Nach dem Sieg über die Packers im NFC Championship Game kam er mal wieder heraus - der Richard Sherman vergangener Tage.
Es war ein stichelnder Tweet von Ex-All-Pro-Corner Darrelle Revis, der Shermans Qualitäten in Frage stellte, auf den Sherman schnell und kompromisslos reagierte. Er würde "gerne weiter auf diesen Ehemaligen eingehen. Aber ich muss mich auf den Super Bowl vorbereiten. Genieß deine Sicht von der Couch."
Daraus entwickelte sich über mehrere Tweets eine kleine Schlammschlacht via Social Media, Sherman hat seine Tweets inzwischen wieder gelöscht.
Doch warum sich überhaupt darauf einlassen? Dem San Francisco Chronicle erklärte er ganz offen: "Ich genieße es, zu sehen, wenn andere daneben liegen und ich selbst recht habe."
Sherman und das berüchtigte Crabtree-Interview
Mit dieser Antwort würde längst nicht jeder im Profi-Sport-Geschäft einfach so davonkommen. Ganz im Gegenteil - man stelle sich, übertragen auf den deutschen Markt, vor, ein Spieler des FC Bayern würde Vergleichbares nach einem Wortgefecht mit einem ehemaligen Superstar sagen. Und selbst in NFL-Kreisen erfordert es nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie eine solche Aussage von etwa Odell Beckham oder Cam Newton medial auseinander genommen werden würde.
Und auch mit Sherman war das mal anders. Nicht nur Seahawks-Fans dürften sich bestens an Shermans ersten ganz großen, öffentlichwirksamen Auftritt in dieser Richtung erinnern: Als Seattle die 49ers im 2013er Championship Game geschlagen und Sherman den finalen Pass abgewehrt hatte, provozierte er erst Niners-Receiver Michael Crabtree auf dem Feld, ehe er zu einem längst berüchtigten Postgame-Interview ausholte.
Sport-Shows diskutierten anschließend hitzig darüber, ob Sherman nicht Grenzen überschreite, ob er nicht zu emotional sei, ob er sich nicht besser im Griff haben müsse. Er wurde die Personifikation des heißblütigen Trash-Talkers, der gelegentlich auch mal die Fassung verliert. Wie etwa bei seiner allerersten NFL-Interception 2011 gegen Cincinnati.
Der damalige Bengals-Coach Marvin Lewis hatte Sherman zuvor beim Senior Bowl zurechtgewiesen, Sherman blickte in einem ausführlichen Feature bei The Athletic zurück: "Ich fing den Ball direkt vor ihrer Seitenlinie ab, und habe ihn in seine Richtung geworfen, und etwas gesagt wie: 'Du Idiot. Nimm niemals meinen Namen in deinen Mund.'"
Das Ende der Legion of Boom - und ein Neustart
Sherman kam mit seiner Art fraglos auch deshalb durch, weil er nicht nur gut wurde - der Ex-College-Receiver gehört in der Diskussion um den besten Cornerback der vergangenen zehn Jahre ganz weit nach oben, und vielleicht sogar an die Spitze.
Doch auch er konnte das Ende der "Legion of Boom"-Ära in Seattle nicht aufhalten. Abgänge, Verletzungen - und schließlich erwischte es auch Sherman selbst. 2017 war vielleicht die am wenigsten eindrucksvolle Saison für Sherman in Seattle; vor allem aber endete jenes Jahr für ihn auch vorschnell: In Woche 9 erlitt Sherman einen Achillessehnenriss, im März 2018 entließen ihn die Seahawks.
Sherman hatte noch immer einen großen Namen. Doch er war auch ein 30-jähriger Cornerback - die Position, die das höchste Maß an Agilität, Explosivität und reaktionärer Beweglichkeit erfordert -, der frisch von einem Achillessehnenriss zurückkommt. Nur wenige Positionen fallen mit dem Alter so zeitig und so rapide ab wie Cornerbacks, selbst ohne eine derart schwere Verletzung. Sherman entschied sich trotzdem, in die Free Agency ohne einen Berater zu gehen.
Den Dreijahresvertrag mit den 49ers handelte er dementsprechend selbst aus und sagte schließlich San Francisco zu - obwohl er, wie er The Athletic bestätigte, eine bessere Offerte von den Detroit Lions erhalten hatte. "Aber das ist nicht die Art Football, die ich spielen will", fügte Sherman hinzu. "Wie sie schematisch spielen, die Kultur dort - die Art und Weise der Patriots ist nicht meine Art. Ich mag Spaß. Ich mag Musik beim Training. Ich mag eine entspannte Stimmung in den Meetings. Ich mag diese stressige Umgebung nicht."
Stattdessen entschied er sich also für ein 49ers-Team, das einerseits im Rebuild war, und bei dem er zudem auch nur durch diverse Boni-Zahlungen wirklich auf 39 Millionen Dollar über drei Jahre kommen würde. Lediglich drei Millionen Dollar waren vollständig garantiert, und sowohl Spieler, als auch Medienvertreter und natürlich Berater belächelten Sherman für sein Verhandlungsgeschick.
Sherman und der vermeintliche Anfang vom Ende
Doch Richard Sherman wäre nicht Richard Sherman, wenn er nicht bei jeder Gelegenheit auf sich selbst setzen würde. In Shermans Twitter-Profil steht fest verankert: "Ich verdiene mir den Respekt, den die Leute mir entgegenbringen. Selbstvertrauen ist eine Grundvoraussetzung für Erfolg." Und das war auch die Einstellung, mit der er sich für San Francisco entschied; umso mehr befeuerten ihn die Spötteleien angesichts des von ihm ausgehandelten Vertrags.
"Er war fest entschlossen, nicht nur zurückzukommen", verriet sein Bruder Branton Sherman der Washington Post, "sondern er wollte auch besser als jemals zuvor werden."
