Bis zum Saisonende wird noch viel passieren, einige Teams werden zum Start der Playoffs ein gravierend anderes Bild präsentieren als vor Week 1. Doch schon jetzt lässt sich festhalten: Jedes der bei den Buchmachern als Titelkandidat gehandeltes Team weist zumindest eine klare Schwäche auf.
Hinweis: Um eine möglichst repräsentative und neutrale Titelanwärter-Liste zusammenzustellen, habe ich die zehn Teams mit den besten Super-Bowl-Quoten laut Draftkings vom 22. August ausgewählt.
1. Buffalo Bills: Offensive Line
Die Bills verfolgen in der Offensive Line schon seit einer ganzen Weile eher eine Strategie der "solide durch die Bank weg", als eine Strategie, in der man versucht, eine Elite-Line zu formen. Buffalos Ressourcen stecken in anderen Positionsgruppen. Und während diese Strategie im Gesamtkontext des Roster Buildings absolut nachvollziehbar ist - ich selbst würde eine Line ebenfalls nach dieser Idee aufbauen -, so gibt es naturgemäß in der Folge auch wenig Spielraum für Fehler in der Line.
Wie viel hat Rodger Saffold noch im Tank? Ist Ryan Bates gut genug, um eine ganze Saison lang zu starten? Kann David Quessenberry an eine überraschend gute Saison in Tennessee im Vorjahr anknüpfen?
Left Tackle Dion Dawkins und schon mit Abstrichen dahinter Center Mitch Morse sind die Fixpunkte in der Line, daneben aber könnte Buffalo durchaus eine anfällige Gruppe haben. Die Bills haben in Josh Allen einen Quarterback, der das mehr als nur wettmachen kann, und könnten sich schematisch nochmal deutlich flexibler präsentieren. Selbst eine unterdurchschnittliche Line sollte die Bills nicht daran hindern, die Division zu gewinnen und in den Playoffs für Alarm zu sorgen.
Aber wenn wir von möglichen kritischen Schwachstellen sprechen, die Buffalo in den Playoffs zu viele Matchups kosten könnten, dann muss diese Liste mit der Offensive Line anfangen.
Honorable Mention: Offensive Coordinator.
2. Tampa Bay Buccaneers: Interior Offensive Line
Ali Marpet und Alex Cappa, die Starting-Guards der Bucs aus den letzten Jahren, sind weg. Center Ryan Jensen wird mit einer Verletzung lange ausfallen und Aaron Stinnie, der einen der Guard-Spots vermutlich übernommen hätte, hat sich jüngst das Kreuzband gerissen und wird die Saison verpassen.
Tom Bradys Starting-Center wird somit aller Voraussicht nach Robert Hainsey sein, ein Drittrunden-Pick aus dem Vorjahr, mit ganzen 31 Regular-Season-Snaps auf dem Konto. Nach Stinnies Verletzung ist Luke Goedeke der Favorit auf Left Guard, ein Zweitrunden-Rookie, der im College Tackle gespielt hat, und dort das Tackle-Gegenstück zu Bernahrd Raimann auf der anderen Seite der Offensive Line der Central Michigan Chippewas war.
Einzig Right Guard Shaq Mason, der via Trade aus New England geholt wurde, kann man hier als feste Größe ansehen. Und selbst hier muss man abwarten, wie schnell die komplett neu zusammengestellte Interior Line in der gemeinsamen Abstimmung funktioniert. Es ist kein Geheimnis, dass Interior Pressure der beste Weg ist, um Brady aus dem Konzept zu bringen. Diese mögliche Baustelle könnte für Tampa Bay also durchaus größere Relevanz haben.
Honorable Mention: Pass-Rush.
3. Green Bay Packers: Wide Receiver
Die Diskussion ist an diesem Punkt älter als jeder gute Käse; nach den Abgängen von Davante Adams und Marquez Valdes-Scantling aber muss man sie nochmal aus einem ganz anderen Winkel betrachten. Jetzt sprechen wir bei den Packers nicht mehr darüber, wie sie ihrem All-Pro-Superstar-Receiver mehr Hilfe zur Seite stellen können - wir sprechen darüber, wie diese Offense strukturell überhaupt funktionieren soll.
Kann Christian Watson trotz einer verletzungsbedingt drastisch reduzierten Vorbereitung als Rookie einen Impact haben? Wird aus dem Camp- und Preseason-Hype um Romeo Doubs Zählbares auf dem Platz? Kann Allen Lazard den nächsten Schritt machen? Und was haben die Routiniers Randall Cobb und Sammy Watkins noch zu bieten?
