Es gab Momente im Leben von Mischa Zverev, in denen man ihn schon nicht mehr als eigenständigen Tennisspieler wahrnahm. Zwei, drei Jahre ist das her, es war, als sich sein jüngerer Bruder Alexander als vielleicht größtes deutsches Versprechen auf eine goldene Zukunft ankündigte. Mischa, der Ältere, wirkte damals als Advokat, als Berater, als Nebencoach oder auch als Kummerkasten und Sorgentelefon für Alexander, den Jüngeren. Wenn man Alexander auf dem Trainingsplatz oder Centre Court sah, dann sah man auch Mischa in der konzentrierten Beobachter- und Helferrolle - ein sanfter, liebevoller Big Brother. Er, der Ältere, als Juniorpartner des jüngeren Bruders. Er, der erfahrene, aber oft schwer im Tennisleben enttäuschte Bruder als Wissensvermittler für den Jüngeren. "Er ist unersetzlich für mich", sagte Alexander in jenen Azubi-Tagen über Mischa, "er hat einfach so viel als Profi und Mensch erlebt."
Ein Herz und eine Seele sind sie auch jetzt noch, die beiden Zverev-Brüder. Aber was niemand für möglich gehalten hätte nach jahrelanger Verletzungspein, nach quälenden Zweifeln und Ängsten, nach wiederholten Gedanken an ein Karriere-Aus, ist nun auf höchst erstaunliche Weise Realität geworden: Der Beinahe-Rentner Mischa, der vorübergehend in den brüderlichen Schatten gerückte Routinier, hat auf seine älteren Tage noch einmal ein fulminantes Comeback im Wanderzirkus hingezaubert. Und wer nach einem Höhepunkt, nach einem Ausrufezeichen bei dieser Rückkehr in feinere Tenniskreise suchte, der bekam es am Mittwoch präsentiert, dem dritten Wettbewerbstag der Australian Open: In schier aussichtsloser Position gegen den amerikanischen Aufschlaggiganten John Isner, nach zwei verlorenen Tiebreak-Sätzen, startete der ältere Zverev-Bruder die Aufholjagd seines Lebens zum vielleicht größten Sieg seines Lebens.
Netzroller beim Matchball
Zwei Matchbälle wehrte er in einem nervenzerreißenden Thriller auf Court Acht ab, im vierten Satz, ehe er nach vier Stunden und elf Minuten im Herzschlag-Finale mit 6:7 (4), 6:7 (4), 6:4, 7:6 (7) und 9:7 gewann. "Es war der absolute Wahnsinn", sagte Zverev hinterher mit tränenfeuchten Augen, der Hauptdarsteller eines Entfesselungsaktes, der die bisher aufregendsten Szenen dieses Major-Wettbewerbs lieferte. Darunter auch jene beim ersten Matchball von Zverev, den Isner, der 2,07-Meter-Gigant, mit einem Netzroller abwehrte und damit den Krimi noch für einige Minuten verlängerte. "So etwas steckst du nur weg, wenn du diese Erfahrung wie Zverev hast. Wenn du auch so viel durchgemacht und überstanden hast", merkte Experte Boris Becker an.
Erst zum zweiten Mal in seiner wechselvollen, ebenso bewegten wie bewegenden Laufbahn im Tennisbetrieb rückte der nunmehr 29-jährige Hamburger in die dritte Runde eines Grand Slams vor, am Freitag hat er gegen den Tunesier Malek Jaziri eine durchaus lösbare Aufgabe vor sich. Zverev behauptete sich im Aufschlaggewitter von Hüne Isner letztlich eiskalt. Weder 33 Asse noch 17 Breakmöglichkeiten Isners konnten den Fast-Dreißiger stoppen, 16 dieser 17 Chancen des Amis wehrte Zverev nervenstark ab, behielt bei Matchbällen gegen sich die Ruhe, profitierte vom ganzen Erfahrungsschatz eines langen Lebens als Berufsspieler.
"Noch nie so eine erfüllte Zeit"
Kurios, aber wahr: Aus dem ehemaligen Aufbauhelfer der brüderlichen Karriere ist nun so etwas wie ein freundlicher Rivale des 19-jährigen Teenagers geworden - denn von Weltranglisten-Platz 50 rückt Mischa jetzt noch weiter nach vorn und heran an Bruder Alexander, gegenwärtig auf Platz 24 eingestuft. Die innerfamiliären Verhältnisse hatten sich dabei in jüngster Vergangenheit umgekehrt: Denn es war der jüngere Bruder, der den älteren Bruder von dessen Rücktrittsüberlegungen nach einer schweren Handgelenksverletzung und Bandscheibenproblemen abbrachte. "Fitter als er ist keiner", sagt Alexander inzwischen über den Bruder, der in der Saisonvorbereitung zusammen mit ihm in Florida trainierte. Beide, Mischa wie Alexander, profitieren dabei von der Expertise des Fitness-Gurus Jez Green, der einst auch schon Andy Murray schnelle Beine machte.
Schon im vergangenen Jahr hatte sich der ältere Bruder diskret und beharrlich in der Weltrangliste nach vorne gearbeitet - in Basel schlug er im Herbst den amtierenden US-Open-Champion Stan Wawrinka bei dessen Heimturnier, in Shanghai hatte er Spitzenmann Novak Djokovic ganz knapp an der Niederlage. Zverev sagt, er habe "noch nie eine so erfüllte Zeit" als Profi gehabt wie gerade jetzt: "Ich habe erkannt, dass es ein Riesenluxus ist, das zu tun, was einem großen Spaß macht. Ich genieße meine Erfolge intensiver."
Die Australian Open im Überblick