NFL: Indianapolis Colts: Ist der alte Matt Ryan gerade rechtzeitig zurück?

Marko Markovic
21. Oktober 202210:30
Matt Ryan hatte in Woche 6 sein bestes Spiel als Coltgetty
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Matt Ryan hat mit dem beeindruckenden Comeback-Sieg am Sonntag gegen die Jaguars sein bisher bestes Spiel als Colt gehabt und ist zweiter in der NFL in Passing Yards. Trotz dieses Lichtblicks ist die Saison bisher enttäuschend - was aber nicht nur an Ryan liegt. Was ist der Grund für die offensive Misere der Indianapolis Colts (3-2-1)? Und sehen wir jetzt mehr vom altbekannten Matt Ryan? Mit einem richtungsweisenden Spiel gegen Tennessee vor der Brust könnte der Routinier gerade rechtzeitig das Ruder herumgerissen haben.

Die Indianapolis Colts waren eine der Enttäuschungen der ersten fünf Wochen der Saison. Die Defense spielte dabei noch weitestgehend gut, doch die Offense war zermürbend, zäh und ineffektiv: Die wenigsten Punkte der Liga und eine völlig desolate Offensive Line waren nicht das, was sich die Entscheidungsträger im Frühjahr und Sommer erhofft hatten. Allen voran Teambesitzer Jim Irsay, der noch im August klar den Super Bowl als Saisonziel ausgab und die mangelnde Konstanz auf der Quarterback-Position 2021 als Grund für die damaligen Probleme nannte.

Das Front Office hatte im März mit Matt Ryan das genaue Gegenteil zu dessen Vorgänger Carson Wentz geholt: Ein erprobter Veteran, der dank seiner Physis nie eine enorme Upside hatte und auch keine wilden Experimente als Passer vollzog, sondern eher dank seines Spielverständnisses und sehr guter Präzision den Ball methodisch bewegt und wenig Fehler macht.

Gepaart mit einem guten Playcaller, ein MVP - so geschehen 2016. Gepaart mit einem Scherbenhaufen, ein so genannter Floor-Raiser, jemand, der verhindert, dass das Team je komplett in den Abgrund fällt - so geschehen in mehr Atlanta-Falcons-Saisonen als es Ryan lieb war.

Ryan wählte die Colts im März aus, weil sie auf dem Papier wie das Gegenteil von einem Scherbenhaufen aussahen: Eine Defense, die um einiges besser ist als das meiste, was er je in Atlanta sehen durfte, eine Offensive Line rund um Offensive Guard Quenton Nelson und Center Ryan Kelly, die ihn schützen kann, ein Laufspiel rund um Running Back Jonathan Taylor, das es Defenses schwerer machen wird, sich nur auf den Pass-Rush zu konzentrieren.

Kurzum: Es schien für beide Seiten wie die ideale Partnerschaft.

Eine komplizierte Annäherung: Matt Ryan und Frank Reichgetty

Matt Ryan: Der instabile Veteran?

Gekommen ist es ganz anders: Ryan befand sich von Anfang an unter konstantem Druck. Die Offensive Line erlaubte mehrfach freie Pass-Rusher Richtung Quarterback, und Ryan machte - unter Druck, aber auch ohne - Fehler, die haarsträubend waren. Von 37 Quarterbacks mit 65 oder mehr Dropbacks belegte er vor Woche 7 Platz 31 in PFF Passing Grade, Platz 35 in puncto Big Time Throw Rate und Platz 12 was in Turnover Worthy Play Rate angeht.

Die Protection-Probleme führen auch zu vielen Würfen, die an der Line of Scrimmage gestoppt werden. Oder zu Würfen, während Ryan einen Hit einsteckt. Ryan selbst führt die Liga in Turnovers an, und etliche Fumbles und Interceptions sind nicht allein durch die unerwartet anfällige Line erklärbar.

