Aufgrund begrenzter Mittel gaben sich die Seattle Seahawks äußerst aggressiv auf dem Weg zum Draft. Mit verbessertem Personal steht nun die eigene Philosophie auf dem Prüfstand: Setzt man vollends auf Quarterback Russell Wilson oder hält man ihn weiter künstlich zurück?
Die Seattle Seahawks haben im Vorjahr nach einer insgesamt eher schwachen Saison am Ende doch die Playoffs erreicht. Andernfalls wäre es für Pete Carroll und sein Team die zweite Saison ohne Postseason in Serie gewesen. Und das nach insgesamt fünf Playoff-Teilnahmen in Folge unter Carroll.
Stattdessen wurde es der siebte Postseason-Einzug in neun Jahren unter dem exzentrischen Head Coach, für den die Niederlage im ersten Playoff-Spiel aber ein Debüt war.
Die Zeichen der Zeit waren in jedem Fall deutlich: In Washington ging eine Ära zu Ende. Die Legion of Boom verlor über die Offseason mit Earl Thomas auch noch das letzte Überbleibsel und auch sonst war nicht mehr viel vom einstigen Erfolgsgerüst übrig. Vor wenigen Tagen verabschiedete sich etwa noch Wide Receiver Doug Baldwin, der einer der Eckpfeiler dieser Offense war.
Die Seahawks, die vor dem Draft ganze vier Picks hatten, sahen aus wie eine Organisation, deren natürlicher Erfolgszyklus ein Ende gefunden hatte. Die Salary-Cap-Situation sah zudem nicht allzu rosig aus, was teure Free Agents ebenso ausschloss wie die limitierten Draftpicks.
Seahawks halten Russell Wilson mit Monstervertrag
Dann jedoch gingen Carroll und General Manager John Schneider an die Arbeit. Zunächst mal wurde der GAU verhindert. Bis zur selbst gewählten Deadline am 15. April, also zwei Wochen vor dem Draft, wurde zunächst mal sichergestellt, dass Franchise-Quarterback Russell Wilson bleibt. Mit einem neuen Monstervertrag ist er damit bis ins nächste Jahrzehnt ans Team gebunden und eine Sorge weniger.
Von solchen nämlich haben die Seahawks genug gehabt. Immer noch stellen sie eine äußerst überschaubare Offensive Line, die im Vorjahr den Spitzenverdiener dieser Franchise nur bedingt "beschützt" hatte. 51 Sacks (Adjusted Sacke Rate: 10,4/Platz 30 in der Liga) kassierte Wilson. Trotz seiner Mobilität, trotz der wenigsten Passversuche aller Teams in der NFL (427).
Und dennoch ließ es sich Wilson nicht nehmen, jedem seiner Offensive Lineman als Dank für ihre Mühen mit Aktienpaketen von Amazon im Wert von 12.000 Dollar auszustatten.
Aber auch in diesem Wissen tat man herzlich wenig, um diesen Missstand auszubessern. Einzig Guard Mike Iupati kam als Free Agent aus Arizona. Der Rest der Beschützer blieb zusammen.
Der Fokus der Offseason lag ohnehin eher auf der Defense. Eine Defense, die sich seit der letzten Super-Bowl-Teilnahme nach der Saison 2014 - das Ende davon scheint psychologisch immer noch nachzuwirken, doch dazu später mehr! - stetig verschlechtert hat. Stellte man damals noch mit einem DVOA von -16,8 Prozent die beste Defense der Liga, belegte man 2018 mit einem Wert von -0,1 Prozent lediglich Platz 14 der NFL.
Seattle Seahawks: Defense-DVOA seit 2014
Jahr | Defense DVOA (Prozent) | Liga-Rang |
2014 | -16,8 | 1 |
2015 | -15,2 | 4 |
2016 | -10,6 | 5 |
2017 | -3,8 | 13 |
2018 | -0,1 | 14 |
Bevor Seattle jedoch die bestehenden Defizite anging, riss es erst noch ein beträchtliches Loch in die bestehende Truppe: Frank Clark wurde für drei hohe Draftpicks nach Kansas City transferiert. Ein Schocker, aber keinesfalls überraschend, wenn man bedenkt, dass die Seahawks auch nach dem Deal nur knapp 10 Millionen Dollar an Cap Space auf der hohen Kante haben. Und Clark war mit dem Franchise Tag belegt, der ihm rund 17 Millionen Dollar in der kommenden Spielzeit eingebracht hätte.
Richtig zur Sache ging es dann am Drafttag. Schneider und Carroll ließen die Drähte glühen und machten einen Deal nach dem anderen. Am Ende der Veranstaltung waren sie in acht Trades vor und während des Drafts involviert. Aus ihren ursprünglich vier Picks wurden elf.
