Carl Peterson erinnert sich noch genau, wie es sich anfühlte, plötzlich einen künftigen Hall-of-Fame-Quarterback zu haben. Einen absoluten Superstar auf der wichtigsten Position.
Peterson war in jenem Frühling 1993, als der große Joe Montana nach Kansas City kam, Präsident und Geschäftsführer der Chiefs, und in einem Gespräch mit ESPN blickte er Jahre später zurück: "Als Joe zu uns kam, hatten wir mit unserem Offseason-Programm schon begonnen. Die Defense hat 45 Minuten trainiert, simple 7-gegen-7-Geschichten, und dann hat die Offense 45 Minuten trainiert."
Eine ganz normale, unspektakuläre Routine - die sich auf einen Schlag merklich änderte: "An Joes erstem Tag, als die Defense fertig war und die Offense aufs Feld kam, hat nicht ein einziger Defense-Spieler das Trainingsgelände verlassen. Alle haben sich an die Seite gesetzt und wollten zuschauen, weil sie Joe Montana spielen sehen wollten. So haben die Jungs den Trade damals gesehen - dieser Trade gab jedem die Hoffnung, dass wir einen Titel gewinnen könnten. Deshalb war es eine so besondere Zeit."
Kansas City: Alles anders mit Joe Montana
Einen Quarterback, der auch nur ansatzweise Montanas Strahlkraft hatte, hatten die Chiefs zuvor seit Len Dawson in den frühen 60er Jahren nicht mehr in ihren Reihen gehabt. Mit Dawson hatten die Chiefs 1962, 1966 und 1969 - vor dem Zusammenschluss der beiden Ligen zu dem, was wir heute als NFL kennen - die AFL gewonnen, Dawson war einer der prägenden Spieler der AFL in den 60er Jahren. Jener AFL, hinter deren Entstehung Chiefs-Franchise-Gründer Lamar Hunt einst die treibende Kraft gewesen war.
Doch nach dem Zusammenschluss mit der NFL begann die Durststrecke. Zwischen 1970 und 1990 standen genau drei Playoff-Teilnahmen zu Buche, und Kansas City fühlte sich ohnehin in der nationalen Berichterstattung meist ein wenig übergangen.
Selbst als sich das sportliche Blatt mit Beginn der 90er Jahre unter der Führung von Head Coach Marty Schottenheimer wendete, blieben die großen Magazinbeiträge und Fernseh-Features meist anderen, glamouröseren Teams vorbehalten.
All das änderte sich im April 1993 mit Joe Montana.
Montana vs. Young: Die 49ers-Kontroverse
Die Wurzeln für diesen Trade reichen sechs Jahre zurück. 49ers-Coach Bill Walsh sah sich infolge der 1986er Saison zum Handeln gezwungen: Montana hatte im ersten Saisonspiel eine derart schwere Rückenverletzung erlitten, dass er nicht nur sofort operiert werden musste, sondern die Ärzte ihm darüber hinaus offen zum Karriereende rieten.
Montana kehrte zwar noch in der gleichen Saison zurück, doch Walsh hatte eine Entscheidung getroffen: Die Nachfolge musste geklärt werden. Und so einigte er sich 1987 mit den Tampa Bay Buccaneers auf einen Trade von deren Backup-Quarterback Steve Young. Und es dauerte nicht lange, ehe die Quarterback-Frage alles bestimmte.
Montana war eine lebende Legende, nicht nur in San Francisco, und es war keineswegs so, dass er massiv abgebaut hätte - im Gegenteil: Die 49ers gewannen im Januar 1989 ein weiteres Mal den Super Bowl und anschließend sowohl 1989 als auch 1990 jeweils 14 Regular-Season-Spiele, mit einer saisonübergreifenden Serie von 18 Siegen in Folge.
Doch schon früh rotierte Walsh gelegentlich, gab Young immer wieder Einsätze - bei denen er meist sehr gut aussah. Später würde Walsh einmal sagen, dass "wir Steve Young verpflichtet haben. Aber was wichtiger war: Wir haben eine Zukunft verpflichtet." Der fünf Jahre jüngere Steve Young hatte nicht nur den Altersvorteil gegenüber Montana, er hatte bislang - in Tampa Bay bereits als Bust abgestempelt - auch nicht ansatzweise so viele NFL-Spiele und NFL-Hits in den Knochen wie Montana.