Davon ausgehend, dass kein Receiver zum großen Shootingstar wird, muss die Offense anders auftreten. Mehr Fokus auf das Run Game, aber auch Aaron Rodgers muss gewillt sein, den Ball mehr zu verteilen, und sich weniger auf einzelne Lieblingstargets einschießen.
Das kann, da muss man kein großer Prophet sein, ein Drahtseilakt werden - gerade Richtung Playoffs. Gut möglich, dass die Packers mehr Spiele mit 20 bis 23 Punkten auf der eigenen Habenseite gewinnen müssen. Das sollte in der Regular Season gutgehen, in den Playoffs aber muss dann schon alles perfekt laufen.
Honorable Mention: Offensive Line (verletzungsbedingt).
4. Kansas City Chiefs: Wide Receiver
Ganz so wacklig wie in Green Bay ist die Prognose bei den Chiefs sicher nicht - auch weil Kansas City nach dem Abgang seines Superstar-Receivers sehr aktiv auf dem Markt war: JuJu Smith-Schuster, Marquez Valdes-Scantling und Skyy Moore sollen den Abgang von Tyreek Hill im Verbund auffangen.
Das wird dazu führen, dass Kansas Citys Offense strukturell mit Sicherheit anders auftreten wird. Und das kann auch Vorteile dahingehend haben, dass Defenses in den vergangenen beiden Jahren nicht wenige Ressourcen dahingehend investiert haben, die bisherige Version der Chiefs-Offense zu stoppen.
Doch ist unweigerlich auch Risiko involviert; denn nicht nur fehlt die eingebaute, permanente Big-Play-Chance in Person von Hill, der wie kein anderer Spieler in der NFL in den letzten Jahren Spiele auf den Kopf stellen konnte, sondern Mahomes muss auch erst zeigen, dass er zwar mit einer tiefen, aber ohne "Ausnahmespieler" ausgestatteten Wide-Receiver-Gruppe auf gewohnt hohem Level agieren kann.
Die Chiefs haben eine starke O-Line sowie einen der besten Play-Caller und Quarterbacks in der NFL. Der Floor für dieses Team ist immer noch extrem hoch, doch für ein Team wie Kansas City geht es nicht um den Floor. Es geht um das Ceiling. Falls die neue, junge Defense Zeit braucht, muss die Offense umso mehr schnell am Limit agieren - und falls dieses Limit ohne Hill doch drastischer sinkt, wird Kansas City Probleme bekommen.
Honorable Mention: Secondary.
5. Los Angeles Rams: Offensive Line
McVay hat viele Dinge auf den Kopf gestellt und um ein Vielfaches verbessert, seit er als Head Coach bei den Rams übernommen hat; die Offensive Line muss man auf dieser Liste weit oben auf dem Zettel haben. In fast jeder Saison unter McVay hatten die Rams eine gute bis sehr gute Line - 2022 könnte hier potenziell mehr Löcher offenbaren als in vergangenen Jahren.
Mit Star-Left-Tackle Andrew Whitworth (Karriereende) sowie Guard Austin Corbett (Carolina Panthers/Free Agency) haben die Rams zwei Leistungsträger verloren. Joe Noteboom übernimmt auf Left Tackle und startet mit Vorschusslorbeeren, Coleman Shelton ist als neuer Right Guard eine größere Wildcard.
Der Playoff-Run lässt viele Dinge vergessen, doch Staffords Regular Season war eine Achterbahnfahrt. Die Defense könnte etwas anfälliger daherkommen, falls dann die Line auch ins Liga-Mittelfeld abrutscht, würde sehr viel auf Staffords Schultern lasten.
Honorable Mention: Cornerback 2 und 3.
6. Los Angeles Chargers: Coaching Staff
Zugegebenermaßen etwas provokant formuliert, doch in einem nach einer sehr aggressiven Offseason ziemlich kompletten Kader ist und bleibt der Coaching Staff am ehesten der Part, der mir bei den Chargers hier ins Auge springt. Brandon Staley hat bei den Rams gezeigt, dass er eine Elite-Defense dirigieren kann. Seine Ideen sind modern, seine defensiven Ansätze liegen voll im Trend der Zeit und wenn er am Mikrofon steht, gibt es wenige Coaches, die das so eloquent rüberbringen.
