Hinter den Tennessee Titans liegt ihre erfolgreichste Saison seit fast 20 Jahren. Seit 2002 war die Franchise nie ins AFC Championship eingezogen, die Titans gewannen im Vorjahr genau so viele Playoff-Spiele wie in den 17 Saisons zuvor. Obendrein wurde der Vertrag von Quarterback Ryan Tannehill verlängert, Tennessee könnte einer erfolgreichen Zukunft entgegenblicken. Die Personalie Derrick Henry wirft allerdings Fragen auf.
Keine zwei Monate vor dem geplanten Start der kommenden NFL-Saison steht der in den Augen vieler Beobachter wichtigste Spieler der Titans und der Garant für den Erfolg des Teams im vergangenen Jahr nach wie vor nicht langfristig unter Vertrag. Tennessee band Henry durch den Franchise Tag ein weiteres Jahr, im Anschluss wird der 26-Jährige jedoch erneut Free Agent - und könnte dann zu teuer für einen weiteren Tag werden.
Für einige ist dieses Vorgehen der Titans nicht nachvollziehbar. "Tannehill hat das Geld bekommen, aber wer hatte es verdient? Wer ist für das Team wertvoller? Das ist eindeutig", meinte der ehemalige Titans-Fullback Lorenzo Neal erst kürzlich beim lokalen Radiosender 102,5 FM The Game. "Wenn Derrick Henry hart und effektiv läuft, dann ist er eine harte Nuss. Das hat man in den Playoffs genau gesehen."
"Er will eine Einigung erzielen, wir wollen eine Einigung erzielen und wir arbeiten daran", gab Titans-GM Jon Robinson bei Pro Football Talk einen Einblick in die Verhandlungen. "Ich habe es schon gesagt und ich sage es wieder: Derrick ist ein wichtiger Teil von dem, was wir machen." Bis zum 15. Juli haben die beiden Parteien noch Zeit - andernfalls würde Henry die Saison definitiv unter dem Tag spielen müssen.
Doch woran hapert es in den Verhandlungen? Ist Henry für die Titans tatsächlich ein dermaßen unersetzlicher Spieler? Oder ist er - wie mittlerweile für Running Backs üblich - doch vor allem von den äußeren Umständen abhängig? Was spricht für eine langfristige Einigung zwischen Team und Spieler? Und was spricht dagegen?
Derrick Henry: Das spricht für eine Vertragsverlängerung
Henrys Statistiken im Saison-Endspurt der vergangenen Spielzeit waren nichts anderes als beeindruckend. Der ehemalige Zweitrundenpick lief in fünf der letzten sechs Regular-Season-Spiele für mindestens 100 Yards und einen Touchdown, kumuliert kam er auf 896 Rushing Yards und zehn Touchdowns - kein anderer Running Back kam auch nur in die Nähe dieser Zahlen.
In den Playoffs steigerte der Hüne sich nochmals. Gegen die Patriots und Ravens lief er zusammengerechnet für 377 Yards und zwei Touchdowns, gegen Baltimore warf er obendrein noch einen Touchdown-Pass. Kein Wunder also, dass die sieben Siege der Titans aus den acht Spielen direkt mit ihrem Running Back in Verbindung gebracht wurden.
Henrys Qualitäten sind unbestritten. Vermutlich bringt kein anderer Back eine derartige Kombination aus Masse, Power und Speed mit wie der 1,91 Meter große und 108 Kilogramm schwere Koloss. Seit 2017 kommt Henry pro Rush auf mehr als vier Yards nach dem ersten Kontakt, ein absoluter Topwert. Die 136 erfolglosen Tackle-Versuche gegen Henry sind in diesem Zeitraum zudem der ligaweite Spitzenwert.
Und: Henry profitiert keineswegs von einem Offensivsystem, das die Defense in die Breite zieht und ihm viele einfache Läufe ermöglicht. Seine 244 Runs gegen Defenses mit acht oder mehr Verteidigern in der Box waren 2019 ligaweit mit Abstand die meisten, der Zweitplatzierte (Dalvin Cook) kam auf gerade mal 166 derartige Laufversuche. Indem zusätzliche Verteidiger in die Box gezogen werden, kann das Laufspiel der Titans somit tatsächlich das Passspiel unterstützen - ein Zusammenhang, der bei Running Backs zu oft und zu einfach als gegeben angenommen wird - und auch Tannehill das Leben etwas einfacher machen.
Derrick Henry: Das spricht gegen eine Vertragsverlängerung
Henrys pure Zahlen im letzten Saisondrittel sowie den Playoffs waren ohne Frage beeindruckend. Dass diese Leistungssteigerung genau mit Tannehills Übernahme als Starting Quarterback einherging, sollte allerdings stutzig machen. In den ersten neun Wochen der Saison verbuchte Henry nur ein 100-Yard-Spiel, seine 3,7 Yards pro Lauf waren ein schlechter Wert. Die Annahme, dass Henrys Einfluss auf das Spiel von Tannehill größer wäre als es umgekehrt der Fall ist, wie es unter anderem Neal in seinem Interview tat, ist angesichts dieser Statistiken nur schwer haltbar.
