Boris Becker (49) ist der erfolgreichste deutsche Tennisspieler aller Zeiten. Der 49-Jährige gewann in seiner Karriere sechs Grand Slam-Titel und rückte in der Weltrangliste bis auf Platz 1 vor. Bei den US Open siegte er 1989 gegen Ivan Lendl. Er war auch zwei Mal Davis Cup-Sieger mit Deutschland, gewann 1992 die olympische Goldmedaille im Doppel mit Michael Stich. In New York arbeitet er gegenwärtig als Experte für Eurosport, ist aber auch erstmals in seiner neuen Funktion als Head of Mens Tennis für den DTB tätig.
tennisnet: Herr Becker, nach vielen Jahren gab es bei den US Open mal wieder einen deutschen Mitfavoriten. Nun aber ist Alexander Zverev längst wieder in seiner Wahlheimat Monte Carlo zurück, als enttäuschter Zweitrunden-Verlierer. Wie bewerten Sie diesen Fehlschlag?
Boris Becker: Es war ja kein Leichtgewicht, gegen das Sascha verloren hat. Borna Coric kommt aus der gleichen Generation, er ist ebenfalls ein großes Talent. Und er hatte den besseren Tag, er war in Topform. Auf dem Papier der Favorit zu sein, ist schön. Aber es gilt nur die Leistung auf dem Platz, da wird abgerechnet. So einfach ist das. Ich hätte Sascha auch gerne am Ende des Turniers, zum Finalwochenende hin, noch mit im Kampf um den Pokal gesehen, aber es sollte nicht sein. Seine Zeit wird noch kommen.
tennisnet: Zverev sagt, er habe das Lernen allmählich satt.
Becker: Aber genau das sind diese Spiele, in denen man sich weiterentwickelt: Man lernt dazu, man macht neue Erfahrungen. Eben auch die, dass es noch andere in dieser Generation gibt, die dringend nach oben wollen. Auch wenn sie zwischendrin nicht so in den Schlagzeilen waren. Es ist für Sascha so enttäuschend wie für all jene gewesen, die ihn mögen. Und die ihn siegen sehen wollen. Aber mit 20 steht er ja nicht am Ende seiner Karriere, sondern am Anfang. Und er hat schon sagenhaft viel erreicht in diesem Jahr, das wollen wir alle mal nicht vergessen.
tennisnet: New York, die schrillen, lauten, oft chaotischen US Open, sind für jüngere Spieler eine zusätzliche Herausforderung.
Becker: Ich weiß es aus eigener Erfahrung, wie schwer das in den ersten Profijahren ist. Es ist eine ganz andere Welt als bei anderen Turnieren, aber es gilt: Dieses Turnier kannst du nur gewinnen, wenn du es akzeptierst und so nimmst, wie es ist. Dazu gehören auch die Zuschauer, die oft etwas ganz anderes machen als den Ballwechseln zuzuschauen. Man braucht seine Zeit, um hier seinen Frieden zu finden und alle Konzentration aufs Tennis zu lenken.
tennisnet: Sie haben die Zverev-Brüder gerade als Vorbild für deutsche Jugendspieler bezeichnet. Was schätzen Sie an der Hamburger Tennisfamilie?
Becker: Natürlich sind sie vorbildhaft. Ein Modell für andere in diesem Geschäft. Mir imponiert, wie sehr sie sich dem Tennis verschrieben haben. Sie leben und lieben diesen Sport. Und nur mit dieser Bedingungslosigkeit kommt man weiter. Auch andere deutsche Spieler haben sich in den letzten Monaten übrigens wieder nach oben gearbeitet, es steht gar nicht schlecht um das Herrentennis bei uns. Da ist ein ordentliches Fundament vorhanden.
tennisnet: Wen meinen Sie da?
Becker: Zum Beispiel Cedrik-Marcel Stebe, der ein bemerkenswertes Comeback nach jahrelangem Verletzungspech hingelegt hat. Auch Florian Mayer, Maximilian Marterer und Jan-Lennard Struff. Sie sind jetzt alle nicht regelmäßig in den Schlagzeilen, sind aber auf einem guten Weg. Wir brauchen auch einige Top 50-Spieler in der Rangliste, eine Gruppe guter Leute, die sich gegenseitig antreibt. Nicht jeder kann so schnell so stark nach oben schießen wie Sascha Zverev.
tennisnet: Sein Bruder Mischa und Philipp Kohlschreiber erreichten beide das US Open-Achtelfinale, ein mehr als vorzeigbarer Erfolg für die Abteilung Herren des DTB.
Becker: Absolut. Beide beweisen, welches Potenzial sie bei diesen Grand Slam-Turnieren abrufen können. Dort, wo es zählt, wo es gilt in diesem Sport. Sie bringen halt die richtige Einstellung mit. Und sie haben die Qualität, sich nach Rückschlägen immer wieder aufzurappeln, sich nicht unterkriegen zu lassen. Philipp hatte noch vor wenigen Wochen einen schwierigen Moment, als er im Hamburger Halbfinale aufgeben musste. Aber jetzt ist er in brillanter Verfassung, hat das alles couragiert weggesteckt.
tennisnet: Welche Chancen geben Sie Kohlschreiber gegen Federer?
Becker: Ich finde es wirklich beeindruckend, wie Philipp dieses Grand Slam-Turnier mit seinen jetzt 33 Jahren spielt. Da ziehe ich echt den Hut. Er spielt einfach tolles Tennis, ist taktisch stark drauf, ist fit und motiviert. Ich traue ihm vieles zu.
tennisnet: Generell wirkt dieses Turnier wie ein Sonderling der Grand Slam-Geschichte: Extrem viele Absagen von Stars, weitere Favoritenstürze, immer wieder Siege von Nobodies.
Becker: Man weiß tatsächlich nicht, wer am Ende die Spieler sein werden, die um den Titel kämpfen. Eine Hälfte des Feldes ist total offen, da dürfen sich auf einmal Profis echte Hoffnung machen, die noch nie in Reichweite eines wirklich großen Triumphes waren. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Die vielen Verletzten, die Absagen, das ist kein schönes Bild fürs Tennis. Murray hat mit seinem späten Rückzug, zwei Tage vor Turnierstart, dann noch das ganze Tableau verzerrt. Da müssen sich die Verantwortlichen mal Gedanken über ein neues Reglement machen.