Die San Francisco 49ers haben ihre letzten zwölf Spiele am Stück gewonnen, sie sind der Nummer-2-Seed in der NFC und waren schon in der Preseason einer der großen Favoriten dieser Conference.
Insofern sollte ihr Einzug ins NFC Championship Game nicht überraschen, doch wirklich nach Plan lief es für die Niners auf dem Weg hierher keineswegs. Seit einigen Wochen startet, nach Verletzungen von Trey Lance und dann von Jimmy Garoppolo, ihr dritter Quarterback, Mr. Irrelevant Brock Purdy. Und irrelevant ist er keineswegs mehr.
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Was kann man über Purdy noch schreiben, was nicht irgendwer schon geschrieben hat? Und vor allem, was kann man bei ihm noch hinterfragen, was er nicht längst widerlegt oder bewiesen hat?
Purdy startete seit Woche 14 und zeigte bereits beim ersten längeren Auftritt in Woche 13 nach Jimmy Garoppolos Verletzung eine starke Leistung. Und auch in den Playoffs bewies er, dass die Aufgabe nicht zu groß für ihn ist. Er legte eine Galavorstellung gegen die Seahawks hin und war zumindest mal effektiv genug gegen die Top-Defense der Cowboys.
Doch auch wenn diese Entwicklung für den Rest der Footballwelt äußerst überraschend kam, hatte sie einer bereits sehr früh vorausgeahnt.
Rookie-Guard Spencer Burford nahm Purdy eines Tages im November nach dem Training auf dem Campus der Air Force Academy in Colorado - in Vorbereitung auf die Höhenluft in Mexiko-Stadt für das Spiel gegen die Cardinals - zur Seite und sagte ihm: "Etwas Besonderes wird auf dich zukommen. Du bist besonders, Bro. Ich weiß nicht, was es genau sein wird, aber etwas Besonderes kommt auf dich zu."
49ers: Burford hat Aufstieg von Purdy vorausgesagt
Drei Wochen später verletzte sich dann Garoppolo und Purdy musste ran. "Ich habe es vorausgesagt! Ich habe es vorausgesagt!", zitierte Purdy Burford anschließend. "Er hat es herbeigeredet." Nicht die Verletzung versteht sich, aber Purdys besondere Vorstellungen seither.
Und Purdys Leistungen als Starter sind zweifelsohne etwas Besonderes. Sein Passer Rating in den ersten fünf Starts (119,0) war sogar höher als das von Patrick Mahomes (116,3) in dessen ersten fünf Starts. Nur Hall-of-Famer Kurt Warner übertraf einst diesen Karrierebeginn (131,4).
Purdy hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, sich nicht nur sportlich einzufügen in das imposante Konstrukt, das diese Offense der 49ers ist - die Niners stellen die dritteffizienteste Pass-Offense der NFL mit 35,7 Prozent DVOA, nach Weighted DVOA (die Spiele der jüngeren Vergangenheit werden hier höher bewertet als die früher im Jahr) liegen sie sogar auf Rang 2 in Gesamt-Offense (insgesamt sind sie Sechster).
Ihm ist es auch schnell gelungen, sich Respekt auf allen Ebenen zu verschaffen.
Brock Purdy: Statistiken seiner Rookie-Saison
Zeitraum | Spiele/Starts | Passquote | Yards | Touchdowns | Interceptions | Passer Rating | QBR |
Reg. Season | 9/5 | 67,1 | 1374 | 13 | 4 | 107,3 | 65,5 |
Playoffs | 2/2 | 62,7 | 546 | 3 | 0 | 109,9 | - |
"In seinem ersten Start überhaupt hat er eine Timeout genommen", berichtete Wide Receiver Deebo Samuel kürzlich. "Das hat mich irgendwie geschockt. 'Kyle, spiel diesen Spielzug nicht!' Das hat mir gezeigt, was für ein Typ er ist." Die Rede ist von Head Coach Kyle Shanahan, dem der Siebtrunden-Rookie hier furchtlos signalisierte, dass sein angesagter Spielzug vielleicht doch nicht die beste Lösung ist.
Und das ist ungewöhnlich, schließlich handelt es sich bei Shanahan um einen der besten Play-Caller der Liga. Und selbst Purdy betont immer wieder, dass der Schlüssel für den Erfolg des Teams sei, sich auf Shanahans Gameplan zu verlassen. Und dennoch passte ihm das angesagte Play in seinem ersten Start nicht. Wenig später warf Purdy dann einen 27-Yard-Touchdown-Pass auf Christian McCaffrey - danach stand es 21:0 für San Francisco gegen ein damals schon uninspiriertes Team der Tampa Bay Buccaneers samt Tom Brady.
49ers: Purdy mit "Eis in den Venen"
Die Aktion hat Eindruck hinterlassen. Purdy gilt schon jetzt als anerkannter Anführer in der Kabine und überzeugt mit seiner Selbstsicherheit innerhalb der Mannschaft und gegenüber dem Coaching Staff. Und selbst wenn es Kritik gibt, sieht Purdy das positiv und reagiert entsprechend.
General Manager John Lynch berichtete gegenüber KNBR von einer Situation, in der Purdy im Spiel gegen die Raiders in Woche 17 einen spektakulären Touchdown-Pass auf George Kittle geworfen hatte. Kittle war gut gecovert und nicht die erste Option - auf der anderen Seite der Endzone wäre Jauan Jennings komplett offen gewesen, was Shanahan nicht verborgen geblieben war. Als Perfektionist ärgerte er sich trotz Touchdown über die Situation und starrte seinen QB an, als dieser zur Bank zurückkehrte. Purdy bemerkte es, starrte zurück und zeigte mit dem Finger auf seinen linken Oberarm - "Eis in den Venen".