Darüber hinaus profiterte der 26-Jährige während Tennessees Erfolgsserie ohne Frage von einer sehr guten Offensive Line: Das Tackle-Duo aus Taylor Lewan und Jack Conklin war in puncto Run-Blocking das vielleicht beste der Liga, auch Center Ben Jones und Guard Rodger Saffold spielten in der zweiten Saisonhälfte 2019 regelmäßig sehr stark. Laut PFF verbuchten acht Running Backs mehr so genannte broken Tackles pro Lauf als Henry.
Der größte Kritikpunkt an Henrys Spiel müssen allerdings seine Fähigkeiten im Passspiel sein. In der Passing-Offense der Titans, die laut DVOA (Defense-adjusted Value over Average) 2019 auch in Tennessee deutlich effektiver als die Rushing-Offense war, war der ehemalige Alabama-Star praktisch kein Faktor. In nur einem Spiel kam Henry auf mehr als 40 Receiving Yards (ein 75-Yard-Screen-Pass gegen die Browns), nie fing er in einer Begegnung mehr als drei Pässe.
Tatsächlich stand Henry im vergangenen Jahr bei gerade mal 24 von 187 Third Downs seines Teams auf dem Feld. Angesichts der Tatsache, dass Third Downs nun mal das zumeist wichtigste Down im Football sind, ist das kein allzu gutes Zeichen für den angeblich besten und wichtigsten Spieler einer Offense.
Zu all den spielerischen Punkten kommt zudem natürlich zu guter Letzt auch der Erfahrungswert der großen Vertragsverlängerungen mit Running Backs in den letzten Jahren. Devonta Freeman unterschrieb 2017 einen Fünfjahresvertrag über mehr als 41 Millionen Dollar bei den Falcons, Todd Gurley erhielt von den Rams 2018 sogar 60 Millionen Dollar über vier Jahre. Die Jets verpflichteten Le'Veon Bell für 52,5 Millionen Dollar über vier Jahre und die Cardinals verlängerten mit David Johnson für 39 Millionen Dollar über drei Jahre. Die Vertragsverlängerungen von Ezekiel Elliott und Christian McCaffrey mögen noch zu frisch für eine Bewertung sein, diese vier Verträge sind retroperspektiv allerdings alle als klare Fehler aus Sicht der Teams zu bewerten.
Derrick Henry: Kommt es noch zur Vertragsverlängerung?
Nach einer Saison, in der Henry die NFL in Rushing Yards und Rushing Touchdowns angeführt und sein Team - zumindest in den Augen mancher - bis ins AFC Championship Game getragen hat, dürfte der 26-Jährige einen Vertrag, der ihn zum bestbezahlten Spieler auf seiner Position machen würde, hoffen. Das scheint allerdings ausgeschlossen: McCaffrey, den die Panthers erst kürzlich für 64 Millionen Dollar weitere vier Jahre an die Franchise banden, ist ein kompletter Three-Down-Back, der somit auch im Passspiel von Wert und dadurch schlicht und ergreifend wertvoller als Henry ist.
Elliotts Monstervertrag, der in Dallas für sechs Jahre und 90 Millionen Dollar unterschrieb, erscheint da als Orientierungspunkt schon hilfreicher. Allerdings fand diese Einigung auch noch vor der Coronakrise statt, die zählen Verhandlungen mit Dak Prescott dürften in Dallas zudem bereits so manchen Entscheidungsträger schon wieder etwas wehmütig auf den teuren Deal mit ihrem Running Back schauen lassen.
Henry dürfte eine deutlich widrigere Saison bevorstehen. Das Niveau, auf dem er 2019 agierte, wird Tannehill mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht halten können, womit die Titans-Offense generell ein oder zwei Schritte zurück machen würde. Zudem musste die Franchise Conklin im Frühjahr ziehen lassen. Dass Isaiah Wilson sofort in dessen Fußstapfen treten können wird, darf bezweifelt werden. Das Run-Blocking des Teams könnte in der Folge schwächer werden.
Angesichts dieser Umstände wäre Henry vermutlich gut beraten, einer langfristigen Vertragsverlängerung zuzustimmen - sofern die Titans ihm denn ein angemessenes Angebot vorgelegt haben. Einen höhere Wertschätzung als nach seiner Monstersaison wird er sich kaum erarbeiten können, Running Backs wie Bell oder auch Melvin Gordon, die auf sich selbst auf dem freien Markt gewettet haben, mussten sich letztlich mit (deutlich) weniger Geld zufrieden geben.
Noch bleiben Henry und den Titans drei Tage, um eine Einigung zu erzielen. Die Uhr tickt.