Als sich Wim Fissette am Finalsamstag in Wimbledon lächelnd von einem kleinen Grüppchen Journalisten verabschiedete, sprach er noch ein paar letzte wichtige Sätze zum großen Triumph seiner Chefin Angelique Kerber.
Gefragt, was das denn nun alles für die nähere und mittlere Zukunft bedeute, dieser herausragende Sieg, die Erfüllung eines lebenslangen Traums, sprach der kundige Belgier: "Angie kann eigentlich alles im Tennis gewinnen. Es gibt nichts, was sie nicht erreichen könnte", sagte Fissette, "aber es wird auch erst mal schwer sein, diese unglaubliche Zeit hier zu verarbeiten. Sich wieder zurechtzufinden nach diesem emotionalen Ausnahmezustand."
Sechs Wochen nach dem Glücksmoment auf dem berühmtesten Tennisplatz der Welt, dem Centre Court des ehrwürdigen All England Lawn Tennis and Croquet Club, stehen Kerber und Fissette tatsächlich vor genau dieser Lage: Die Rasenkönigin, die als erste Deutsche im neuen Jahrhundert den Branchen-Höchstpreis erstritt, kann auch in New York mühelos um den Titel mitspielen, es gibt keine alles und alle dominierende Gegnerin.
Angelique Kerber bei den US Open: "Gelassen, aber ehrgeizig"
Aber Kerber muss vor allem mit sich selbst klar kommen, mit der komplizierten Rückkehr in einen Grand Slam-Alltag, in dem die Gegnerinnen einen Sieg gegen die Deutsche als veritablen Coup verbuchen dürfen. Noch muss Kerber erst beweisen, dass sie nach diesem zweiten Höhenflug im Profitennis besser für die Nebenwirkungen der guten Taten gerüstet ist und mit dem unvermeidlichen Erwartungdruck umgehen kann. "Sehr gelassen" wolle sie in das New Yorker Turnier gehen, sagte Kerber, "aber auch mit großem Ehrgeiz, mit großer Leidenschaft."
Darauf, in der Tat, wird es ankommen für die 30-jährige Weltklassespielerin: Die Balance zu finden zwischen Lockerheit und Entschlossenheit. Wimbledon im gewissen Sinne hinter sich zu lassen und abzuhaken, wieder in die eingeübten Grand Slam-Routinen umzuschalten, das zu tun, was auch, aber nicht nur in Wimbledon erfolgreich war: Nur an den berühmten nächsten Punkt, den nächsten Satz, das nächste Spiel zu denken.
US Open - Angelique Kerber: "Meine Form ist zurückgekommen"
Um sich nicht allzu früh vom üblichen US Open-Trubel, dem ganz normalen Chaos draußen in Flushing Meadow anstecken zu lassen, kehrte Kerber zuletzt noch einmal dem Big Apple den Rücken und genoß stille Zeit in den Hamptons, dem Ferienziel der schönen und reichen New Yorker.
Sie ließ dabei auch ein wenig die Fehlschläge hinter sich, die ihre Vorbereitung auf die US Open prägten, die frühen Turnierabschiede in Montreal und in Cincinnati. "Ich mache mir deswegen keine großen Sorgen. Ich spüre, dass meine Form hier in New York zurückgekommen ist", sagt Kerber. Vorbereitung ist Vorbereitung. Und Grand Slam ist Grand Slam. Hier in New York zählt es. Nicht vorher.
Wobei damit ein Thema berührt ist, das Kerbers Karriere in den nächsten Jahren mehr denn je prägen wird - die scharfe Konzentration auf die ganz großen Turniere, die heimischen Wettbewerbe und vielleicht noch einmal auf den Gewinn des Fed Cup. Kerber wird sich rarer machen, weniger spielen.
US Open: Damen-Wettbewerb als Wundertüte
Um dann mit ganzer Kraft auf die Jagd nach weiteren Major-Trophäen zu gehen, so wie es beispielsweise die Williams-Schwestern über viele Jahre ihrer Karriere taten. Gut ausgeruht geht Kerber jedenfalls in die US Open-Herausforderung, immerhin knappe zwei Wochen rührte sie nach Wimbledon den Schläger nicht mehr an, ließ sich in ihrer polnischen Wahlheimat mal einfach durch die Tage treiben.
Bei den US Open ist nun alles möglich. Alles oder nichts. Das Turnier war in der jüngeren Vergangenheit oft eine Wundertüte, im letzten Jahr siegte die Amerikanerin Sloane Stephens, die im August 2017 allerdings noch auf Platz 957 der Weltrangliste gestanden hatte. Auch ein italienisches Finale gab es hier zuletzt 2015 mal zu bestaunen, mit der inzwischen in den Ruhestand getretenen Siegerin Flavia Pennetta.
Kerber ist mitten drin in der Verlosung, auch Landsfrau Julia Görges, aber gute bis sehr gute Chancen haben auch mindestens 30 andere Spielerinnen im großen Feld. Es könnte aber auch, sagt die legendäre Martina Navratilova, "eine gewinnen, die jetzt noch nicht mal von ihrem Glück träumt."