Nach dem knappen Sieg in Philadelphia erwartet die Seattle Seahawks eine deutlich schwierigere Prüfung: Die Seahawks müssen in der Divisional Round nach Green Bay zu den Packers (Mo., 0.40 Uhr live auf DAZN). Um im Lambeau Field bestehen zu können, braucht Seattle einen Gala-Auftritt von Quarterback Russell Wilson - doch wie funktioniert die Big-Play-Maschine der Seahawks eigentlich? Eine Analyse.
Als Seahawks-Coach Pete Carroll nach Wilsons exzellenter Vorstellung in der Wildcard Round gegen die Eagles gefragt wurde, hatte er eine Aussage parat, die vielleicht mehrdeutiger war, als Carroll es beabsichtigt hatte: "Er ist dazu immer in der Lage, wenn wir ihn brauchen. Er ist immer gewillt, das ganze Team zu tragen, wenn wir das von ihm brauchen."
Grundsätzlich würde dieser Aussage wohl so ziemlich jeder erst einmal zustimmen. Wilson legte in der gerade beendeten Regular Season 31 Touchdown-Pässe auf und erlief drei weitere Touchdowns selbst, gleichzeitig leistete er sich nur fünf Interceptions - so wenige Interceptions und eine so geringe Interception-Quote angerechnet auf seine gesamten Passversuche hatte Wilson noch nie in einer Saison.
Die andere Bedeutungsebene von Carrolls Aussage betrifft aber vor allem die Art und Weise, wie Seattle offensiv spielt. Und auch dafür war das Eagles-Spiel ein schwer zu ignorierendes Beispiel.
Gegen Philadelphia hielten die Seahawks an einem desolaten Run Game fest und machten sich das Leben so selbst schwer. Auf einer Pro-Dropback-Ebene bedeutete das: Wilson verzeichnete 0,49 Expected Points Added pro Dropback - Travis Homer (-0,59 EPA/Play) und Marshawn Lynch (-0,09) konnten da, gelinde gesagt, nicht ganz mithalten. Zur EPA-Erklärung geht's hier lang.
Selbstredend war das kein Einzelfall. Die Seahawks waren gleich nach den Redskins und den Rams das konservativste Team mit seinen Fourth-Down-Entscheidungen und warfen den Ball in neutralen Spielsituationen auffällig wenig. Das hängt maßgeblich mit Carrolls Football-Philosophie zusammen - und Carroll weiß, wie im Eingangszitat deutlich gemacht, dass er sich einen konservativeren Ansatz auch dank seines Quarterbacks leisten kann. Denn mit Russell Wilson sind die Seahawks immer gefährlich.
Russell Wilson und die Big-Play-Offense
Genauer gesagt: Seattle ist im Passspiel über seine Big Plays brandgefährlich. Die Seahawks, in puncto Rushing-Effizienz in der Regular Season im unteren Durchschnitt, sind in nahezu jedem Spiel dazu in der Lage, verlorenen Raum oder verlorene Zeit durch die Luft wieder wettzumachen.
Unter allen Quarterbacks mit mindestens 400 Dropbacks hat keiner eine höhere Prozentzahl seiner Pässe tief geworfen als Wilson (16,5 Prozent) und nur Jameis Winston (1.351 YDS) hat mehr Deep-Passing-Yards kreiert als Seattles Quarterback (1.179). Lediglich Patrick Mahomes (13) hat mehr Deep-Passing-Touchdowns aufgelegt als Wilson (11), und das obwohl Wilson die viertmeisten Deep-Passing-Drops aller Quarterbacks hinnehmen musste (5).
Wilson hat auch die zweithöchste Target-Tiefe unter Quarterbacks mit mindestens 400 Pässen, 9,4 Yards wirft er im Schnitt tief. Hier liegt Winston (10,5) noch vor ihm. Erweitert man die Parameter, wären Matt Stafford (10,7) und Ryan Tannehill (9,7) noch in dieser Konversation.
Blickt man auf die Big Plays der Seahawks-Passing-Offense aus den vergangenen Wochen, dann fallen einige Elemente immer wieder auf:
- Play Action und Motion sind maßgebliche Katalysatoren für das vertikale Element der Offense.
