Es ist noch nicht lange her, da wurden Teenager in der Weltranglistenspitze noch wie eine aussterbende Spezies bestaunt. Der Trend im Tennis-Wanderzirkus war schließlich ganz und gar gegenläufig, immer mehr rüstige Senioren hielten immer länger in der Führungsregion durch. Trau jedem über Dreißig - alles zu: Es war das geflügelte Wort für die neue Hartnäckigkeit und Ausdauer, für einen veränderten Zeithorizont der Karrieren auch. Einer ganz besonders lebte sie vor, die wundersame, verwandelte Tennis-Demographie: Der Schweizer Maestro Roger Federer, mit 17 Grand-Slam-Titeln der erfolgreichste Spieler bei den Majors - und mit 35 Jahren gerade an einem Comeback bastelnd, das ihn bis an die Vierzig auf weltweiten Centre Courts führen soll.
Auch in Melbourne sind gerade wieder allerhand Tennis-Veteranen am Handwerk, erfahrene, weitgereiste Globetrotter. 46 Spieler jenseits der Dreißig starteten in das erste Major der Saison, eine neue Rekordmarke. Doch es gibt eben nicht nur das Phänomen der vielen spätberufenen Schläger-Typen zu registrieren - seit ein, zwei Jahren stellt sich der Oldie-Truppe auch eine frische und erfrischende Armada von starken Lehrlingen entgegen. Im Marketingsprech der Branche werden sie als "NextGen" angepriesen, was nichts anderes als "nächste Generation" heißt. Und nach vielen Jahren der beklagenswerten Dürre ist mit Alexander Zverev endlich auch ein Deutscher prominent unter den starken Nachwuchskräften vertreten - mittendrin und vorne dabei. Ganz vorne sogar schon. Soweit entwickelt als Berufsspieler, dass man ihm auch in Melbourne bereits vieles, sehr vieles zutraut.
Achterbahnfahrt zu Beginn, dritte Runde gegen Nadal?
"Er lebt bereits früh mit höchsten Erwartungen", sagt Boris Becker über den 19-jährigen Hamburger, der am Dienstag nach einem Drei-Stunden-Krimi mit allen Tiefen und Höhen noch in die zweite Turnierrunde einzog - 6:2, 3:6, 5:7, 6:3 und 6:2 lauteten die nackten Zahlen zur Achterbahnfahrt des jungen Cracks gegen den Niederländer Robin Haase. Zverev lieferte sich und seinen Parteigängern einen zwiespältigen Auftritt mit Glanz und Elend, aber wie er sich aus der Notlage eines 1:2-Satzrückstandes und eines Breaks auch noch im vierten Satz befreite, war großes Tennis. Ein großes Comeback mit großer Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. "Ich bin einfach nur glücklich, wie ich das umgebogen habe", sagte Zverev hinterher. Es passt ein wenig ins Bild gleichläufiger Trends im Welttennis - viele starke Ü30-Spieler und viele starke Ü20-Spieler -, dass Zverev es in Runde zwei des australischen Grand Slams mit dem 18-jährigen US-Amerikaner Francis Tiafoe (ATP 108) zu tun bekommt. Und bei einem Sieg dann möglicherweise mit dem alten Meister Rafael Nadal, dem spanischen Matador, der gerade an einem seiner vielen Comebacks der letzten, verletzungsgeplagten Jahre bastelt. "Viele fiebern diesem Duell in Melbourne entgegen", sagt Frankreichs ehemaliger Spitzenspieler Henri Leconte, Down Under als TV-Experte beschäftigt.
Zverev, der in jeder Beziehung herausragende Spieler der jungen Wilden, ein Spieler mit zwei Metern Körpergröße, sieht sich in der angelaufenen Saison einer wieder einmal veränderten Ausgangslage gegenüber. Vor drei, vier Jahren war er noch ein Geheimtipp, der kleinere, möglicherweise vielversprechende Bruder von Mischa Zverev. Über ihn, Sascha, wurde noch in großen Rätseln gesprochen, auch deshalb, weil ihn die Familie eisern abschirmte vor der Öffentlichkeit. Als der jüngere der Zverev-Brüder seine ersten Gehversuche auf der Tour unternahm, schon ein wenig bekannter nach der Zeit im Juniorenbetrieb, war er so etwas wie ein Phänomen, ein Spieler, bei dem man das große Potenzial spürte. Bei dem aber Psyche und Physis noch nicht passten zu den Träumen früher Erfolge. 2016 machte er erstmals ernst, das Umfeld wurde professioneller - und er selbst auch. Jähzorn und aufbrausendes Temperament bekam er genau so besser unter Kontrolle wie viele Gegner, jüngere wie ältere. Zverev schlug erste große Namen, er gewann seinen ersten Titel, er wurde unmerklich Teil des Establishments. Als die Saison vorüber war, da war er plötzlich die deutsche Nummer eins. Ein Mann, bereits in der erweiterten Weltspitze, auf Platz 24 der Charts.
Zverev bleibt Realist
Kein Wunder, dass es für inzwischen für jeden Gegner, besonders jenseits der Top 25, als Coup gilt, diesen jungen Mann zu schlagen, der von so vielen als kommende Nummer eins der Welt gehandelt wird. Als nächster Superstar made in Germany. Zverev lässt sich diese Erwartungshaltung nicht anmerken, er blendet all die rosaroten Prophezeiungen einfach aus, weil er selbst ein großer Realist ist. Und nicht im Konjunktiv lebt: "Tatsache ist, dass ich einiges, aber noch nicht viel erreicht habe." Bevor der zerbrechlich wirkende Riese Zverev seine optimale Physis erreicht hat, bevor er so wendig, geschmeidig, muskelbepackt und agil ist wie die absoluten Branchengrößen, wird es immer wieder Rückschläge geben.
Auch Kämpfe mit sich selbst, wie in der Erstrundenpartie gegen Haase in Melbourne. Anfang des vierten Satzes, nach einem Doppelfehler, zerhämmerte Zverev in Wut und Rage seinen Schläger - "ganz einfach, weil ich Dampf ablassen musste." Nach diesem Zornesausbruch wurde alles besser für ihn, er machte einen 1:3-Rückstand wett, gewann neun Spiele in Serie und dann auch das Match. Er ist nun weiter im Turnier vertreten. Der großgewachsene Deutsche, der auch noch die große Unbekannte sein kann. Unberechenbar und gefährlich für alle bei den Australian Open.
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