Die NFL verändert sich. Gemeint ist - in diesen Tagen schon fast ausnahmsweise - keine Veränderung durch Geisterspiele, ausfallende Trainingseinheiten oder die Verlagerung aller Aktivitäten auf sozial distanzierte Online-Medien. Hier geht es um rein sportliche Aspekte, und die vergangene Saison hat in dieser Hinsicht im Detail, aber auch aus der Vogelperspektive mehr als genug Ansätze geliefert.
Konkret lassen sich in der NFL mehr und mehr zwei Kern-Ideen - mit selbstverständlich weiteren Ansätzen darüber hinaus - für offensive Herangehensweisen erkennen. Nie schwarz-weiß gedacht und nie als absolute Aussage zu verstehen, aber als Basis, als Grundlage.
"Auf der einen Seite haben wir diese Wide Zone Teams, basierend auf Mike Shanahans Ideen - wobei die 49ers heute deutlich vielseitiger sind - und auf der anderen Seite die Teams, die mehr auf Spread-Elemente setzen. Das fühlt sich teilweise an, als würde man in zwei Richtungen gezogen werden", stimmte Ex-NFL-Quarterback J.T. O'Sullivan im SPOX-Interview zu.
Zu den beiden Grund-Trends kommen die Baltimore Ravens als, zumindest was das NFL-Level angeht, Anomalie. Eine einzigartige Offense, gebaut um einen einzigartigen Spieler, deren Auswirkung auf die NFL und potenzielle Nachahmer noch abzuwarten sind. Aber was genau bedeutet das für das Gesamtbild? Und welche Trends lassen sich wiederum im Detail erkennen?
49ers, Titans und Co.: Die Wide Zone Teams
Der ligaweit auffälligste offensive Trend ist eigentlich schon über 20 Jahre alt, und wenn man genau ist, noch älter. Die Denver Broncos unter Mike Shanahan hatten bereits um die Jahrtausendwende enormen Erfolg mit ihrer Mischung aus dem Outside und Wide Zone Scheme in Kombination mit der West Coast Offense.
Fast nach Belieben, so schien es, wurden hier 1.000-Yard-Runner produziert - mit Terrell Davis als größtem Erfolg: Zwischen 1996 und 1998 lief Davis für 1.538, 1.750 und 2.008 Yards.
Die Grundprinzipien wurden bereits in der Analyse zur 49ers-Offense vor dem Super Bowl ausführlicher beschrieben, daher in aller Kürze:
- Die Offensive Line macht nach dem Snap einen Schritt "Playside", also in die Richtung, in die der Run gehen soll. Während im Power Run Game Blocker konkret einen Gegenspieler zugeteilt haben, stellt sich im Zone Blocking für Offensive Linemen die Frage: Habe ich einen Gegenspieler direkt gegenüber von mir ("covered"), oder steht mir gegenüber kein Verteidiger ("uncovered")?
- Hat der Lineman einen Gegenspieler, so wie hier im Beispiel alle Blocker außer dem Right Tackle, sieht der Ablauf so aus: Jeder Spieler macht einen seitlichen Schritt Playside, um dann seinen Gegenspieler zu blocken. Das Ziel ist es, seinen Körper zwischen den Gegner und die Seitenauslinie zu bekommen.
- Je nach Defense-Formation arbeiten die Blocker ohne direkten Gegenspieler sofort auf das Linebacker-Level zu und versuchen da, einen Verteidiger abzuschirmen. Bei einer Konstellation wie hier zwischen Right Tackle und Right Guard bilden beide zunächst einen Double-Team-Block, aus dem sich dann einer der beiden - hier der Right Tackle - löst und so ebenfalls auf das Linebacker-Level kommt. Die meisten Outside-Zone-Designs zielen darauf ab, mindestens zwei Blocker auf das nächste Level zu bringen.
- Dafür wird der Backside-Block (der äußere Block auf der Seite, auf die der Run nicht geht) auch nicht selten ignoriert und der Backside-Tackle arbeitet stattdessen nach innen, etwa im Double-Team mit dem Backside-Guard. Der Cutback-Verteidiger kann schließlich selbst ungeblockt nicht einfach in die Mitte stürmen, er ist meist für Play Action Rollouts des Quarterbacks oder mögliche Reverse-Plays zuständig.
- Der zentrale Unterschied zwischen Outside Zone und Wide Zone liegt beim Running Back: Wo es im Outside Zone die klar integrierte Optionen gibt, je nach Möglichkeit auch nach innen zurück zu ziehen, haben typische Wide-Zone-Plays ein klares Ziel: um jeden Preis nach außen kommen. Die Line blockt zwar zunächst auch in einer Outside-Zone-Bewegung, versucht dann aber eher, das gesamte Geschehen nach innen zu blocken, während der Running Back meist etwa einen Punkt zwei bis vier Yards außerhalb des äußersten Spielers an der Line anpeilt. Aus defensiver Sicht sehen beide Plays sehr ähnlich aus, weshalb auch beide geeignet sind, um darauf aufbauend identische Play-Action-Designs umzusetzen.
So kann Outside Zone dann im Bewegtbild aussehen:
Und die Anzahl der Teams, die ihre Offense mehr und mehr maßgeblich auf das Outside Zone Blocking aufbauen, wächst. San Francisco, die Rams, Minnesota, Cleveland, Tennessee, Atlanta, Green Bay - hier wird es auch in der kommenden Saison zahlreiche Ableger geben.