Walshs Weitsicht sollte sich dann 1991 konkret offenbaren.
49ers traden Montana: Legenden gehen niemals leicht
Es war eine Ellbogenverletzung in der Preseason, welche das Pendel endgültig in Youngs Richtung ausschlagen ließ. Die Verletzung kostete Montana die gesamte 1991er und fast die komplette 1992er Saison, Young etablierte sich über zwei Jahre als fester Starter. Montana bekam zwar von den Ärzten grünes Licht für 1993 - doch für viele Beobachter war, so schmerzhaft und einst undenkbar diese Erkenntnis auch war, klar: Steve Young, nicht Joe Montana, ist die Zukunft dieser Franchise.
Selbstverständlich sahen das aber nicht alle Fans so, und in der Folge entstand unter 49ers-Anhängern eine echte Kontroverse: Auf der einen Seite das Lager, welches bereit war, das historische Montana-Kapitel zu schließen und mit Young endgültig in eine neue Ära zu starten - auf der anderen Seite die Stimmen, die davon überzeugt waren, dass man einen der größten Spieler aller Zeiten nicht traden könne.
Diese Spaltung konnte man auch innerhalb der Franchise beobachten. Teambesitzer Eddie DeBartolo haderte über Wochen mit sich selbst und konnte sich zu keiner klaren Entscheidung durchringen. Das ging so weit, dass er - als Montana bereits weit fortgeschritten in der Kommunikation mit interessierten Teams war - zu Montana nach Hause kam und ihn überreden wollte, doch zu bleiben.
Mehr noch: Obwohl Young der frisch gebackene MVP war, erklärten die 49ers Montana Mitte April öffentlich zu ihrem "designierten Starter". Das wiederum verärgerte Young, wie er später in seiner Biographie erzählte, so sehr, dass er dem Team die Pistole auf die Brust setzte: Er wollte endgültig zum Starter erklärt, oder andernfalls getradet werden.
Montana bittet um Trade-Freigabe
Montana hielt die Team-Ankündigung ohnehin für eine PR-Maßnahme und lehnte ab. Er hatte einen Deal mit den Chiefs ausgehandelt und bat die 49ers um die Trade-Freigabe. Young erfuhr an jenem 21. April 1993 unterwegs im Auto aus dem Radio, dass Joe Montana soeben getradet worden war. Die 49ers erhielten im Gegenzug einen Erstrunden-Pick 1993, gaben zusätzlich aber einen Drittrunden-Pick 1994 sowie Safety David Whitmore ab.
"Ich habe mir gedacht, dass er so gut wie weg ist, als er diese Wiederernennung zum Starter abgelehnt hatte", teilte Wide Receiver Jerry Rice der New York Times am nächsten Tag mit. "Ich will ihn diese Woche anrufen, einfach um ihm alles Gute zu wünschen. Ich glaube, dass er noch etwas im Tank hat. Er wird Kansas City ohne Frage weiterbringen."
Und selbst bei Rice merkte man, wie die "was wäre wenn?"-Frage mitschwang, als er fortsetzte: "Als er im Laufe der vergangenen Saison wieder fit war - wenn das Team ihn da direkt aktiviert und zum Starter gemacht hätte, dann wäre er jetzt noch hier. Aber er war gesund und bereit und sie haben ihn eben nicht aktiviert."
Die Kansas City Chiefs rüsten auf
Montana war klar, dass er das Duell mit Young vielleicht nochmal kurzzeitig, nicht aber langfristig würde gewinnen können. Young würde tatsächlich anschließend noch sieben weitere Jahre für die 49ers spielen und seine eigene Legacy in der Bay aufbauen.
Vor allem aber war offensichtlich geworden, dass dieses interne Duell seinen Siedepunkt erreicht hatte. Auch wenn beide betonten, dass "wir uns nie gestritten haben" (Young) und dass "es kein böses Blut zwischen uns" gab (Montana) - die einfachste Zusammenfassung lautet: Montanas Abschied war für alle Beteiligten in diesem Moment das Beste.
