Angelique Kerber und Andy Murray haben in dieser Saison einige Gemeinsamkeiten. Sie sind offiziell die Nummer eins im Welttennis, aber sie spielen und treten nicht auf wie die Frontfiguren des Sports. Beide wirken erschöpft vom jahrelangen ehrgeizigen Steigerungslauf, der sie an die Spitze brachte - das Erreichte zu verteidigen, wirkt umso viel schwerer als der Gipfelsturm davor. Die ungeschminkte Wahrheit, die im Moment noch von den Verzerrungen der Weltrangliste überdeckt wird, zeigt sowohl Murray als auch Kerber auf Platz 13 der Jahreswertung. Beide würden, Stand vor den French Open, also nicht einmal für die Abschlussturniere der Branche qualifiziert sein.
Auch vor dem Hintergrund dieser Schwächeanfälle kann man noch einmal ermessen, welche Herkules-Leistung Spieler wie Federer, Nadal und dann auch Djokovic mit lange ungefährdeter Führungsarbeit vollbracht haben. Federer, er ganz besonders, verdankt die Abwehr aller Verfolger und die eigene Stabilität einem herausragenden Terminmanagement - der "Maestro" war nie überspielt, deshalb auch nie kraftlos, lethargisch oder ohne Motivation. Man glaubt es ihm vorbehaltlos, wenn er sagt, es habe keinen Tag in seiner Karriere gegeben, an dem er ohne innere Begeisterung auf den Spiel- oder Trainingsplatz gegangen sei. Vielleicht hat Angelique Kerber auch klammheimlich mit dem Gedanken gespielt, lieber auf Paris und die Rutschübungen im Sand zu verzichten, doch so etwas kann sich zwar der verdiente Großmeister Federer leisten - aber nicht eine Spielerin, die gerade erst die Nummer eins geworden ist und sich auch dem Druck und der Grand-Slam-Herausforderung stellen muss.
Becker als Motivator?
Und was soll Kerber jetzt tun? Sie kann starke Leistungen nur in einem Umfeld bringen, in dem sie sich wohlfühlt. Es hat keinen Sinn, jetzt alles radikal zu verändern und in Frage zu stellen. Sie braucht aber Input von neuen Köpfen, sie braucht neue Ideen - und sie braucht in ihrem Unternehmen eine andere Streit- und Diskussionskultur. Mit seiner Bemerkung, es müsse jetzt eine offene Manöverkritik her, legte Boris Becker durchaus einen Schwachpunkt bei der Nummer eins offen - denn diese freimütigen Debatten haben gefehlt in den letzten Monaten. Zu oft waren Floskeln zu hören, man habe gut gespielt, halt unglücklich verloren. Man müsse sich im Grunde aber keine Sorgen machen.
Nun, nach dem Pariser Aus, ist der Druck angewachsen. Kerber sollte nicht glauben, dass einfach alles besser wird, wenn sie nun auf Rasen oder auf Hartplätzen spielt. Sie erwartet dort zwangsläufig mehr von sich, damit wächst aber auch die Fallhöhe, das weitere Absturzpotenzial. Wenn Kerber sich in Deutschland oder auch sonst nach deutschsprachigem Personal umschaut, dann bleiben unrealistische Möglichkeiten - so wie Steffi Graf. Und die durchaus naheliegende Idee, sich Boris Becker als Motivator an die Seite zu holen. Es wäre eine große, lohnenswerte Aufgabe für Becker, der viele andere Offerten zuletzt ablehnte. Aber könnte er sich dem Ruf von Angelique Kerber verweigern?