Oft erfolgt das mit direkter Verwurzelung: Kyle Shanahan, Mike Shanahans Sohn, bei den 49ers, Sean McVay (Rams) und Matt LaFleur (Packers) kommen aus der direkten Shanahan-Schule. Gary Kubiak (Minnesota) hat mit Mike Shanahan in Denver gearbeitet, Kevin Stefanski (Browns) zuletzt unter Kubiak und Arthur Smith (Tennessee) war 2018 einer von LaFleurs Assistenten und übernahm die Offense, als LaFleur nach Green Bay ging.
Coaches, das ist kein Geheimnis, installieren letztlich das, was sie kennen.
Outside Zone: Wie entwickelt sich die Idee weiter?
Zunächst sei auch hier aber wieder vor zu striktem Schwarz-Weiß-Denken gewarnt. Teams, deren Offense auf dem Outside und Wide Zone Blocking Scheme maßgeblich aufbaut, limitieren sich keineswegs exklusiv darauf. Auch diese Teams nutzen Man Blocking Konzepte im Run Game. Auffällig aber war gerade bei Shanahans 49ers im vergangenen Jahr, wie vielseitig San Francisco in dieser Hinsicht geworden ist - das Championship Game gegen Green Bay war das Paradebeispiel dafür.
Outside Zone ist noch immer die Basis, aber eine gegnerische Defense muss sich auf deutlich mehr Komponenten vorbereiten - nicht mehr nur auf die Frage, ob angesichts der sehr ähnlichen Blocking-Designs ein Run oder ein Play Action Pass kommt. Und: Shanahan zeigte auch darüber hinaus, wie die Entwicklung weitergehen könnte.
Ligaweit sieht man den Trend, die Defense mit mehr sich bewegenden Teilen herauszufordern: Motion und Shifts, also Spieler, die sich vor dem Snap in Bewegung setzen und insbesondere wenn sie sich im Moment des Snaps noch bewegen, sind eine nicht zu unterschätzende Waffe geworden, um offensiv noch effizienter zu agieren.
Laut PFF ging der Liga-Schnitt in der vergangenen Saison um weitere vier Prozent auf 47 Prozent hoch; bei 47 Prozent der offensiven Plays gab es also Motion oder Shifts. Shanahan derweil? Seine 49ers führten die NFL mit 78 (!) Prozent an, lagen also 31 Prozentpunkte über dem Schnitt. Seit 2015 hat Shanahan sich hier schrittweise konstant gesteigert, über die letzten fünf Jahre ging es von 56 auf 78 Prozent hoch.
Dieses Element macht sich vor allem in zwei Aspekten bemerkbar: Mit mehr Motion hat San Francisco sich auch mehr Optionen gegeben, um im Run Game auf verschiedene Arten zu attackieren. End Arounds, Jet Sweeps, diese Elemente haben jetzt einen festen Platz in der Offense. Der andere Part: Alles im Passspiel ist darauf ausgerichtet, dem Quarterback offene Würfe und Yards nach dem Catch zu kreieren.
Kernkompetenz: Dem Quarterback die Arbeit erleichtern
Der Kern der Outside Zone Offenses ist noch immer die Mischung mit dem Play Action Passspiel. Kein anderes Blocking Scheme macht es leichter, Run Plays und Play Action Pässe nahezu identisch aussehen zu lassen; unter den fünf Quarterbacks mit der höchsten Play-Action-Rate waren in der vergangenen Saison mit Goff, Garoppolo und Cousins drei Vertreter dieser Outside Zone Offenses.
Doch was gerade in San Francisco 2019 zu beobachten war, ging darüber hinaus. Keine Offense warf den Ball 2019 im Schnitt kürzer als San Francisco (6,7 Yards über die Line of Scrimmage) oder zentraler: Laut PFF gingen 62 Prozent der Pässe in den mittigen Bereich des Feldes zwischen den Field Numbers. Jimmy Garoppolo musste gemäß Next Gen Stats nur 15,3 Prozent seiner Pässe in enge Fenster werfen, unter Quarterbacks mit mindestens 200 Pässen der elftniedrigste Wert.
Mehr noch: Der Quarterback muss nicht nur weniger komplexe Reads und schwierige Würfe umsetzen, auch in puncto Yards arbeitet die Offense ihm mehr zu als nahezu jedes andere Grund-Scheme. Garoppolo verzeichnete 6,6 Yards nach dem Catch pro Completion, fast ein halbes Yard im Schnitt mehr als der Zweitplatzierte Ryan Tannehill. In der Top-6 dieser Kategorie waren letztes Jahr fünf Quarterbacks, die in auf dem Outside Zone Scheme basierenden Offenses spielten:
Platzierung | Spieler (Team) | Yards after Catch/Completion |
1. | Jimmy Garoppolo (San Francisco) | 6,6 |
2. | Ryan Tannehill (Tennessee) | 6,2 |
3. | Patrick Mahomes (Kansas City) | 6,1 |
4. | Derek Carr (Oakland) | 5,9 |
5. | Kirk Cousins (Minnesota) | 5,8 |
6. | Jared Goff (Los Angeles Rams) | 5,7 |
6. | Aaron Rodgers (Green Bay) | 5,7 |
6. | Baker Mayfield (Cleveland) | 5,7 |
Gerade die Verknüpfung mit Motion, um so defensive Zuteilungen noch durcheinander zu bringen und Receiver dann nach einem Play Action Fake komplett frei zu bekommen, ist keineswegs auf die 49ers beschränkt. Laut PFF wurden in der vergangenen Saison 43 Wide-Receiver-Screen-Pässe via Play Action und mit einem Jet-Element eingebaut geworfen. Alleine zwölf davon gingen auf das Konto der Rams.