In Kansas City herrschte nur ein Gefühl: Vorfreude. Die Chiefs, und nicht nur die Fans, sondern auch die Verantwortlichen, waren der Meinung, dass sie permanent an der Schwelle eines Titelfensters standen. Schottenheimer, J.J. Birden, Willie Davis, Dale Carter, Derrick Thomas - und die Verpflichtung von Montana brachte, ein exzellentes Beispiel für die Strahlkraft des späteren Hall-of-Famers, einen weiteren Superstar und ehemaligen Super Bowl MVP nach Kansas City: Running Back Marcus Allen.
Allen war Free Agent und hatte nach jahrelanger sehr schwieriger Beziehung zu Raiders-Besitzer Al Davis Los Angeles schließlich verlassen und war auf dem Markt. "Sobald der Trade für Joe in trockenen Tüchern war", blickte Carl Peterson weiter zurück, "hat Marcus mich angerufen. Er hat mir gesagt, dass er jetzt, da wir Joe hatten, auch kommen wollte."
Ein bisschen Playoff-Magie
Die Montana-Ära in Kansas City sollte letztlich nur zwei Jahre dauern, im April 1995 verkündete er nach einigen weiteren Verletzungen sein Karriereende. Doch vor allem 1993 hatte es in sich. Die Chiefs gewannen im ersten Anlauf mit Montana nicht nur zum ersten Mal seit 22 Jahren ihre Division. Sie legten auch einen Playoff-Run hin, an den sie erst mit Patrick Mahomes wieder ran kamen. Von 1991 bis heute hatte Kansas City in genau zwei Spielzeiten mehr als ein Playoff-Spiel gewonnen: In der laufenden Saison - und 1993.
Dabei war gleich der Auftakt mehr als holprig: Die Steelers kamen in der Wildcard-Runde nach Arrowhead und führten zur Halbzeitpause mit 17:7. Die Chiefs, für die damals vier der letzten fünf Playoff-Teilnahmen jeweils mit dem ersten Spiel auch wieder beendet waren, fielen dieses Mal allerdings nicht in Panik. Montana, das berichteten Augenzeugen anschließend einstimmig, war die Coolness in Person; Chiefs-Fans bekamen ihren ersten Geschmack der Montana-Playoff-Magie, von der sich die Fans in San Francisco nur so schwer hatten trennen können.
"Wir dachten nicht, dass wir gegen Pittsburgh so zurückfallen würden", gab Chiefs-Receiver Willie Davis im Rahmen eines offiziellen Team-Rückblicks zu, "aber angesichts unseres Quarterbacks und unserer offensiven Waffen gab es keinerlei Grund für Panik." Montana besorgte mit einem Fourth-Down-Touchdown-Pass den Ausgleich, in Overtime gewannen die Chiefs per Field Goal.
Das Spiel wiederholte sich eine Woche später in Houston. Die Oilers gingen mit einer 10:0-Führung in die Halbzeitpause und hatten Montana mit der ultra-aggressiven Defense von Buddy Ryan einige harte Hits mitgegeben. Doch Montana passte sich an, und trotz einiger Blessuren am Knie und am Ellbogen bestrafte er Ryans Blitz-Vorliebe nach und nach. In der zweiten Hälfte warf er drei Touchdown-Pässe, Allen steuerte einen langen Touchdown-Run bei und mit einem 28:20-Sieg ging es für die Chiefs ins AFC Championship Game.
Dort war schließlich gegen Buffalo Endstation, Montana musste früh im dritten Viertel mit einer Gehirnerschütterung raus. Doch blieb diese Saison nach dem Montana-Trade für Chiefs-Fans nicht als verpasste Gelegenheit in Erinnerung; für eine Franchise, die zwischen 1972 und 1991 ein einziges Playoff-Spiel gewonnen hatte, war Montana der Spieler, der sie wieder zu nationaler Relevanz führte und ein neues Selbstbewusstsein nach Kansas City brachte. Auch wenn das ganz große Hollywood-Ende ausblieb.