Viele Jahre lang war Grigor Dimitrov das ewige Talent des umherziehenden Tennisbetriebs. Der Mann, dem Mitte Zwanzig dann auch nicht mehr wirklich schmeichelte, wegen stilistischer Ähnlichkeiten als "Baby-Federer" bezeichnet zu werden. Nun aber scheint es, als habe der elegante Bulgare seiner Karriere doch noch rechtzeitig den großen Dreh verpaßt - mit bemerkenswerten Schritten nach vorn. Und sehr guten Ergebnissen auch auf den Bühnen, die etwas zählen in seinem Sport.
Rund zwei Monate nach seinem Sieg bei der ATP-Weltmeisterschaft in London jedenfalls hat sich der 26-jährige Ästhet am Ball nun auch wieder als ernsthafter Mitfavorit bei den Australian Open etabliert. Sein 7:6 (7:3), 7:6 (7:4), 4:6, 7:6 (7:4)-Sieg über den australischen Lokalmatador Nick Kyrgios war in jeder Beziehung eine Kampfansage an die Konkurrenz, ein Ausrufezeichen in einem Wettbewerb, in dem bisher wieder einmal meist über die verdienten Meister der Branche gesprochen wurde - über Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic.
Doch so wie sich Dimitrov, aktuell die Nummer 3 der Welt, in der hitzigen Atmosphäre dieser Nachtvorstellung gegen Kyrgios durchsetzte, wie er die Nerven behielt in diesem Tiebreak-Krimi und auch gelegentliche Feindseligkeiten der Kulisse ignorierte, kann ihn keiner mehr übersehen bei der Pokalvergabe Down Under. "Ich bin schon ein wenig stolz, dass ich diese Aufgabe gegen einen richtig starken Gegner gemeistert habe", sagte Dimitrov später. Am Netz war es direkt nach Dimitrovs Sieg noch zu einer denkwürdigen, anrührenden Szene gekommen: Sieger und Verlierer umarmten sich, und dann forderte Kyrgios seinen Bezwinger auf, mit ähnlicher Attitüde auch an weitere Aufgaben heranzugehen, mit dem Wort: "Believe." ("Glaub´ an Dich"). Es sei "ganz großer Sport" gewesen, befand Australiens ehemaliger Championspieler Pat Cash, "ein Match, das auch eines Finals würdig gewesen wäre." Beide Akteure hätten auf der "absoluten Höhe ihrer Kunst" gespielt, notierte Ex-Superstar und TV-Experte Boris Becker.
Aus dem Schatten des "Maestros"?
Dimitrov wird in der Runde der letzten Acht nun auf den ungesetzten Briten Kyle Edmund treffen, der zuvor den Südtiroler Andreas Seppi ausgeschaltet hatte. Der Bulgare ist klarer Favorit, man darf wohl ohne allzu viel Risiko davon ausgehen, dass er wie im letzten Jahr im Melbourne-Halbfinale auftauchen wird. Damals hatte er in einer herausragenden Partie gegen Nadal verloren. Ob es zu einem Wiedersehen mit dem mallorquinischen Matador kommt, ist offen - aber durchaus möglich. Nadal muss nach seinem Sonntags-Erfolg gegen den wuseligen Argentinier Diego Schwartzmann (6:3, 6:7, 6:3, 6:3) erst einmal den Kroaten Marin Cilic ausschalten - der Wimbledon-Finalist der Vorsaison ist eine außerordentlich hohe Hürde. Gewänne Nadal, wäre das neuerliche Rendezvous mit Dimitrov perfekt.
Mann der Stunde war freilich Dimitrov, der wie im Match auch bei den Gesamtpunkten einen hauchdünnen Vorsprung gegen Kyrgios ins Ziel rettete. Der verwandelte Matchball im Tiebreak des vierten Satzes bedeutete den 157 zu 156-Vorsprung - ein Fakt, der illustrierte, wie umkämpft diese Abendgala war, dieses Duell mit allen Finten und Finessen. Fast unglaublich, aber wahr: Kyrgios schlug 76 Winner und 36 Assse, doch als Sieger ging er nicht vom Platz. Ganz einfach, weil Dimitrov sich weigerte, in diesem Angriffssturm klein beizugeben. Seine Abdeckung des Platzes, seine körperliche Geschmeidigkeit waren beeindruckend - es erinnerte, ob man nun wollte oder nicht, eben doch an Federers Bewegungsmuster. Auszuschließen ist ja nicht, dass sie sich noch begegnen werden: Der Maestro und der Mann, der so lange als sein kongenialer Erbe galt. Es wäre dann am Sonntag. Im Endspiel von Melbourne.