Und das Ergebnis? Nachdem sie in der ersten Runde mit L.J. Collier ein Edge-Rush-Projekt geholt hatten, das in seinen Anlagen und seiner Vielseitigkeit an die College-Version von Trey Flowers erinnert, war in Runde 2 dann ein Safety dran. Marquise Blair könnte in gewisser Weise der neue Earl Thomas werden, wenn auch nicht mit ganz so viel Punch. Dennoch ist auch er ein beweglicher Center Fielder mit viel Range. Mit Ugo Amadi und Ben Burr-Kirven kamen zudem weitere Defensiv-Leute.
Das war die Defensivseite des Drafts. Via Free Agency stieß schließlich auch noch Edge-Rusher Ezekiel Ansah dazu. Etwas überraschend und vielleicht auch paradox mutete dann wiederum an, was Schneider in Sachen Offense veranstaltet hat. Vorweg: All die Picks machen im großen Ganzen Sinn und könnten sich als gute Griffe herausstellen.
Seattle Seahawks: Düstere Erinnerungen an Super Bowl XLIX
Doch reden wir hier über die Seahawks. Das Team, das wie kaum ein anderes die Uhr zurückgedreht hat im Jahr 2018. Und da kommen wir wieder auf Super Bowl XLIX zu sprechen. Damals griff Carroll - und der damalige Offensive Coordinator Darrell Bevell - ordentlich daneben mit dem Call zum Pass, anstatt den Ball in die zuverlässigen Hände von "Beast Mode" Marshawn Lynch zu legen. Wilson warf Richtung Ricardo Lockette, doch der damals unbekannte Rookie-Cornerback Malcolm Butler war schneller da und brach den Seahawks kollektiv das Genick mit seinem Pick auf der Goal Line.
Die Folge waren Zweifel an allem innerhalb wie außerhalb der Mannschaft. Wie konnte Wilson nur diesen Pick werfen? Oder: Wieso durfte Beast Mode, der wohl am schwersten zu stoppende Running Back seiner Zeit, diesen Ball nahe der Goal Line nicht einfach selbst reinrammen?
Inzwischen ist Bevell nicht mehr OC des Teams. Stattdessen übernahm mit Brian Schottenheimer jemand, der mit den antiquiertesten Offensiv-Football unserer Zeit spielen lässt. Nicht nur hatten die Seahawks die zweitmeisten Laufspielzüge der Liga - nur die Ravens waren dank Lamar Jackson noch aktiver zu Fuß - sie hatten auch die mit Abstand wenigsten Pässe aller Teams.
Warum das absurd ist, liegt auf der Hand: Russell Wilson ist der Quarterback. Kaum ein QB hat einen besseren Arm als Wilson, was er mit seinen zahlreichen Deep Balls immer wieder zeigt. Zudem verfügte das Team schon im Vorjahr mit Leuten wie Doug Baldwin oder Tyler Lockett über großartige Playmaker auf der Receiver-Position.
gettyRussell Wilson bekam 2018 viel zu selten den Ball
Zudem, und das ist krass: Zählt man Wilsons Pass-Versuche und seine mehr oder weniger geplanten Laufspielzüge zusammen, bekam Wilson dennoch nur in 48,8 Prozent aller Offensiv-Snaps seines Teams (inklusive der Sacks) den Ball. Und auch wenn er erst jetzt der mit Abstand bestbezahlte Spieler der Liga sein wird, war er unzweifelhaft der beste Spieler seines Teams - warum sonst die massive Gehaltsaufstockung? Warum also bekommt er nicht mal in der Hälfte der Gelegenheiten den Ball?
Ob sich das angesichts des Verbleibs von Schottenheimer tendenziell ändern wird, vermag jetzt noch keiner zu sagen. Aber zumindest mal das Personal suggeriert, dass eine Trendwende im Bereich des Möglichen ist. Die Seahawks, bei denen Baldwin schon rundum den Draft so gut wie sicher weg war, holten sich mit D.K. Metcalf einen sehr schnellen und körperlich imposanten Receiver, der die Deep-Threat-Rolle ausfüllen kann. Zudem gönnte man sich auch noch einen auf dem College sehr produktiven Slot-Receiver in Gary Jennings Jr., der auch dazu beitragen könnte, dass man nicht mehr ganz so stur aufs Laufspiel setzen wird.
Insgesamt sorgten die Seahawks mit ihren Manövern vor und während des Drafts dafür, dass sie trotz beschränkter Mittel in Sachen Salary Cap und Draft-Kapital insgesamt nun deutlich besser für die Zukunft aufgestellt sein werden als sie es vor wenigen Wochen noch waren. Ob sie dann aber auch die ihnen sich bietenden Möglichkeiten auf dem Platz umsetzen, bleibt das wohl große Thema für die kommende Saison.
Werden sie den Vorteil, der sich ihnen durch einen der besten Quarterbacks der Liga bietet, vollends ausnutzen? Oder spielen sie weiter mit selbstverordnetem Handicap und verschwenden ihre größte Ressource zugunsten einer aus der Mode gekommenen Philosophie? Nur Schottenheimer weiß wohl die Antwort.