Als Stan Wawrinka nach dem sehr überraschenden Auftakttag von Wimbledon gefragt wurde, wie er seine nächste Aufgabe einschätze, machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube. "Daran habe ich noch gar nicht gedacht", sagte der dreimalige Grand Slam-Champion da zur leichten Verblüffung seiner Zuhörer, "dazu war die Hürde zu Beginn eigentlich zu groß."
Die Hürde, das war Grigor Dimitrov, der amtierende ATP-Weltmeister aus Bulgarien. Aber Wawrinka übersprang diese Hürde mit seinem 1:6, 7:6, 7:6,. 6:4-Erfolg, und nun darf und kann er sich - gegen die eigene Erwartung - auch noch um weitere Gegner und weitere Siege kümmern. Zum Beispiel um den Zweitrundensieg gegen den Italiener Thomas Fabbiano, den in der Weltrangliste auf Platz 133 klassierten Italiener.
McEnroe glaubt an Lauf von Wawrinka
Wawrinka ist zwar selbst aktuell nur die Nummer 224 in der ATP-Hitparade, gleichwohl eröffnete er sich nun mit dem Ausschalten von Freund Dimitrov unerwartete Möglichkeiten bei den Grand Slam-Ausscheidungsspielen im Londoner Südwesten. "Bei Stan weiß man nie, woran man ist. Das ist das Gute oder Schlechte bei ihm", sagt Ex-Superstar John McEnroe, der wieder einmal für diverse TV-Anstalten in Wimbledon im Einsatz ist, "das Turnier kann für ihn durchaus noch ein Stückchen weiter gehen."
Das wäre normaler Weise eine eher vergiftete Prognose. Aber nach Wawrinkas langen Verletzungsmonaten und den sportlichen Enttäuschungen auch noch einmal im Countdown zu Wimbledon ist es eher eine Anerkennung aus dem Munde des früheren Superflegels. Denn, ganz ehrlich, wer hätte in diesem mit Spannung erwarteten Kräftemessen mit Dimitrov, das man unter anderen Umständen eher im Viertel- oder Halbfinale eines solchen Turniers verortet hätte, an einen Sieg Wawrinkas geglaubt - vor allem nach dem enttäuschenden Auftritt des Romand in Eastbourne gegen Andy Murray. Der Held der Briten demontierte Wawrinka in zwei Sätzen so deutlich, dass man eher hätte denken können, Wawrinka verzichte danach freiwillig auf einen Start in Wimbledon. Das aber tat dann der weiterhin angeschlagene Murray, nicht der 33-jährige Waadtländer.
Wie verwandelt auf dem Wimbledon Centre Court
Auf dem Centre Court Wimbledons, dem berühmtesten Tennisplatz der Welt, wirkte Wawrinka spätestens ab dem ersten Satz wie verwandelt. Kurz gesagt, nahm er trotz aller Widrigkeiten plötzlich sein Herz in die Hand und suchte couragiert seine Chance. Er war eben nicht gekommen, um einfach nur gut auszusehen. Sondern, um doch mit aller gebotenen Entschlossenheit zu gewinnen.
"Es ist ein richtig gutes Gefühl, diesen Sieg geholt zu haben", sagte Wawrinka hinterher sichtlich erleichtert. Das galt umso mehr, da sich Wawrinka in wichtigen Situationen cool bewährte und im ausschlaggebenden dritten Akt sogar zwei Satzbälle abwehrte. Es war, im Nachhinein, der Moment, der das Match in Wawrinkas Richtung lenkte und Dimitrow, den klaren Favoriten, demoralisierte.
Kein Druck auf Wawrinka
Wawrinka kann seine Wimbledon-Mission im Grunde ja entspannt angehen, er steht unter keinem Druck nach dem buchstäblich schmerzhaften Verlauf der letzten Wochen und Monate - nach den beiden Knieoperationen, der langen Mühsal im Trainingsbetrieb und dem außerordentlich zähen Comeback. "Ich habe keine Erwartungen", sagte der 33-jährige dann auch nach dem Exploit auf der Hauptbühne des All England Club, "ich möchte nur immer näher an mein bestes Niveau heranrücken. Das ist das erste Ziel."
Oft hatten sich Wawrinka und seine Freundin Donna Vekic zuletzt wechselseitig aufmuntern und Trost zusprechen müssen - wenn er oder sie ein Match verloren hatten. Nun aber waren sie am Montag das Paukenschlag-Pärchen, schließlich hatte Vekic noch vor Wawrinka für eine veritable Sensation mit dem makellosen Sieg über US Open-Königin Sloane Stephens gesorgt. So schnell gewann die 22-jährige die Partie, dass sie später in aller Gemütsruhe ihrem Herzbuben beim Centre Court-Coup zusehen durfte. "Es war", sagte Wawrinka da schmunzelnd, "der perfekte Tag für uns beide."