Dennoch schienen sich die Befürchtungen vieler in der 2018er Saison zu bewahrheiten. Selbst Sherman schien das nächste Opfer des Alters und der Verletzungen zu werden.
2018 spielte er seine schwächste NFL-Saison, am Ende stand seine einzige Spielzeit ohne Interception, seine Saison mit den wenigsten Pass-Breakups und die mit Abstand höchste zugelassene Catch-Quote seiner Karriere. Das Fenster, in dem er sich mit den besten Cornerbacks der Liga messen und Receiver zur Weißglut treiben konnte, schien sich endgültig zu schließen.
Sherman 2019: Die unwahrscheinlichste Geschichte
Dann aber kam 2019. Zwar mit einer weiteren NFL-Saison in den Knochen, doch auch jetzt länger entfernt vom Achillessehnenriss schlug Sherman gegen die sonst meist so gnadenlos mahlenden Mühlen der Zeit zurück - und wie.
Er kam zwar nicht ganz an die Seahawks-Hochphase ran, doch Sherman spielt eine der besten Saisons seiner Karriere. Er lässt eine Catch-Quote von knapp über 50 Prozent zu, hat fünf Interceptions auf dem Konto und verzeichnet einen persönlichen Bestwert was Yards pro zugelassenem Catch angeht.
Richard Shermans Stats 2019: Ein Elite-Corner
Kategorie | Stat | NFL-Rang* |
Yards pro Coverage Snap | 0,44 | 1 |
Coverage Snaps pro Reception | 19,1 | 2 |
Coverage Snaps pro Target | 10,1 | 2 |
Zugelassene Touchdowns | 1 | 5 |
* alle Statistiken in der Tabelle von Pro Football Focus. Alle Rankings nur unter Cornerbacks mit mindestens 300 Coverage-Snaps in der Regular Season 2019.
Sherman ist, in einem ähnlichen Grund-Scheme wie dem vergangener Seahawks-Tage, zurück auf dem Level der Liga-Elite. Er ist wieder der Cornerback, der in Zone Coverage eine Seite des Feldes für die Offense regelmäßig dicht macht - eine Qualität, die gegen Patrick Mahomes und die brandgefährliche Chiefs-Passing-Offense besonders gefragt sein wird. Dabei, und hier macht sich das Alter dann doch wieder bemerkbar, ist er aber auch in manchen Dingen klüger als in der Frühphase seiner Karriere.
Doug Farrar von der USA Today fragte Sherman etwa am Rande des Super Bowls, was er jetzt wisse, das er vor fünf Jahren noch nicht wusste. Shermans Antwort: "Ich denke, für mich ging es vor fünf Jahren weniger darum, was ich nicht wusste, sondern mehr um die Risiken, die ich eingehen konnte. 2018 konnte ich diese Risiken mit den Nähten in der Ferse nicht mehr eingehen, also musste ich schlau und überlegt spielen. Als die dann weg waren und ich meine athletischen Freiheiten wieder hatte, konnte ich das mit den technischen Aspekten, auf die ich mich 2018 mehr gestützt hatte, kombinieren."
Die 49ers auf den Spuren der Seahawks?
Und Sherman weiß inzwischen umso mehr, welchen Preis es fordert, an die Spitze zu kommen. "Egal was am Ende dabei rauskommt, ob man gewinnt oder verliert - man opfert Dinge. Man opfert seinen Körper, man opfert Zeit, man opfert seine Gesundheit. Oft ist man irgendwo zwischen Durchdrehen und Fokussieren, weil man permanent auf einem so schmalen Grat wandelt. Deshalb ist es auch emotional, und man lernt die Dinge noch mehr schätzen."
Die 49ers hoffen, dass sie von Shermans immensem Erfahrungsschatz auch am Sonntag profitieren können. Der Routinier macht kein Geheimnis daraus, dass ihn die aktuelle Stimmung in San Francisco an die Hochzeiten in Seattle erinnert - wenngleich er selbst eine andere Rolle darin einnimmt.
"Ich bin nicht mehr in meinem ersten, zweiten oder dritten Jahr und als junger Spieler mittendrin", führte er gegenüber The Athletic weiter aus. "Ich beobachte die Dinge mehr, und dabei stelle ich fest, dass ich das schon einmal erlebt habe. Ich weiß, wie das enden kann und ich werde die Rolle übernehmen, von der ich weiß, dass sie notwendig ist, damit das richtige Ende dabei rauskommt."
Gleichzeitig aber, und da können Niners-Fans ganz beruhigt sein, wird Sherman am Sonntag auch das nötige Feuer auf den Platz bringen - anders kennt er es selbst nicht, und vermutlich kann er es selbst auch anders gar nicht.
"Schon als Kind war er so", verriet sein Vater Kevin dem San Francisco Chronicle, "und er nutzt alles, um sich selbst zu motivieren. Als die Leute in der High School beispielsweise gesagt haben, dass er nicht Wide Receiver spielen könne, hat er das nur deshalb gemacht, weil er den Leuten das Gegenteil beweisen wollte. Und so lief es dann auch, als sie ihn im College gefragt haben, ob er von Receiver auf Corner umschulen würde und die Leute ihn gefragt haben, wie er so weiter auf dem gleichen Level spielen will. Selbst sein Bruder hat ihn gefragt, ob er sich da sicher ist. Er sagte ihm: 'Ich bekomme das hin.'"
Heute wissen wir, dass Sherman weitaus mehr geschafft hat als es nur "hinzubekommen". Er ist einer der besten Cornerbacks seiner Ära, und er ist erstaunlicherweise zurück auf seinem All-Pro-Level.
Und genau dort werden ihn die 49ers am Sonntag brauchen.