Alles, was sich General Manager Chris Ballard und Head Coach Frank Reich von dem Move erwartet haben, schien schief zu laufen. Anstatt einen stabilen Veteran in eine gute Pass Protection hinzuzufügen, um die wilde Achterbahn des QBs davor vergessen zu machen, wurde der stabile QB erratisch. Anstatt der Line zu helfen, indem der QB hinter ihrem Rücken weniger mobil und schwer nachvollziehbar herumtanzt, verlernte die Line wie es schien das Blocken selbst.

Irgendwas war bei dem Transfer schief gegangen, und nach fünf Wochen waren Gewöhnungsfragen auch langsam auszuschließen.

Protection-Probleme in Indianapolis

Die Colts erlauben die viertmeisten Pressures der Liga, und Ryan sah damit über die ersten Wochen der Saison sichtlich überfordert aus. Das alles äußert sich als Kurzschluss der gesamten Offense: Es gibt kein tiefes Passspiel ohne die Protection. Ryan hat die mit Abstand niedrigste Rate an tiefen Würfen der Liga: 3,6 Prozent gehen tiefer als 20 Yards, Kirk Cousins ist vorletzter mit 6,1 Prozent.

Das fehlende tiefe Passspiel zieht Verteidiger immer näher zur Line of Scrimmage - und macht dort Fenster enger. In der Intermediate-Zone (11-20 Yards in der Luft), wo Ryan in jüngeren Jahren brilliert hat, ist plötzlich alles zu. Noch letztes Jahr hatte Ryan in der Mitte des Feldes - also zentral und Intermediate - ein Passer Rating von 99.5. 2022 ist das runter auf 69.8.

Manches davon ist der beschriebene defensive Effekt des fehlenden tiefen Spiels. Aber manches davon ist schlicht und ergreifend Ryans abbauender Arm und seine Weigerung, sich das einzugestehen.

Würfe wie dieser gegen die Broncos sind nicht der OL anzukreiden. Hier hat Ryan einfach nicht mehr den Zip, den Ball in das Fenster zu bringen und überschätzt sich und seine 37 Jahre.

Auf der Suche nach Layups

Auch andere Aspekte der Colts Offense deuten darauf hin, dass Protection allein nicht alles ist.

Ryan wackelt auch ohne Druck, er wirft in solchen Situationen den Ball mit der drittniedrigsten Average Depth of Target. Auch mit Play Action, die einem QB massiv sowohl bezüglich Pressure als auch bezüglich den Fenstern hilft, ist Ryan bestenfalls inkonstant und verteilt den Ball vergleichsweise kurz. Die Situationen, wo er also in Ruhe operieren könnte, sind unnötig vorsichtig, während er in gefährlichen Situationen unnötiges Risiko eingeht.

Besonders bitter ist dies natürlich, da es genau diese Thematik war, die die Colts zum Trade von Carson Wentz bewegt haben.

Chris Ballard hat im Exit-Interview noch zu ihm gesagt, dass er zu selten "Layups" verwandelte auf seinem Weg zum heroischen Big Play. Jetzt haben die Colts mit Ryan kein Big Plays, hier und da sehr konservative Layups, die aber eher Screens zum RB sind, und dazwischen aber jede Menge Fehler in der mittleren Region, wo sie gern mehr Konstanz gehabt hätten.

Sollte Reich Matt Ryan etwas Verantwortung nehmen?

Außerdem muss zusehends auch in Frage gestellt werden, ob Reichs Mandat an Ryan, die Protection selbst an der Line of Scrimmage ansagen zu können, wie es für einen Veteran von seiner Statur durchaus üblich ist, eine gute Idee war.

