamtleistung, und diese Gesamtleistung entscheidet über Sieg oder Niederlage.

Der Grundgedanke einer Overtime ist doch dieser: "Beide Teams waren über die reguläre Spielzeit gleich gut, bzw. haben die gleiche Anzahl an Punkten erzielt. Also fangen wir wieder bei Null an und machen weiter - mit den gleichen Chancen für alle. Damit es am Ende einen würdigen, gerechten Sieger gibt."

Die aktuelle Overtime-Regel setzt dieses Grundprinzip außer Kraft.

Sie widerspricht außerdem dem Unterhaltungsgedanken, dem die Liga auch verpflichtet ist. Man erinnere sich an das letzte Viertel des AFC Championships Games vor zwei Jahren: "Wow, Touchdown Chiefs! Kann Tom Brady noch einmal kontern? Er kann, unfassbar! Jetzt ist wieder Mahomes gefragt! Hält er dem Druck Stand?"

Die Overtime-Regel hat diese Frage offen gelassen.

Offense ist Trumpf - die Overtime-Regel wird immer unfairer

Der NFL ist das Problem der Regel natürlich nicht unbekannt. Seit 2012 gilt in jedem Spiel, dass ein Field Goal nicht mehr zum Sieg reicht, es braucht einen Touchdown im ersten Drive. Aber sie hat das Prinzip der Regel und deren Einseitigkeit nicht verändert: "Punkte auf eine gewisse Art und Weise und das Spiel ist sofort vorbei."

Man stelle sich vor, im Elfmeterschießen würde bei Gleichstand nach je fünf Schüssen der nächste Treffer entscheiden. Oder im Tennis im Tiebreak der erste Punkt, wobei ein Münzwurf über das Aufschlagrecht entscheidet. Oder - für Fans des US-Sport - im Baseball gäbe es Walk-Off-Runs in der oberen Hälfte des zehnten Innings. Niemand, absolut niemand wäre mit einer solchen Regelung einverstanden.

Dazu kommt, dass die unfaire OT-Regel aufgrund der Entwicklung des Spiels immer öfter greift. Warum, hat mein Kollege Adrian Franke eindrucksvoll erklärt: Es wird immer mehr und besser gescort, der Sport verschiebt sich immer mehr in Richtung Offense - was den Vorteil, in der Overtime zuerst mit der Offense aufs Feld zu dürfen, immer größer macht.

Dieser Eindruck wird durch die Zahlen der letzten Jahre unterstützt: Seit der neuen OT-Regel hat das Team mit dem ersten Ballbesitz in den Playoffs sieben von acht Spielen gewonnen (Stand 2019). Noch viel wichtiger: Fünf Mal kam der gegnerische Quarterback nicht an den Ball.

Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.

Trotzdem werden weiterhin Argumente für die aktuelle Regel ins Feld geführt. Das Problem: Keine einzige davon hält Stand, wenn man sie genauer analysiert.

"Defense gehört zum Football dazu. Soll das Team ohne Ball eben Defense spielen und sich den Ball holen."

Antwort: Ganz genau. Wie schon oben erwähnt, gehört die Defense dazu. Aber eben bei beiden Teams. Niemand will, dass es ein Team gewinnt, wenn es in der Defense niemanden stoppt und in OT nur Touchdowns zulässt. Nur soll sich auch die zweite Defense dieser Herausforderung stellen. "Hätten sie doch Defense gespielt." Ja, das haben sie auch. Nämlich über 60 Minuten genauso gut wie der Gegner.

Wenn man dann noch bedenkt, dass Offenses immer dominanter werden und Defenses zum Ende eines Spiels generell platter und deshalb im Nachteil sind, funktioniert dieses Argument nicht.

"Man hätte ja in der regulären Spielzeit den letzten Drive des Gegners verhindern/das entscheiden Field Goal schießen/die Interception nicht werfen/dies und das tun können. Also selbst schuld."

Antwort: Hat man doch! Man hat - in der Kombination aus Offense und Defense! - genauso viel wie nötig getan, damit es am Ende unentschieden stand. Welche Fehler auch immer ein Team in oder zum Ende der regulären Spielzeit gemacht hat: Dafür wurden sie schon bestraft - nämlich damit, dass sie in die Overtime müssen!

Fehler in der regulären Spielzeit als legitimen Grund für eine Benachteiligung in der Overtime heranzuführen, ergibt dagegen keinen Sinn.