Aber man muss rein auf Staley betrachtet auch sagen, dass er letztes Jahr nicht gezeigt hat, dass er seine Defense anpassen kann. Dass er das Elite-Talent auf seinen Schlüsselposition vielleicht auch braucht und dass seine besten Qualitäten vielleicht nicht unbedingt im Game-Planning und bei In-Game-Anpassungen liegen. Das ist Kritik auf relativ hohem Niveau, und Staley ist auch gar nicht der primäre Anlass für die in der Überschrift implizierten Fragezeichen. Ist Joe Lombardi der richtige Offensive Coordinator, um Justin Herberts Talente bestmöglich aufs Feld zu bringen?
Herbert ist ein Quarterback mit Elite-Armtalent, und man würde sich wünschen, dass die Chargers-Offense dieses Ausnahmetalent noch stärker in den Mittelpunkt rücken würde. Stattdessen verlangt die Offense ein hohes Maß an Accuracy und Konstanz im Kurzpassspiel sowie in den Reads - und Herbert kann das. Aber es wird jetzt wichtig sein, offensiv auch schematisch den nächsten Schritt zu machen, damit man nicht darauf angewiesen ist, dass Herbert bei Third Down Big Play auf Big Play aneinanderreiht. Gelingt das, trotz einiger Fragezeichen auf der rechten Seite der Line, ist ein Playoff-Run absolut möglich.
Honorable Mention: Rechte Seite der Offensive Line.
7. San Francisco 49ers: Quarterback
Es ist nicht schwierig, eine Argumentation zu entwerfen, wonach Trey Lance die größte Wildcard der gesamten kommenden Saison ist. Das physische Potenzial ist genauso unbestreitbar wie die Tatsache, dass Lance extrem roh ist. Letztes Jahr hatte er 86 Dropbacks, 2020 absolvierte er in seiner finalen (Corona-)College-Saison ein Spiel, in dem er 30 Pässe warf.
Mit Lance wird es massive Höhen und Tiefen geben. Die Niners haben all das Draft-Kapital in ihn investiert, weil sie gesehen haben, welch Möglichkeiten ein Ausnahme-Quarterback wie Josh Allen einer Offense geben kann; das physische Potenzial von Lance, kombiniert mit Shanahans Offense-Designs, könnte für absolutes Feuerwerk sorgen und dann wäre San Francisco potenziell ein Titelkandidat, das steht außer Frage.
Allerdings gibt es auch ein reelles Szenario, in dem Lance zwar Ausreißer nach oben hat und sein Potenzial andeutet, jedoch der Offense nicht die konstante Baseline geben kann, welche San Francisco mit Jimmy Garoppolo hatte. San Francisco ist nur dann ein Titelkandidat, wenn Lance in seiner ersten Saison als Starter prompt einschlägt.
Zusätzlich erschwert wird das durch die radikal umgebaute Interior Offensive Line. Center Alex Mack und Guard Laken Tomlinson sind weg, Daniel Brunskill fällt vorerst verletzt aus. Center Jake Brendel hat seit 2019 sechs Snaps in der NFL absolviert, Guard Aaron Banks stand letztes Jahr als Rookie für fünf Snaps auf dem Feld und auf Right Guard könnte mit Spencer Burford ein Viertrunden-Rookie starten. Keine ideale Ausgangslage für Lance und Shanahan.
Honorable Mention: Interior Offensive Line.
8. Denver Broncos: Zu lange Anlaufphase
Mit der Verletzung von Tim Patrick hatten die Broncos bereits einen ersten Rückschlag zu verkraften, die Receiver-Gruppe ist aber immer noch tief: Courtland Sutton als der vertikale X-Receiver, der in einer Russell-Wilson-Offense sehr gute Zahlen auflegen sollte. K.J. Hamler könnte der vertikale Slot-Receiver sein, den Wilson schon seit Jahren gerne mit Targets füttert, und Jerry Jeudy mit seinem Route-Running sollte Separation und Passfenster über die Mitte kreieren.
Die Offensive Line ist zumindest solide, das Backfield ist stark besetzt und die Defense stellt eine der ligaweit besten Secondaries. Die individuelle Qualität steht in dieser Übung aus Sicht der Broncos also nicht im Fokus, es geht eher um die Frage: Wie genau sieht die Russell-Wilson-Offense überhaupt aus? Und wie lange dauert es, bis er und der neue Head Coach Nathaniel Hackett wirklich auf einer Wellenlänge funken?
