Als Roger Federer am Donnerstag in London in die Kameras der Fotografen und TV-Teams lächelte, hatte er schon wieder einen Pokal in der Hand. Es war aber noch nicht die Trophäe seiner Sehnsüchte, das Objekt der Begierde, dem er in den kommenden Tagen nachjagen wird. Es war noch nicht die Silberware, die in Wimbledon verteilt wird, sondern bloß der neue Laver Cup, mit dem und für den Federer als Werbefigur posierte.
Die Chancen, dass Federer den wichtigsten Hauptpreis im Welttennis gewinnen wird, stehen allerdings nicht schlecht - jedenfalls, wenn man den Buchmachern glauben soll und kann. Bei nahezu allen Wettbüros liegt Federer als potenzieller Titelträger an der Spitze, vor Titelverteidiger Andy Murray, French Open-Champion Rafael Nadal und Novak Djokovic. Stan Wawrinka, der andere Schweizer Weltklassemann, hält sich dagegen oft nur in den Top Ten der "Bookies", "Bwin" beispielsweise zahlt gegenwärtig für einen eingesetzten Euro immerhin 26 Euro aus, wenn "Stan, the Man" tatsächlich die "Major"-Trophäe gewinnen sollte, die ihm noch in seiner Sammlung fehlt.
Federer in alter Pracht und Herrlichkeit
Federer der Titelkandidat Nummer 1, Wawrinka vermeintlich ohne reelle Siegaussichten - es ist eine einerseits nachvollziehbare, andererseits aber auch kuriose Ausgangslage in einer Saison, die bisher ja alle Prognosen und Prophezeiungen über den Haufen geworfen hat. Fakt ist: Nach seiner sechsmonatigen Verletzungs-Auszeit in der zweiten Saisonhälfte 2016 ist Federer wieder zu alter Pracht und Herrlichkeit aufgestiegen, er hat eigentich jedes speziell für ihn wichtige Turnier gewonnen, auch direkt vor Wimbledon den geliebten Vorbereitungswettbewerb in Halle. Er hatte das alles nicht im mindesten erwartet, nicht einmal zu träumen gewagt, aber vor den ersten Ballwechseln in Wimbledon steht er einfach nur glänzend da, so gut wie nie zuvor in den späten Jahren seiner Karriere.
Und wie könnte man ihn da nicht zum ersten Anwärter auf den Sieg bei den Ausscheidungsspielen im All England Lawn Tennis and Croquet Club stempeln, ihn, den siebenmaligen Champion. "Ich gehe gestärkt, mit einem sehr guten Gefühl, in das Turnier", sagt Federer, "die Vorbereitung war optimal. Und in Wimbledon spiele ich sowieso am selbstverständlichsten mein bestes Tennis." Es wird auch nötig sein gleich in Runde einsm, gegen den trickreichen Ukrainer Alexander Dolgopolow.
"Bestens in Schuss"
Federer hatte in Halle ziemlich genau das bekommen, was er sich erhofft hatte nach dem Rasen-Ausrutscher in Stuttgart: Matchpraxis, knifflige Spiele wie das im Halbfinale gegen den jungen Russen Karen Khachanov - und ein rauschendes Ende mit der Topleistung gegen den starken Deutschen Alexander Zverev, selbst einer der Geheimfavoriten in Wimbledon. "Es ist wichtig, sich selbst zu zeigen, dass man auf diesem Topniveau im richtigen Moment spielen kann", sagt Federer. Er hatte auch keine Probleme mit dem Wettkampfstreß der letzten Turniertage in Halle, mit Spielen an jedem Tag und mit unterschiedlichem Grad der Herausforderung. "Körperlich ist alles okay. Ich bin bestens in Schuss, fühle mich gut und frisch", so Federer, "darauf habe ich ja auch lange genug hingearbeitet. In Wimbledon sollte alles stimmen."
Sieben erfolgreiche Turnierkampagnen hat Federer schon hinter sich gebracht, der Premierensieg liegt mittlerweile schon 14 Jahre zurück. Die Erinnerung daran ist genau so wenig verblaßt wie an alle anderen Triumphe, jeder einzelne für Federer eine "unglaubliche Kostbarkeit": "Auf diesem Centre Court, in diesem Club habe ich meine schönsten Stunden als Tennisspieler erlebt. Es war immer eine Inspiration, hier anzutreten. Das Turnier holt das Beste aus mir heraus."
Wawrinka denkt nicht zu weit voraus
Ob Stan Wawrinka das noch jemals von sich behaupten kann? Allzu viel Zeit bleibt dem 31-jährigen nicht mehr, die Dinge in Wimbledon zu drehen und zu wenden. Und aktuell muss der Romand ohne einen einzigen Sieg auf Rasen in den Saisonhöhepunkt gehen, beim Warm up-Wettbewerb im Queen's Club schied er in seinem Auftaktmatch gegen den Spanier Feliciano Lopez aus. Ein ähnliches Szenario also wie im Vorjahr, da endete dann Wimbledon in Runde zwei für Wawrinka - mit der Niederlage gegen den Argentinier Juan Martin del Potro.
"Ich denke gar nicht weit voraus. Ich konzentriere mich ganz darauf, in den ersten Runden erfolgreich zu spielen. Und dann ein Fundament zu haben für weitere Herausforderungen", sagt Wawrinka, der in Runde eins auf den 21-jährigen Russen Daniil Medwedew trifft. Zweimal Viertelfinale, in den Jahren 2014 und 2015 - das sind bisher seine Bestwerte im Südwesten Londons, an der berühmten Curch Road. Es ist noch genügend Raum zur Steigerung geblieben für Wawrinka, den Mann, den sie anderswo gern "Stanimal" nennen. Wirklich tierisch gut, das fehlt aber noch in seiner Wimbledon-Akte.