Das Argument "Sie hätten besser spielen können!" ist, wenn man es logisch bis zum Ende durchdekliniert, ein Totschlagargument. Man hätte IMMER besser spielen können. Deshalb darf es niemals als Rechtfertigung für Benachteiligung genutzt werden.

Außerdem: Das weiß ja auch jeder. Es ist die Aufgabe von Trainern, Spielern und Verantwortlichen, besser zu spielen. Niemand legt sich in der Offseason auf die faule Haut, weil man ja gewonnen hätte oder zumindest hätte gewinnen können.

Aber ist auch die Aufgabe der Referees und des Regelwerks, dafür zu sorgen, dass man dafür belohnt wird, wenn man besser war als der Gegner. Oder zumindest nicht bestraft wird, wenn man genauso gut war.

Das ist nämlich das entscheidende Kriterium im Leistungssport. Es geht nicht darum, dass man hätte besser spielen können. Man muss "nur" besser sein als der Gegner. Ein "Sie hätten ja besser sein können" als Begründung führt den Wettbewerb ad absurdum. Man soll so gut sein wie möglich, natürlich. Aber zunächst einmal muss man besser sein als der oder die Gegner an diesem Tag.

Und wenn man nach 60 Minuten genauso gut war wie der Gegner, sollte man in der Overtime auch die gleiche Siegchance erhalten.

"In der Overtime gewinnt das Team mit dem ersten Ballbesitz nur knapp über 50 Prozent der Spiele. Die Regel ist also fair."

Antwort: Laut dem NFL-Experten Ross Tucker waren es 52,7 Prozent (Stand Januar 2019), um genau zu sein. Also alles paletti? Schließlich haben die Rams 2017 ja gegen die Saints den Coin Toss verloren und das Spiel trotzdem gewonnen.

Nein, auch dieses Argument zieht nicht. Allein die oben genannte Statistik sollte zu denken geben: 7-1 für das Team mit Ball, fünfmal kam der zweite Quarterback nicht zum Zug - die Statistik in den Playoffs ist also eine ganz andere. Zudem wissen wir, dass das Spiel immer offensiv-lastiger wird und damit für das Team ohne Ball unfairer. Sollte man jetzt warten, bis die Quote bei 60/40 liegt? 70/30?

Entscheidend bei diesem Argument ist jedoch Folgendes: Die Statistiken spielen letzten Endes keine Rolle. Denn: Selbst ein Ergebnis von genau 50/50 wäre kein Beweis für Fairness. Das ist ein fataler Denkfehler. Ein ausgeglichenes Ergebnis ist kein Beweis für gleiche Chancen. Man muss kein Statistik-Experte sein, um das zu verstehen.

Die Regel ist dazu da, um im Einzelfall für gleiche Chancen zu sorgen - völlig unabhängig von historischen Bilanzen. Es geht um den Einzelfall, und für die Bills war es im Spiel gegen die Chiefs ein brutaler Nachteil - als KC den Münzwurf gewann, brach das ganze Stadion in Jubel aus! Hier zu entgegnen, "dass Team X vor Y Jahren den Münzwurf verloren und am Ende trotzdem gewonnen hat", macht die Situation für Josh Allen und Co. nicht fairer.

Das Argument muss vielmehr umgekehrt aufgebaut werden: Zuerst sorgt man für gleiche Chancen, so gut wie es auf dem Papier eben möglich ist. Danach schaut man sich die Statistiken an. Und für gleiche Chancen hat die NFL nicht gesorgt.

Statistiken können natürlich ein HINweis darauf sein, dass eine Regel fair oder unfair ist. Ich habe ja selbst auch schon Statistiken zitiert. Aber sie sind kein BEweis. NFL-Spiele sind unberechenbar, es kann selbst bei Chancengleichheit hunderte Gründe geben, warum am Ende kein 50/50 herauskommt.

Und es wird wieder passieren. Eine ausgeglichene Statistik ist schön und gut. Aber es garantiert kein "Level Playing Field". Und das muss das Ziel sein.

"Brady-Hater! Hätte Mahomes 2019 gewonnen, oder die Falcons im Super Bowl LI, würde sich niemand beschweren."

Antwort: Natürlich würde sich jemand beschweren - nämlich die Pats-Fans, und das mit Recht. Oder am 23. Januar 2021 die Bills-Fans. Die Tatsache, dass die Patriots in der Brady-Ära in Playoff-OT dreimal den Münzwurf gewonnen und danach direkt einen Touchdown erzielt haben, macht sie zur ultimativen Kombination aus "lucky and good". Hätten sie den Münzwurf und die Overtime dreimal verloren, wäre die Regel genauso ungerecht.

