Der neue Stern am Tennis-Himmel zeigte Durchhaltevermögen: Jelena Ostapenko wurde nicht müde, die Siegertrophäe von Paris immer wieder innig zu küssen und an sich zu drücken. Selbst als die lettische Hymne zu Ehren der Überraschungssiegerin der French Open gespielt wurde, stemmte die ungesetzte Ostapenko den Coupe Suzanne Lenglen eisern in die Höhe.
"Ein Kindheitstraum ist wahr geworden. Ich kann es nicht glauben und bin sprachlos. Es ist einfach phantastisch", jubelte die 20-jährige Ostapenko nach dem 4:6, 6:4, 6:3 im Finale gegen die favorisierte Simona Halep (Rumänien/Nr. 3) und rief ins Platzmikrofon: "Ich liebe euch alle, und ich liebe es, hier zu spielen."
Nur Zuschauerin
Durch ihren völlig unerwarteten Coup von Roland Garros sorgte die Weltranglisten-47. Ostapenko zugleich dafür, dass die Kielerin Angelique Kerber trotz ihrer Erstrundenniederlage in Paris an der Spitze des WTA-Rankings bleibt.
Nach 1:59 Stunden verwandelte Ostapenko auf dem Court Philippe Chatrier ihren ersten Matchball mit ihrem 54. Winner und riss als erste ungesetzte Gewinnerin des Profiturniers am Bois de Boulogne die Fäuste in den blauen Himmel.
"Ich habe mich auf dem Court zeitweise wie ein Zuschauer gefühlt", klagte Halep und sagte zu ihrer Kontrahentin: "Was du geleistet hast, ist einfach erstaunlich. Genieß' es wie ein Kind".
Ostapenko hatte nach dem Verlust des ersten Satzes auch im zweiten Durchgang mit 0:3 in Rückstand gelegen. "Ich habe aber einfach immer weitergekämpft", meinte die Tochter eins ehemaligen Profifußballers - und lachte laut.
"Miss 100.000 Volt", wie die L'Equipe sie wegen ihrer Haudrauf-Mentalität taufte, ist die im Ranking am schlechtesten platzierteste Spielerin, die jemals den Titel beim bedeutendsten Sandplatzturnier holen konnte.
Punkt, Fehler, Punkt
Die Wimbledon-Juniorensiegerin von 2014 kassierte für ihren ersten Turniersieg überhaupt ein Preisgeld in Höhe von 2,1 Millionen Euro und wird in der neuen Weltrangliste am Montag auf Platz zwölf vorstoßen. "Mein Ziel ist es natürlich, noch weitere Grand Slams zu gewinnen und im Ranking weiter zu klettern", sagte Ostapenko.
Halep indes verpasste durch ihre zweite Finalniederlage in Paris nach 2014 den erstmaligen Sprung an die Spitze der Weltrangliste.
Ostapenko, der als erster Lettin überhaupt ein Major-Coup glückte, begeisterte die Zuschauer erneut mit ihrem riskanten Spiel. Immer wieder ging ein Raunen durch die 14.911 Besucher fassende Arena, wenn die Aufsteigerin ihre knallharten Grundlinienschläge zelebrierte.
Den ausgeglichenen ersten Satz gab die frühere Turniertänzerin Ostapenko jedoch nach 36 Minuten ab. Bezeichnenderweise mit ihrem 23. Unforced Error.
Wie "Guga" vor 20 Jahren
Auch in der Folge blieb Halep ihrer defensiven Taktik treu, erlief viele Bälle und wartete geduldig auf die Fehler der Lettin. Doch auch eine 3:0-Führung konnte die Favoritin nicht nutzen. Ostapenko wurde für ihr mutiges Spiel belohnt und holte sich den zweiten Durchgang.
Die Vorentscheidung fiel danach, als Ostapenko zwei Tage nach ihrem 20. Geburtstag mit einem Netzroller das Break zum 4:3 holte. Im Anschluss brachen alle Dämme, die Zuschauer feierten den neuen Champion mit "Jelena, Jelena"-Sprechchören".
Und auch Gustavo Kuerten vergaß Ostapenko nicht, in ihrer erstaunlich routiniert vorgetragenen Siegerrede zu erwähnen. Der Pariser Publikumsliebling aus Brasilien hatte ebenfalls bei den French Open seinen ersten Turniercoup überhaupt gefeiert: Am 8. Juni 1997 - an diesem Tag wurde Jelena Ostapenko geboren.
Die French Open im Überblick