Die neue Chemie, die sich da aufbauen muss, ist anfangs noch unausgegoren, und gerade die Jaguars in Woche 2 und die Chiefs in Woche 3 wussten mit Stunts und Blitzen genau die Kommunikations-Schwachstelle zwischen Ryan und der OL zu attackieren. Dabei wurden Erinnerungen an 2015 wach, als Ryan mit dem in Atlanta neu angekommenen Protection System von Kyle Shanahan auch massive Schwierigkeiten hatte. Erst die Ankunft von Center Alex Mack und seine Übernahme der Protection Calls ermöglichte die 2016-Falcons-Saison, die offensive Rekorde schrieb.

Zwischen dem für Ryan gewohnten System, das die Shanahan-Outside-Zone mit sich bringt, bei dem ein Running Back recht simpel Bescheid weiß, wo er blocken muss, je nachdem wen der Center als Mike Linebacker identifiziert, und dem was Reich in Indianapolis vom Protection Call abverlangt bestehen große Unterschiede. Das bestätigte Ryan im Sommer. Bei den Colts wird jede Protection einzeln gesetzt, und es gibt viel mehr Möglichkeiten für Running Back - also auch viel mehr Möglichkeiten, dass die Kommunikation scheitert.

Hier ist ein Beispiel für so eine Situation, bei der OL, RB und Protection Call nicht zusammenpassen.

Da Ryan die Verantwortung für die Calls trägt, sind letztlich einige der Probleme also von ihm selbst verursacht.

Auch erlaubt er laut PFF nach Patrick Mahomes die zweitmeisten Pressures, die man dem QB ankreiden kann, also beispielsweise durch zu langes Halten des Balles. Die Colts haben auf die OL-Probleme reagiert - mehrere Offensive Linemen wurden schon ersetzt oder auf neue Positionen gestellt, auf der Suche nach der besten Kombination an fünf Startern. Und mit Dennis Kelly, der Rookie Bernhard Raimann auf Left Tackle in Woche 6 ersetzte, scheint man eine vorläufige Zwischenlösung gefunden zu haben.

Protection Probleme liegen nicht nur bei der Offensive Line

Aber Matt Ryan und die entstandenen Verwirrungen bei der Protection können sie so schnell nicht ersetzen. Offensive Coordinator Marcus Brady sagte nach dem Sieg gegen die Chiefs, dass es hier mehr Konstanz braucht: "Ja, wir haben manche Pressures abgefangen, den richtigen Call gemacht, den Pass angebracht. Aber zu oft haben wir sie auch nicht abgefangen."

Auch Frank Reich sprach bezüglich der Protection Probleme von einem "kollektiven" Thema: "Es ist nicht nur die Line, es sind alle elf. Tight Ends, Quarterbacks, Running Backs, Receiver, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein müssen." Beide nehmen also Ryan hier nicht aus der Pflicht und machen durch die Blume klar, dass sie nicht die Line als das Haup-, oder zumindest alleinige Problem ansehen.

Ob sie ihm in letzter Konsequenz die Protection Calls entziehen, wird sich zeigen. In Woche 6 war dies zumindest nicht notwendig. Die Colts nutzten die Mini-Bye nach dem Thursday Night Game gegen Denver um sich gegen die Jaguars vorzubereiten, und alle Fehler aus dem Woche-2-Debakel zu analysieren. Das Resultat war ein Kurzpassspiel, das mit 2,4 Sekunden zwischen Snap und Wurf die schnellsten Würfe der bisherigen Colts-Saison beinhaltete.

Ryan konnte in dem Spiel erstmals wieder zu seinem alten Selbst finden. Er warf 58 Mal und kassierte keinen Sack. Es war das saubere Spiel, das sich Ballard, Reich und Co. immer erhofft hatten von der Position, inklusive einem Game Winner auf Alec Pierce, der das Potential der Receiver-Gruppe aufzeigt. Die Colts sind mit 3-2-1 bei weitem nicht aus dem Playoff-Rennen raus und haben immer noch eine Defense, die man schwer aus dem Weg räumt, und die sie auch in Spielen gegen Schwergewichte - wie Kansas City - oft im Spiel halten wird.