"Kyle fing an zu lachen. Zunächst war er nicht glücklich, aber dann sagte er: 'Ich konnte nichts anderes machen als kichern.' Sie hatten dann eine gute Diskussion über die Szene nach dem Spiel", sagte Lynch.
Die Szene war allerdings auch ein Hinweis darauf, dass nicht alles perfekt läuft bei Purdy. Er hat gewisse Tendenzen, die Gegner womöglich ausnutzen könnten. Wie auch beim knappen Sieg über die Cowboys im Divisional Game zu beobachten war, neigt er mitunter dazu, die Pocket zu früh zu verlassen. Und wenn er nach links heraus rollt, wird er des Öfteren ungenau - ein Rollout nach rechts ist für einen Rechtshänder leichter von der Beinarbeit her. Noch allerdings bestrafte dies niemand, auch wenn die Cowboys es durchaus versuchten.
Bislang lief vieles gut für Purdy, dessen Weg hierhin keineswegs ein geradliniger war. Wie auch, wenn man der absolut letzte Pick im Draft ist?
49ers: Schwester weckt Sportsgeist bei Purdy
Purdys Familie spielte eine große Rolle in seiner grundlegenden Entwicklung und Einstellung zum Sport. Vater Shawn war acht Jahre lang Minor-League-Pitcher und verlangte von seinen drei Kindern in Sachen Sport nur eines: Alles zu geben. Völlig gleich, ob es um eine professionelle Karriere ging oder nur das Spiel in der High School.
Und seine Mutter, Carrie, "bringt die Energie in diese Familie. Ich denke, diese Eigenschaft habe ich von ihr", sagte Purdy gegenüber Reportern. Seinen sportlichen Ehrgeiz wiederum bekam er derweil wohl durch die Tatsache, dass seine ältere Schwester, Whittney, den Ball deutlich weiter werfen konnte als Brock. Und das, bevor sie Softball an der Southeastern University spielte.
Purdy war also schon früh gefordert, was dann wohl auch dazu führte, dass er sich gegen die Queen Creek High in seiner Nähe in Phoenix/Arizona entschied und stattdessen auf die Perry High in Gilbert ging. Jene Schule spielte in einer höheren Division, hatte aber wenige sportliche Erfolge vorzuweisen.
Purdy, dessen damaliger Coach Preston Jones ihn noch Jahre später für seine Einstellung und Anführer-Qualitäten lobt, führte sein Team in seiner Senior-Saison zu einem State Championship Game und stellte Rekorde in Passing Yards (4405) und Touchdowns (57) auf. Zudem lief er für 1016 Yards und 10 Touchdowns.
Purdy war allerdings nie der klassische Star, dazu ist er auch zu bescheiden. Lobeshymnen lenkt er gezielt auf seine Kollegen ab - genau wie er den Ball an selbige verteilt. Und er ist damit genau genommen auch in genau der richtigen Situation. Im idealen System. Er lebt natürlich vom überragenden Shanahan-Scheme, das einem Quarterback nicht allzu viel abverlangt. Wie David Lombardi von The Athletic herausstellte, hat kein Team mehr Spieler, die permanent so offen sind wie die Niners. Deebo Samuel (4,3), Jauan Jennings (3,5) und George Kittle (3,3) haben bei ihren Receptions im Schnitt immer mehr als 3 Yards Separation vom nächsten Receiver laut Next Gen Stats. Und Brandon Aiyuk kommt hier immerhin auf 2,9 Yards.
Hier reden wir noch gar nicht vom überragenden Playmaker Christian McCaffrey, der vielleicht der beste Receiver aus dem Backfield in der NFL ist und diese Offense seit seiner Ankunft mitprägt.
49ers: Purdy der perfekte Quarterback für Shanahan?
Purdy gibt innerhalb dieses Systems einen souveränen Ballverteiler, er zeigte aber auch, dass er, falls nötig, aus der Struktur ausbrechen kann. Ist er individuell der beste Quarterback der NFL? Keineswegs. Aber er könnte durchaus der beste für dieses Konstrukt 49ers sein.
Und das sicherlich auch über die laufende Saison hinaus. Es mag noch keiner offen aussprechen, doch die Spatzen pfeifen ziemlich deutlich von den Dächern, dass Purdy auch 2023 als Starter in die Saison gehen wird. Nicht etwa Trey Lance, für den man drei Erstrundenpicks investiert hat.
Doch wie Lance selbst sehr gut weiß, kann es in der NFL schnell gehen. In diesem Jahr hätte eigentlich er starten sollen, seine Knöchelverletzung in Woche 2 machte ihm einen Strich durch die Rechnung und brachte Garoppolo - der eigentlich in der Offseason getradet werden sollte - wieder ins Spiel. Letzterer wäre womöglich bei einem Super Bowl der Niners wieder dabei, aber nur als Backup. Und dann wohl endgültig zum letzten Mal in dieser Uniform.
Zunächst aber ist es Purdys Job und der bringt für die Niners weitere Vorteile mit sich. Allen voran kommt er als Siebtrundenpick sehr günstig - in den kommenden zwei Jahren verdient er jeweils weniger als eine Million Dollar. Und da auch Lance als potenzieller Backup mit seinem Rookie-Vertrag nur geringfügig mehr verdienen wird, bleiben jede Menge Ressourcen für den Rest des Kaders - der Status Quo mit zahlreichen Topspielern um den jeweiligen QB herum kann also sicherlich noch eine Weile aufrecht erhalten werden.
Auf Purdy könnte also noch längere Zeit Besonderes warten.