Aus Broncos-Reporterkreisen wurde das den ganzen Sommer über berichtet, und Hackett selbst hat es immer wieder betont: Die Offense in Denver wird kein striktes Korsette sein, in welches die Coaches Wilson rein pressen. Vielmehr soll die Offense schematisch als eine Verschmelzung von Hacketts Tendenzen und Wilsons Vorlieben funktionieren.
Das kann am Ende sehr vielversprechend aussehen. Es kann aber auch eine Weile dauern, bis sich das alles zusammenfindet, und bis dahin könnte in der ultra-kompetitiven AFC der Abstand für Denver schon groß sein.
Honorable Mention: Pass-Rush.
9. Dallas Cowboys: Wide Receiver
Für eine Phase in der vergangenen Saison hatten die Cowboys das gefährlichste Team in der NFL. Die Defense dominierte mit ihrem Pass-Rush und sammelte Turnover auf Turnover, während die Offense eines der besten Receiver-Trios der Liga aufbieten konnte, mit einem Quarterback in Dak Prescott, der sich längst zu einem High-End-Pocket-Passer entwickelt hat.
Diese Welle konnten die Cowboys allerdings nicht bis zum Schluss reiten; am Ende stand ein enttäuschender Auftritt beim Wildcard-Playoff-Aus gegen San Francisco, gefolgt von einer schwierigen Offseason. Von Amari Cooper und La'el Collins trennte man sich aus finanziellen Gründen, während Michael Gallup nach seinem Kreuzbandriss vermutlich bis Woche 1 nicht bereit sein wird und auch Receiver-Neuzugang James Washington nach einer Verletzung länger ausfällt.
Die potenziellen Probleme für Dallas gehen ein Stück weit Hand in Hand: Defensiv kann man nicht davon ausgehen, dass die Cowboys abermals die Liga mit 34 Takeaways (26 Interceptions, acht Fumbles) anführen. Das wiederum wird die Offense stärker unter Zugzwang setzen - und hier rückt die Receiver-Problematik in den Mittelpunkt.
Ohne Gallup und Washington zum Start dürften sich hinter CeeDee Lamb Drittrunden-Rookie Jalen Tolbert und Noah Brown versuchen, mit Simi Fehoko als möglicher Nummer 4. Das ist nicht das Lineup, das man von einem Titelanwärter erwartet; umso mehr in Dallas, wo Prescott, bei all seinen unbestreitbaren Qualitäten, teilweise größere Formschwankungen gezeigt hat, wenn die Umstände wackliger wurden. Und auch Offensive Coordinator Kellen Moore muss zeigen, dass er mit weniger Receiver-Qualität besser umgehen kann.
Honorable Mention: Secondary.
10. Baltimore Ravens: Wide Receiver
Die Ravens-Offense, da gibt es wenig Zweifel, wird in der kommenden Saison ein anderes Gesicht haben. Mit Marquise Brown hat man nicht nur seinen besten, sondern auch in dessen Rolle am klarsten definierten Receiver abgegeben - ohne, dass man nominell zumindest Ersatz geholt hat.
Rashod Bateman wird unweigerlich in eine größere Rolle schlüpfen müssen, doch er ist ein ganz anderer Receiver-Typ als Brown. Mark Andrews ist und bleibt die Nummer-1-Waffe im Passspiel, und wenn man die bisherige Saisonvorbereitung betrachtet, ist es nicht zu weit hergeholt, wenn man sagt, dass Rookie-Tight-End-Isaiah Likely das Nummer-3-Target werden könnte.
Doch geht das auch automatisch einher mit einer anderen Spielweise. Bateman ist vielseitiger als Brown, aber er öffnet das Feld nicht vertikal. Wenn dann zusätzlich die Offense mehr über Tight Ends aufgebaut wird, muss Baltimores Explosivität über Yards nach dem Catch sowie Präzision und Konstanz im Passspiel erfolgen - sowie über das Run Game.
Die Ravens-Offense ist strukturell betrachtet einzigartig, weil ihr Quarterback einzigartig ist. Und dementsprechend ist Baltimores Offense auch auf einzigartige Art und Weise in der Lage, ohne High-End-Receiver-Production auf einem hohen Level zu funktionieren. Doch selbst mit diesem Wissen im Hinterkopf könnte Baltimore auf einer der wichtigsten offensiven Positionen zu dünn aufgestellt sein, um Spiele auch dann zu gewinnen, wenn der bevorzugte eigene Stil nicht greift.
Honorable Mention: Pass-Rush.