Frank Reich hat eingesehen, dass es leichter ist, das ganze Team um den QB herum zu ändern, als den QB selbst zu ändern. Der Nachteil eines Veterans von der Größe ist eben auch, dass man ihm seine Ticks aus vielen Jahren in der NFL nicht abgewöhnen wird - zumindest nicht in einer Offseason.

So sind zum Beispiel RPOs, davor prominenter Teil der Colts-Offense, fast komplett verschwunden aus dem Gameplan - einfach weil sie Ryan nicht so liegen. Und aus der angekündigten 80-Prozent-Colts-20-Prozent-Ryan Aufteilung bezüglich des Inputs in die Offense, ist auf dem Feld dann doch eher eine 50:50-Teilung geworden.

Matt Ryan ist verantwortlich für die Protection Calls der Coltsgetty

Potential für 2022 - aber dann?

So flexibel Reich hier also auf Ryan zugeht, hat er selbst natürlich noch einiges zu verbessern, wenn die Colts ernsthafte Playoff-Anwärter werden wollen. Die Colts laufen ein recht eintöniges Inside-Zone-Laufspiel, das auf leichte Boxen angewiesen ist. Wenn das Passspiel wegen der beschriebenen Probleme niemanden tief bindet, sind die Läufe trotz Jonathan Taylor oft der Grund, warum die Offense hinter dem Fahrplan herhinkt.

Auf Early Downs, wo die Protection zum Beispiel weniger kritisch ist, stehen die Colts auf Platz 24 in EPA pro Play und Platz 27 in Success Rate. Vor allem bei Second Down läuft Reich einfach noch zu oft. Und seine Gamescripts lassen auch zu wünschen übrig: Im ersten Viertel sind die Colts 28. in EPA/play und 29. in Success Rate.

Ob Coaching, Blocking oder QB-Play, die Colts haben mehrere Ecken, an denen sie noch besser werden können. Einzig die Receiver dürften eine Unit der Offense sein, die von sich wenig Schlechtes sagen kann. Sogar Parris Campbell, der so oft verletzt war, hat gegen die Jaguars mit einem TD und einigen guten Catches bereits nach sechs Wochen die beste Saison seiner Karriere.

Das Team hat für 2022 also durchaus noch Potential. Ryan wird die Kommunikationsprobleme sicher in Woche 15 besser im Griff haben als in Woche 5, und auch bei Philip Rivers - der der erste war, den Ryan anrief, als er Ratschlag suchte, ob er den Colts-Job nehmen soll - dauert es, bis die Offense und der Veteran-QB wirklich rund wirkten. Gleichzeitig wird Ryans Arm vermutlich nicht besser werden, und noch bei jedem QB kam der Punkt irgendwann, an dem der Kopf das nicht mehr wettmachen kann.

Langfristig - und so hat Jim Irsay den Trade argumentiert, als Drei-Jahres-Fenster - wird das die Colts natürlich in Schwierigkeiten bringen. Aber für 2022 gibt das Jaguars-Spiel zumindest die Hoffnung, dass im Entgegenkommen auf den alten Mann ein Mittelweg liegen kann, der zumindest für die AFC South schwer zu knacken ist.

Woche 7 bringt mit den Titans jetzt ein vorentscheidendes Duell, um aus dieser Hoffnung mehr zu machen. Gelingt Matt Ryan wie gegen die Jags eine Revanche, sind die Colts trotz einiger unschöner Partien in der Pole-Position in der Division. Und je mehr sich der alte Matt Ryan zu erkennen gibt, mit seiner Präzision und seinen Full-Field-Reads, umso eher werden sie diese auch halten können.

Aber sollte doch nur ein alter Matt Ryan auftauchen, wird das eine erneut lange Saison. Für ein Team und einen Quarterback, die beide schon viele lange Saisons gewöhnt sind.