- Wenn D.K. Metcalf isoliert in Coverage ist - und Seattle versucht das häufiger zu kreieren - bekommt er simple Routes und Wilson vertraut ihm.
- Seattle kombiniert Plays gut und hat klar erkennbare Designs, um ins vertikale Passspiel zu kommen.
- Defenses müssen Wilson in der Pocket halten. Darf Wilson improvisieren, wird es für die Secondary schnell problematisch.
Der hier dargestellte 53-Yard-Touchdown von Metcalf gegen die Eagles am Sonntagabend ist ein gutes Beispiel für zwei der auffälligsten Elemente: Motion und Play Action.
Wilson legt im Schnitt pro Play-Action-Pass 9,4 Yards auf - eine deutliche Steigerung zu seinen 7,4 Yards im normalen Dropback Passing Game.
In diesem Fall führte die Play Action in Kombination mit der Motion zu einem Coverage-Bust: Der Safety auf der linken Seite der Offense kommt auf Anweisung von Cornerback Maddox auf die Line of Scrimmage zu. Lockett (Nummer 16) setzt sich Pre-Snap in Bewegung, sodass der Safety ohne konkreten Gegenspieler im Raum bleibt.
Gleichzeitig laufen die Seahawks von der rechten Seite eine In-Breaking-Route, und weil der Cornerback, der dem Receiver dort gegenüber steht, blitzt, muss der andere tiefe Safety dem Linebacker gegen die In-Breaking-Route helfen.
Damit bleibt Maddox außen ein Eins-gegen-Eins gegen die vertikale Route von Metcalf, und das ohne Safety-Hilfe in der Mitte des Feldes. Ein verheerender Fehler. Wilson deutet erst die Ballübergabe an Lockett, dann an den Running Back an, ehe er Metcalfs Matchup sieht und seinen Rookie-Receiver prompt anvisiert.
Metcalf? "Ein verdammt großer Typ"
Ausgerechnet der medial sonst so wortkarge Marshawn Lynch brachte es nach Metcalfs eindrucksvollem Spiel gegen die Eagles, als er mit 160 Receiving-Yards einen Rookie-Playoff-Rekord sowie einen Seahawks-Playoffs-Rekord aufstellen konnte, am besten auf den Punkt: "Er ist ein verdammt großer Typ, der sich so bewegen kann."
John Ursua, ebenfalls einer der Rookie-Receiver in Seattle, hatte bereits vor der Partie gegenüber The Athletic betont: "Es ist fast schon nicht fair, wenn Russ ihm den Ball hoch zuwirft. Manchmal denke ich mir da schon: 'Zum Glück bin ich hier nicht der Defensive Back.'"
Das Vergnügen, Metcalf und Lockett zu verteidigen, dürfte am Sonntag primär Jaire Alexander (Lockett) und Kevin King (Metcalf) zukommen, zumindest in Man-Coverage-Situationen. Die Packers haben insgesamt eine solide Coverage und vor allem einen exzellenten Pass-Rush, der Seattles Offense im Keim ersticken könnte. Gleichzeitig aber haben in der Regular Season auch nur die Raiders (16) mehr Passing Plays über 40 Yards oder mehr zugelassen als die Packers (15, geteilter vorletzter Platz mit den Giants und Eagles).
Mit derartigen Total Stats ist immer eine gewisse Vorsicht geboten, doch hier passt die Zahl zum Eindruck des Video-Studiums: Green Bay kann in Phasen defensiv dominant auftreten, im Gegensatz zu dem was die Patriots oder auch die Ravens über weite Strecke dieser Saison gerade gegen den Pass gezeigt haben, würde man Green Bay allerdings nicht als Shutdown-Defense klassifizieren.
Dann lautet die spannende Frage: Wie kann Seattle hier anknüpfen? Und neben individuellen Matchups kommt man immer wieder auf Designs zurück, die sich in ihrer Art wiederholen.
NFL GamepassDas Play hier zeigt Locketts 44-Yard-Catch im ersten Viertel gegen die Panthers, und die Ähnlichkeiten sind deutlich: Pre-Snap-Motion in Kombination mit Play Action war auch hier der Schlüssel für Seattle, um ins vertikale Passspiel zu gehen.