Man stelle sich vor, Brady spielt noch ein paar Jahre und erreicht mit den Buccaneers noch dreimal den Super Bowl. Dreimal bringt er sein Team mit einer übermenschlichen Leistung im Schlussviertel zurück, erreicht wie durch ein Wunder die Overtime - und kommt dann dreimal nicht an den Ball. Der GOAT, ausgebremst von einer Regel. Wollen wir das wirklich?

"Man kann eben nicht ewig weiterspielen, denkt nur an die Verletzungen. Außerdem haben alle anderen Regeln ja auch Nachteile."

Antwort: Richtig, die vergleichsweise hohe Verletzungsrate in der NFL unterscheidet sie von anderen Ligen, das darf man in der OT nicht außer Acht lassen. Aber übertrumpft sie wirklich die Tatsache, dass derzeit eine klar unfaire Regel den Ausschlag geben kann - und es auch oft tut?

Es werden 17 Spiele in der Regular Season gespielt, dazu bis zu vier Playoff-Spiele, nicht zu vergessen die drei Preseason-Spiele. Alles, um einen würdigen Champion zu ermitteln. Aber die Overtime auf ein komplettes Viertel auszudehnen, um eine klar unfaire Regel zu entkräften, ist plötzlich undenkbar? Das ergibt keinen Sinn. Nach einem Field Goal im ersten OT-Drive kann man weiterspielen, aber nach einem Touchdown nicht? Wo ist da die Logik?

Die NFL-Profis waren klar gegen ein zusätzliches Saisonspiel - absolut verständlich. Ich wage zu behaupten, dass es gegen potenziell ein paar Minuten mehr in den Playoffs keine Proteste gebe, wenn es darum geht, auf faire Art und Weise den richtigen Champ zu ermitteln. Das Argument greift einfach nicht.

NFL: Welche Overtime-Regel wäre die Beste?

Ich bin übrigens auch kein knallharter Verfechter des "Lasst uns noch ein komplettes Viertel spielen." Wobei es eine bessere Regel wäre, ganz klar. Das Argument, dass das zweite Team ja dann weiß, ob und wie der Gegner gepunktet hat und deshalb den vierten Versuch ausspielen kann, wird hier gern ins Feld geführt. Aber das ist auch jetzt schon der Fall, wenn zunächst nur ein Field Goal erzielt wird. Damit können die Befürworter der jetzigen Regel leben - aber wenn nach Touchdown ebenfalls weitergespielt wird, plötzlich nicht mehr?

Und es gäbe eine Vielzahl an Varianten, um diesen Vorteil zu entschärfen: Beim vierten Versuch muss gepuntet werden. Oder er muss ausgespielt werden. Oder das zweite Team muss die 2-Point-Conversion ausspielen, wenn dem ersten Team ein Touchdown gelungen ist. Oder, oder oder ...

Wer jetzt direkt entgegnet, dass die genannte Variante Nachteil X hat, dem erwidere ich: Gut! Lasst uns diskutieren, lasst uns Varianten wälzen! Aber zuerst sollten wir uns darauf einigen, dass die aktuelle Regel so schnell wie möglich geändert werden muss. Nicht, weil sie mir oder Adrian oder wem auch immer nicht gefällt. Sondern weil sie unfair und damit unsportlich ist.

Ich hänge nicht am kompletten Viertel, es gibt so viele Möglichkeiten:

  • (Eine Variante der) College-Regel
  • Abwechselnde 2-Minute-Drives von einem festgelegten Startpunkt
  • Abwechselnde 2-Point-Conversions (auch als möglicher Tiebreaker nach 2-Minute-Drives)
  • Das Heim-Team darf entscheiden, ob es den Ball will
  • Kreative Varianten, in denen der Coin Toss durch einen Wettbewerb ersetzt wird
  • Kreative Varianten, um den Ball zu bekommen. Zum Beispiel: Beide Coaches "bieten" geheim um den Ball - wer näher an der eigenen Endzone beginnt, bekommt Ballbesitz

Ich weiß, es ist ungewohnt, manches ist sinnvoller und manches nicht, und wir sind sowieso Gewohnheitstiere. Es gibt sicherlich keine Regel, die alle auf Anhieb überzeugt.

Vielleicht gibt es überhaupt keine perfekte Regel. Aber das darf kein Argument gegen eine Regeländerung sein - es gibt nämlich definitiv bessere, weil fairere Varianten.