ESPN hatte in einer Story Ende November bereits statistisch untermauert, wie konstant auffällig der Vorteil für die Offense ist, wenn ein Spieler in Bewegung ist, während der Snap erfolgt. Kein Team nutzt dieses Mittel mehr als die Ravens, doch wenn Seattle Downfield attackieren will, fällt die Kombination aus Motion und Play Action immer wieder auf.
Die Seahawks nutzen dieses Mittel dann gerne, um entweder Metcalf zu isolieren, oder aber um beide auf die gleiche Seite zu bewegen und so die Coverage durcheinander zu bringen oder zumindest unter einen anderen Druck zu setzen.
Im hier dargestellten Play passierte genau das, die Panthers bewegten ihren Verteidiger mit Metcalf auf die andere Seite, und statt zwei vermeintliche ISO-Routes bekommt die Defense plötzlich Metcalf und Lockett in aufeinander aufbauenden Routes. Lockett schafft nach seinem Cut genau ausreichend Separation zwischen dem Outside-Corner und dem Safety, damit Wilson den Ball reinfallen lassen kann.
Wie die Seahawks offene Big Plays kreieren
Was ebenfalls mehrfach auffällig war, ist die Art und Weise, wie Seattle angetäuschte Screens und auch Rollouts oder Bootlegs gezielt nutzt, um den Receivern im Passspiel Raum zu verschaffen.
NFL GamepassBeispielhaft dafür gibt es noch eine Szene aus dem Panthers-Spiel. Es war eines der passendsten Beispiele dafür, wie Seattle gerne einen Play-Action-Fake auf die eine Seite durchführt, um dann die andere Seite im Idealfall mit Lockett und Metcalf zu attackieren.
Die Underneath-Zone-Verteidiger der Panthers machen durch den Fake geschlossen jeweils mehrere Schritte zur "falschen" Seite, während Metcalf den Cornerback auf der (aus Offense-Sicht) linken Seite vertikal mitnimmt. Das öffnet einen riesigen Raum, den die Linebacker infolge des Play-Action-Fakes nicht rechtzeitig schließen können und so steht ein denkbar einfacher 20-Yard-Raumgewinn.
Die nächste Stufe in der Play-Design-Entwicklung könnte dann das hier sein:
NFL GamepassDiese Szene ist aus dem ersten Eagles-Seahawks-Spiel in dieser Saison, in der Regular Season. Das Muster ist dabei ähnlich: Es gibt Motion, es gibt einen Play-Action-Fake. Anders ist, dass Seattle letztlich daraus tatsächlich fünf Routes läuft und niemanden in Pass-Protection zusätzlich zur Offensive Line zurücklässt.
Anders ist auch, wie diese Routes entstehen, zumindest die des an der Line postierten Tight Ends, Hollister. Hollister blockt nämlich erst nach innen und ist somit Teil des angetäuschten Runs zur linken Seite. Erst nach Wilsons Rollout löst er sich aus der Formation und ist dann mit einer kurzen Comeback-Route für Wilson offen und direkt in dessen Sichtfeld, nachdem Wilson sich per Design aus der Pocket bewegt hat. Am Ende steht ein 21-Yard-Raumgewinn beim ersten Play von Seattles erstem Touchdown-Drive in diesem Spiel.
Seattle: Play-Designs - oder Eins-gegen-Eins gewinnen?
Die stellenweise wirklich guten Play-Designs von Offensive Coordinator Brian Schottenheimer kombinieren die Seahawks im vertikalen Passspiel gerne auch mit ISO-Routes: Seattle stellt insbesondere Metcalf gerne isoliert auf eine Seite, und wenn die Coverage ihm ein Eins-gegen-Eins daraus ermöglicht, nimmt Wilson das auch häufig an.
Das sind dann häufig auch simple Routes wie eine Go-Route, oder eine Fade-Route, oder Comeback-Routes - mit gelegentlichem, darauf aufbauendem Double-Move, um den Verteidiger auf eine falsche Fährte zu locken und stets im Ungewissen zu lassen.
Auf diese Art kam etwa Metcalfs Big Play gegen die Rams zustande. Auch der 60-Yard-Touchdown von Moore gegen die Vikings war ein Eins-gegen-Eins-ISO-Play, inklusive Coverage-Bust für Minnesota und in seinen wenigen Snaps für Seattle wurde Josh Gordon auf diese Art ebenfalls eingesetzt.
Russell Wilson als Meister der Improvisation
Bei all diesen Aspekten was Play-Designs und Route-Kombinationen angeht steht eine andere Sache nochmals auf einem ganz anderen Blatt: Wilson ist extrem gut darin - ganz besonders wenn er ISO-Routes und dadurch klar definierte Matchups auch im Play selbst hat - zu improvisieren und zu reagieren.
Wenn er den Ball 2,5 Sekunden oder länger hält, hat Wilson dieses Jahr 16 Touchdown-Pässe geworfen. Nur Lamar Jackson, Kirk Cousins und Deshaun Watson haben in weniger Dropbacks über mindestens 2,5 Sekunden noch mehr Touchdowns aufgelegt. "Man muss es wie zwei Plays in einem betrachten", mahnte auch Packers-Safety Darnell Savage, "es gibt das ursprüngliche Play und dann, was passiert, wenn dieses Play zusammenbricht und Russell hinter der Line tanzt. Das ist eine völlig neue Situation."
Die gute Nachricht für Green Bay: Die Packers sind nicht gerade das schlechteste Team für eine solche Aufgabe, zumindest was die Front angeht. Mit Za'Darius Smith, Preston Smith und Kenny Clark hat Green Bay drei gefährliche Pass-Rusher, dazu kommt Kyler Fackrell, der schon häufiger die Rolle des Quarterback-Spy übernommen hat, um als zusätzliche Absicherung gegen mobile Quarterbacks zu fungieren. Übrigens auch schon gegen Seattle, im letzten Duell dieser beider Teams im November 2018 verzeichnete Fackrell drei Sacks sowie vier Quarterback-Hits.
Wilson: "Für mich wie eine zweite Heimat"
Wie Seattle auf eine weitere schwierige Aufgabe für die eigene Offensive Line aus Play-Calling-Sicht reagiert, wird ein entscheidender Faktor für dieses Spiel sein - genau wie die Frage, ob die zuletzt verletzten Offensive-Line-Starter Duane Brown und Mike Iupati wieder spielen können.
Carroll ließ bereits durchblicken, dass seine Idee im kalten Lambeau Field ohnehin verstärkt den berüchtigten Rückkehrer einbezieht: Marshawn Lynch soll mehr Runs bekommen, wie Carroll bei ESPN betonte: "Er fühlt sich gut, er hat es jetzt durch zwei Spiele geschafft. Ich denke, wir können seine Rolle ausbauen und ihn etwas mehr einbinden."
Seahawks-Fans derweil dürften hoffen, dass Wilson mehr von seiner Deep-Ball-Magie zeigen kann. Es wäre gegen ein unangenehmes Packers-Team, gegen das Seattle auf dem Papier jedoch den Vorteil im Vergleich der beiden Passing-Offenses hat, womöglich der Schlüssel zum Sieg.
Dann könnte Wilson auch seine Bilanz in Green Bay aufbessern. Obwohl er College-Football für Wisconsin gespielt hat, bekam ihm Lambeau Field bislang nicht - Wilsons Bilanz hier steht bei null Siegen, drei Niederlagen, drei Touchdowns und sechs Interceptions. In allen drei Partien schaffte Seattle jeweils keinen Touchdown in der ersten Hälfte.
Von alledem will Wilson im Vorfeld der Partie jedoch nichts wissen. "Zurück nach Wisconsin zu kommen - das ist für mich wie eine zweite Heimat", erklärte er nach dem Eagles-Spiel, als er erst von Reportern erfuhr, dass es für die Seahawks infolge des überraschenden Vikings-Erfolgs gegen die Saints jetzt nach Green Bay geht. "Es wird kalt sein, und bestimmt wird es schneien. Aber es wird auch Spaß machen."